Peter A. Levine: Sprache ohne Worte - Die Botschaften unseres Körpers verstehen
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 20.02.2012

Peter A. Levine: Sprache ohne Worte - Die Botschaften unseres Körpers verstehen. Das Grundlagenbuch zu Trauma, Selbstregulation und dem Finden von innerer Balance. Kösel-Verlag (München) 2011. 480 Seiten. ISBN 978-3-466-30918-4.
Auf die wortlose Stimme des eigenen Körpers hören
In der 3-sat-Sendung „Scobel“ am 12. 1. 2012 wurde der Frage nachgegangen, „wie aus dem Albtraum Stärke wird“. Dabei haben die beteiligten Experten der Traumaforschung und -behandlung den erst einmal überraschenden Satz formuliert: „Traumaopfer brauchen Öffentlichkeit“. Diese Feststellung ist erstaunlich deshalb, weil im allgemeinen Verständnis Traumata seelische Erkrankungen sind, die nicht auf den Marktplätzen des öffentlichen, gesellschaftlichen Diskurses ver-, sondern in den eher verschwiegenen Praxen der Psychologen und Psychotherapeuten behandelt werden. Ein Trauma, das durch vielfältige Erlebnisse und Erfahrungen zustande kommen kann, ist heilbar; jedoch eher nicht mit den medizinischen Mitteln und Methoden, wie sie in der ärztlichen Praxis bei körperlichen Leiden angewandt werden; vielmehr sind die Interventionen, die ein Therapeut bei traumatisierten Menschen anwendet, immer ausgerichtet auf die Ergründung der Ursachen von traumatischen Erlebnissen und die sich in den verschiedenen Lebenssituationen zeigenden Folgen von Persönlichkeits-, Bindungs- und posttraumatischen Belastungsstörungen. Und, wie eigentlich bei jedem Heilungsprozess notwendig und selbstverständlich, jedoch allzu oft auf die unhinterfragte Gläubigkeit von medikamentöser Behandlung basierend, ist die Fähigkeit des Therapeuten, „eine Atmosphäre von relativer Sicherheit (zu) schaffen, eine Atmosphäre, die Zuflucht, Hoffnung und neue Möglichkeiten vermittelt“. Das ist mehr als Anteilnahme und Zuwendung; vielmehr erfordert es die Kompetenz, dem traumatisierten Menschen zu „helfen, der wortlosen Stimme des eigenen Körpers zu lauschen und zu lernen, ‚Überlebensemotionen‘ wie Wut und Entsetzen zu spüren, ohne von diesen machtvollen Zuständen überwältigt zu werden“.
Autor
Die Entschlüsselung des „nonverbalen Reichs“ von Körpersprache und -befindlichkeit lässt sich nicht erreichen, indem wir (nur) auf das möglicherweise auslösende äußere Ereignis für eine traumatische Störung schauen, sondern zu ergründen versuchen, wie blockierte Energien erkannt und aufgelöst werden können. „Die Rettung ist also im Körper zu finden“, so der US-amerikanische Traumaforscher Peter A. Levine. Mit der von ihm entwickelten Theorie und Therapie des „Somatic Experiencing“, einer Methode des „Körpergewahrseins zur Traumaauflösung“, kann es gelingen, dass der traumatisierte Mensch wieder in der Lage ist, sich auf das Leben einzulassen und zu erkennen, dass „Trauma (zwar) eine Tatsache im Leben ist; es muss jedoch nicht zum lebenslangen Verhängnis werden“. Mit dem Buch „Sprache ohne Worte“ etabliert sich Peter A. Levine als Traumaforscher von Format und als richtungsweisender Therapeut, so im Vorwort der Arzt und Autor des Buches „In the Realm of Hungry Ghosts: Close Encounters with Addiction“ (2008), Gabor Maté.
Aufbau und Inhalt
Peter A. Levine gliedert das Buch in vier Teile, die er in mehrere Kapital unterteilt.
Im ersten Teil geht es um „Wurzeln: Ein guter Tanzboden“ und um die „Macht von Freundlichkeit“, die offenbar wird bei einem vom Autor selbst schmerzhaft und irritierend erlebtem Unfall auf der Straße. Die von ihm detailliert und minutiös geschilderten eigenen Empfindungen während der Rettungs- und Behandlungszeit, die spürbaren Schmerzen, viel mehr noch seine Ängste über seinen körperlichen Zustand und die möglichen Folgen aus dem Unfall, sind Anlass, über seine Erfahrungen als Kliniker, Wissenschaftler und Erforscher des menschlichen Innenlebens zu schreiben. Es kommt ihm darauf an zu vermitteln und mitzuteilen, dass Ereignisse, die zu traumatischen Störungen führen können, wie etwa ein Unfall oder viele andere, in der Traumaforschung bekannte Umstände, sich in erster Linie durch körperliche Reaktionen darstellen, etwa Zittern und ungewohnte Bewegungen; und er deutet sie als „hoch aktivierte Überlebensenergie“. Indem er seine eigenen Erlebnisse und Erfahrungen in seine Erzählung einbringt und sie als Ängste, Nöte, Schuldgefühle und Lebenskräfte thematisiert, bietet er den Lesern die Möglichkeit an, sie „auf dem (seinem) Weg zu einer Biologie des Traumas“ Anteil nehmen zu lassen. Es sind die vielfältigen Formen, die „wechselnden Gesichter des Traumas“, die sich in einleuchtenden und vom Leser nachvollziehbaren Beispielen darstellen und dem Autor definieren lassen: „Zu einem Trauma kommt es immer dann, wenn unsere menschliche Reaktion der Immobilität zu keiner Lösung findet; das heißt, wenn uns der Übergang zurück ins normale Leben nicht gelingt und die Immobilität chronisch wird, verbunden mit Angst und anderen intensiven negativen Emotionen wie Schrecken, Ekel und Hilflosigkeit“. Für die Therapie zeigt Levine zahlreiche Methoden und Behandlungsschritte auf, die es dem Therapeuten und der Therapeutin ermöglichen, so etwas wie "eine „Landkarte für die Therapie“ zu erstellen, aber sich auch damit auseinanderzusetzen, warum und bei welchen Gelegenheiten Therapie versagt. Denn das ist das Ziel von therapeutischen Interventionen: Die Verbindung von Körper und Gehirn (Geist) herzustellen und Wege hin zur Entwicklung einer „Landkarte für den Körper“ zu finden; mit dem SIBAM-Modell (Sensation/Empfindung, Image-Impression/Bild-Eindruck, Behavior/Verhalten, Affekt/Gefühl und Meaning/Bedeutung.
Im zweiten Teil wird der „Körper als Geschichtenerzähler“ ins Bewusstsein gebracht und mit mehreren Fallbeispielen verdeutlicht. Die Quintessenz: Nicht Empfindungen, die Traumata auslösen, verdrängen oder ängstlich vermeiden, sondern sie hervorholen und herauslocken. „Wenn wir gegen unangenehme oder schmerzliche Gefühle ankämpfen und/oder uns davor verstecken, verschlimmern wir sie meistens nur. Je mehr wir sie meiden, desto größer ist ihre Macht über unser Verhalten und unser Wohlbefinden“. Die einfühlsamen und einleuchtenden Schilderungen der Anlässe, Empfindungen und Therapiemethoden bei den einzelnen Fallbeispielen bieten dem Leser die Chance, die Ursachen und Verhaltensweisen der Traumatisierten zu verstehen und möglicherweise sogar daraus Erkenntnisse und Aha-Erlebnisse für sich und Nahestehenden zu ziehen.
Der dritte Teil beschäftigt sich mit „Instinkt im Zeitalter der Vernunft“. Der Autor holt damit die im philosophischen Diskurs festgelegte Zuordnung der instinktgeleiteten, automatisierten Verhaltensmuster, im Gegensatz zu den vernunftgesteuerten, aus der Falle der (tierisch)triebbestimmten Sichtweisen heraus: Der Mensch ist von Natur aus ein primär instinktives Wesen. Der Rat – unseren Weg in die Welt durch die Entwicklung des Instinkts für Sinn zu finden – und damit unseren Gefühlen und Emotionen den Stellenwert zukommen zu lassen, der uns Menschen zu vernunftbegabten Lebewesen macht, bedeutet ja nicht, die Funktionsweisen unseres Gehirns leugnen zu wollen; jedoch: die Ganzheit des menschlichen Seins, mit Gefühl und Verstand ist es, was das Menschsein in allen Situationen und Phasen der Entwicklung und des Daseins ausmacht.
Im vierten Teil schließlich kommt Levine zu der Frage aller Fragen, wie sich der Mensch „das innere Gutsein neu erschließen“ kann: „Verkörperung, Emotion und Spiritualität“. Weil traumatisierte Menschen im allgemeinen von ihrem Körper, der Erfahrung ihrer Körperlichkeit und ihren „Bauchinstinkten“ abgeschnitten sind bzw. sie nur eingeschränkt wahrnehmen, bedarf es Anlässe und Erlebnisse, um die „Fähigkeit zum Gewahrsein“ (wieder) zu entdecken und zu erleben, und zwar in zweierlei Hinsicht: Zum einen Gewahrsein als spontanes, kreativ neutrales Erleben „all dessen, was im gegenwärtigen Augenblick entsteht – seien es Empfindungen, Gefühle, Wahrnehmungen, Gedanken oder Handeln“; aber auch der Introspektion, indem wir die „Aufmerksamkeit willentlich, wertend, kontrollierend und nicht selten voller Selbsturteile nach innen richten“. Es sind nicht selten Geschichten und Erzählungen, die ausdrücken können, was Programme nicht immer vermögen: Ein junger, wagemutiger und ehrgeiziger Schwertkämpfer ging herausfordernd auf einen alten, ehrwürdigen Zen-Meister zu und forderte: „Ich will, dass Sie mir die Wahrheit über Himmel und Hölle sagen!“. Der Meister erwiderte: „Wie kommt es, dass solch ein hässlicher und unbegabter Mann wie du Samurai werden konnte?“. Voller Zorn zog der junge Schwertkämpfer sein Schwert und schwang es über seinen Kopf, bereit zuzuschlagen. Der alte Mann schaute ihn ruhig an und sagte: „Das ist die Hölle“. Der ungestüme Samurai stutzte, dachte nach, steckte sein Schwert in die Scheide und verbeugte sich ehrerbietig vor dem Lehrer. Darauf der Meister: „Und dies ist der Himmel“. Wenn es gelingt, innere Einstellungen, Emotionen und Gefühle miteinander zu versöhnen, mit Intellekt und Spiritualität, kann auch Heilung vom Trauma erfolgen.
Fazit
Peter A. Levines Erzählungen richten sich an „Therapeutinnen und Therapeuten, die besser verstehen wollen, wie in Trauma im Gehirn und Körper verwurzelt ist“, und an all jene, die Körperarbeit machen, somit auch an Ärzte, Pädagogen, Krankenschwestern, Pfleger, Eltern und alle diejenigen, die aus Interesse oder Profession über Entstehung, Wirkung und Behandlung von Traumata nach- und mitdenken wollen. Dadurch, dass er seinen Diskurs mit seinen Erfahrungen als Therapeut und Traumaforscher füllt und immer wieder auch mit seinen eigenen Erlebnissen, gewinnt das Buch tatsächlich eine Erzähl-, Unterhaltungs- und Informationsbedeutung. Für beruflich Interessierte bietet Peter A. Levine in der Schweiz Sommerseminare zur Fortbildung an – siehe dazu:
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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