Stephan Cinkl, Kira Gedik et al.: Praxishandbuch Sozialpädagogische Familiendiagnosen
Rezensiert von Dr. Anne-Kathrin Mayer, 29.02.2012

Stephan Cinkl, Kira Gedik, Hans-Ullrich Krause: Praxishandbuch Sozialpädagogische Familiendiagnosen. Verfahren, Evaluation, Praxis und Anwendung im Kinderschutz. Verlag Barbara Budrich GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2011. 240 Seiten. ISBN 978-3-86649-436-7. 24,90 EUR.
Thema, Entstehungshintergrund und Zielgruppe
Stephan Cinkl und Hans-Ullrich Krause stellen in ihrem Band den weiterentwickelten hermeneutischen Ansatz der Sozialpädagogischen Familiendiagnose dar. Die Grundlage für die Erweiterung des Ansatzes, der sich in den vergangenen Jahren zunehmend in der Praxis etabliert hat, lieferte eine systematische Evaluationsstudie: Im Zeitraum von Januar 2009 bis Januar 2011 wurde vom Kinderhaus Berlin – Mark Brandenburg e.V. das Praxisforschungsprojekt „Evaluation und Prozessdokumentation Sozialpädagogischer Familiendiagnosen unter besonderer Berücksichtigung von Familien mit Kindeswohlgefährdung“ realisiert. Im Rahmen einer empirischen Studie wurden 40 Familiendiagnosen erstellt und begleitende Interviews mit den Familien sowie den Diagnostikerinnen und Diagnostikern, teils auch mit Verantwortlichen der Jugendämter geführt.
Als Zielgruppe des Bandes werden primär Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Einrichtungen der Familienhilfe, ggf. auch von Jugendämtern, sowie Studierende und Lehrende der (Sozial-)Pädagogik und Sozialen Arbeit angesprochen.
Herausgeber
Stephan Cinkl ist Diplom-Psychologe, freiberuflicher Fortbildungsleiter und Praxisforscher. Als Familientherapeut ist er zugleich Vorsitzender des Brandenburgischen Instituts für Familientherapie e.V. Strausberg.
Dr. Hans-Ullrich Krause wurde an der Freien Universität Berlin im Fach Pädagogik promoviert. Er leitet das Kinderhaus Berlin – Mark Brandenburg und arbeitet als Lehrbeauftragter an der Fachhochschule „Alice Salomon“ in Berlin sowie an der Universität Luxemburg. Zudem ist er Vorsitzender der Internationalen Gesellschaft für erzieherische Hilfen Frankfurt am Main und engagiert sich im Kronberger Kreis für Qualitätsentwicklung e.V. im Bereich des Sozial- und Erziehungswesens.
Aufbau und Inhalt
Der Band umfasst neben einer knappen Vorbemerkung sechs Kapitel und einen Anhang.
In Kapitel 1 („Geschichte der Sozialpädagogischen Diagnosen“) zeichnen die Autoren die mittlerweile 20-jährige Geschichte der Sozialpädagogischen Diagnosen nach. Beginnend mit den ersten Vorüberlegungen werden die theoretischen, methodischen und empirischen Schritte der Verfahrensentwicklung zusammengefasst, die auch in bisherigen Publikationen zur Methode dokumentiert sind. Zusammenfassend wird der Anspruch betont, mithilfe der Methode die je spezifische Lebenswelt der Familien zu verstehen und dadurch die „Stimme der Subalternen“ hörbar zu machen.
Das mit Abstand umfangreichste Kapitel 2 („Evaluation der Sozialpädagogischen Familiendiagnosen“) stellt Ziele, theoretische Grundlagen, Methode und Ergebnisse der Evaluationsstudie dar. Ausgehend von grundlegenden Überlegungen zum logischen Wirkmodell der Sozialpädagogischen Familiendiagnosen wurden Geprächsleitfäden und Dokumentationsmethoden entwickelt. Auf der Grundlage von Interviews mit den Familien, den Diagnostikern sowie (teilweise) den zuständigen Mitarbeitern in den Jugendämtern wurden an sechs Projektstandorten insgesamt 40 Familiendiagnosen erarbeitet. Sämtliche Interviews wurden transkribiert, nach bestimmten Kriterien kodiert und deskriptiv-statistisch ausgewertet; zahlreiche Auszüge aus den geführten Interviews dienen der Illustration der vorgenommenen Deutungen. In sieben Schlussfolgerungen werden die Ergebnisse zusammengeführt, und es werden 10 „Wirkfaktoren“ der Familiendiagnose identifiziert und erläutert.
Kapitel 3 („Das Verfahren der Sozialpädagogischen Familiendiagnose – Arbeitsschritte“) stellt zusammenfassend den revidierten Ansatz der Sozialpädagogischen Familiendiagnose dar.
Kapitel 4 („Praxisbeispiele Sozialpädagogischer Familiendiagnosen“) präsentiert vier illustrierende Fallbeispiele Sozialpädagogischer Familiendiagnosen, die aus unterschiedlichen Anlässen (z.B. Neujustierung bestehender Hilfen bzw. Hilfe und Hilfeeinleitung) erarbeitet wurden.
Sodann wird in Kapitel 5 („Sozialpädagogische Familiendiagnosen bei Familien mit Kindeswohlgefährdung“) aufgezeigt, dass die Methode auch in solchen Familien mit Gewinn eingesetzt werden kann, in denen eine Gefährdung des Kindeswohls (z.B. durch Vernachlässigung, körperliche oder sexuelle Misshandlung) den Anlass zu einer Intervention gab. Hierzu wird die Teilstichprobe derjenigen 25 Familiendiagnosen aus dem Gesamtprojekt analysiert, in denen aus Sicht von Fachkräften (oder Familien selbst) eine entsprechende Problematik bestand.
In den knappen „Schlussbemerkungen“ in Kapitel 6 fassen die Autoren die „Philosophie“ der Sozialpädagogischen Familiendiagnose in acht Thesen zusammen und verweisen dabei kritisch auf weiteren Entwicklungsbedarf des Verfahrens, z.B. die notwendige stärkere Berücksichtigung der Perspektive der Kinder.
Im Anhang sind schließlich Erhebungs- und Dokumentationsverfahren zusammengestellt, die im Rahmen des Projekts verwendet bzw. entwickelt wurden.
Diskussion
Das Bemühen der Autoren um eine kontinuierliche Weiterentwicklung und wissenschaftliche Fundierung des Ansatzes der Sozialpädagogischen Familiendiagnosen ist zu begrüßen, dominiert doch häufig genug in der Sozialen Arbeit – vor allem strukturell bedingt – ein von Pragmatismus getragenes methodisches Vorgehen. Die Evaluationsstudie liefert trotz der relativ geringen Fallzahl wertvolle Erkenntnisse über die Sichtweisen problembelasteter Familien auf ihre aktuelle Lebenssituation und auf die Wirkungen, welche die Erstellung einer Sozialpädagogischen Familiendiagnose auf alle Beteiligten besitzen kann. Die Autoren stellen ihre Befunde verständlich und unter Verwendung zahlreicher Fallbeispiele und Interviewauszüge dar. Sie vermögen so lebendig und anschaulich darzustellen, wie Familien, Diagnostikerinnen und Diagnostiker sowie Beschäftige des Jugendamts den diagnostischen Prozess wahrnehmen und bewerten.
Unter methodisch-statistischen Aspekten ist allerdings kritisch anzumerken, dass die präsentierten Daten auf Kodierungen basieren, deren Zustandekommen sich kaum nachvollziehen lässt; zudem fehlen Informationen über ihre Verlässlichkeit (z.B. Schätzungen der Urteilerübereinstimmung). Mit Blick auf die Wahl der Evaluationskriterien wäre sicherlich wünschenswert, im Rahmen von Follow-up-Untersuchungen zu prüfen, inwieweit die Familiendiagnosen nicht nur kurzfristig positiv bewertete Wirkungen erzielen (z.B. zur klareren Identifikation von Konfliktthemen und insgesamt zum besseren Verstehen der Beteiligten führen), sondern die Situation in Familien auch längerfristig und nachhaltig verbessern. Dies nachzuweisen bleibt weiteren Projekten vorbehalten, in denen zusätzlich auf eine Kontrollgruppe zurückgegriffen werden sollte, um die Überlegenheit der Sozialpädagogischen Familiendiagnose gegenüber dem routinemäßigen Vorgehen zu belegen.
Fazit
Das „Praxishandbuch Sozialpädagogische Familien“ scheint unverzichtbar für all jene, welche die über mittlerweile 20 Jahre hinweg weiterentwickelte Methode in Einrichtungen der Familienhilfe implementieren möchten.
Rezension von
Dr. Anne-Kathrin Mayer
Leibniz-Zentrum für Psychologische Information
und Dokumentation (ZPID), Trier
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