Michael May, Monika Alisch (Hrsg.): Formen sozialräumlicher Segregation
Rezensiert von Prof. Dr. Andrea Janßen, 05.09.2012
Michael May, Monika Alisch (Hrsg.): Formen sozialräumlicher Segregation.
Verlag Barbara Budrich GmbH
(Opladen, Berlin, Toronto) 2011.
220 Seiten.
ISBN 978-3-86649-427-5.
24,90 EUR.
Reihe: Beiträge zur Sozialraumforschung - 7.
Thema
Gerade in Zeiten zunehmender gesellschaftlicher Ungleichheit und sozialer Spaltung lohnt es sich, die Entwicklung residenzieller Segregation zu beobachten: durch die ubiquitäre Hierarchisierung von Lebensräumen, wie sie Bourdieu (1991) beschrieben hat, ist residenzielle Segregation auch immer ein Abbild der jeweiligen gesellschaftlichen Zustände. Grund genug also, diesem Thema einen neuen Beitrag zur Reihe „Sozialraumforschung“ beim Verlag Barbara Budrich zu widmen, wie ihn Michael May und Monika Alisch als Herausgeber mit dem Sammelband „Formen sozialräumlicher Segregation“ abgeliefert haben.
Herausgeber und Herausgeberin
Prof. Dr. Michael May ist Erziehungswissenschaftler und Professor für Theorie und Methoden der Jugend-, Gemeinwesen- und Randgruppenarbeit am Fachbereich Sozialwesen der Hochschule Rhein Main in Wiesbaden, Prof. Dr. Monika Alisch ist Stadt- und Regionalsoziologin und seit 2004 Professorin für sozialraumorientierte Sozialarbeit/ Gemeinwesenarbeit, Sozialplanung und Soziologie an der Hochschule Fulda im Fachbereich Sozialwesen. Interessant ist dieses HerausgeberInnenteam auch deshalb, weil ihre Arbeitsbereiche neben einer rein soziologischen bzw. stadtsoziologischen Betrachtungsweise einen weiteren, auch die Belange der Sozialen Arbeit einschließenden Blick vermuten lassen.
Aufbau und Inhalt
Tatsächlich zeigt sich, dass die HerausgeberInnen neben der klassischen Fokussierung auf residenzieller Segregation auf Stadt- oder Quartiersebene auch institutionalisierte Räume (vorwiegend) der Sozialen Arbeit betrachten. Dementsprechend gliedert sich der Sammelband in einen eher allgemeinen, einführenden Abschnitt und zwei weiteren, die sich jeweils mit ethnischer Segregation auf Quartiersebene und eben Segregation in institutionalisierten Räumen beschäftigen. Jeder Abschnitt enthält sowohl theoretische Auseinandersetzungen als auch neuere empirische Ergebnisse zum jeweiligen Schwerpunkt. Die Einführung der beiden HerausgeberInnen setzt an der Definition des Begriffs Segregation an und benennt die Schwierigkeiten der empirischen Analyse: schlechte Datenlage und methodische Probleme verhindern eindeutigen Aussagen zum aktuellen Trend der residenziellen Segregation in Deutschland. Zudem werden verschiedene Raumverständnisse diskutiert, wobei das Verständnis des Raums als Container zwar als mit Nachteilen behaftet angesehen, aber als unverzichtbar eingestuft wird.
In den „Perspektiven der soziologischen Segregationsforschung“ von Jens S. Dangschat und Monika Alisch werden klassische Ansätze zur Segregationsforschung vorgestellt, wobei die Messung durch Segregationsindizes im Vordergrund steht. Außerdem wird das Für und Wider ethnischer Segregation diskutiert und nochmals bestätigt, dass vermeintliche Kontexteffekte empirisch kaum zu finden sind, in der Politik aber als Artefakt angesehen werden. Auch die differenzierten Überlegungen zum Konzept der „sozialen Mischung“ (S. 40) verdeutlichen dessen Vagheit und Ungenauigkeit und entlarven es als Ideologie. Das Fazit – Indizes sollten abgeschafft, Forschung auf Ebene der Teilgebiete ausgebaut werden – erscheint in diesem Zusammenhang als logische Konsequenz, weniger nachvollziehbar ist dagegen, dass die AutorInnen mit den Segregationsindizes gleich alle quantitativen Ansätze verwerfen, als seien Segregationsindizes die einzige Möglichkeit, sich quantitativ mit Segregation auseinanderzusetzen. Bereits der folgende Beitrag zeigt, was ein quantitativer Ansatz leisten kann: die Nachzeichnung sozialräumlicher Prozesse in Städten. Thomas Pohl tut dies anhand der Betrachtung von „Alterssegregation in der Metropolregion Hamburg“ und identifiziert mittels kleinräumiger Analyse verschiedene Gebietstypen. Während die innerstädtischen Gebiete zumeist durch Verjüngung und Verdrängung älterer BewohnerInnen auffallen, drohen in den suburbanen Räumen Überalterung und auch – für den angespannten Wohnungsmarkt Hamburgs auf den ersten Blick erstaunlich – ein Werteverlust der Eigenheime.
Der zweite Abschnitt beginnt mit Michael Mays Auseinandersetzung mit „Integration und Segregation“. Ziel ist es, die „normativen Orientierungen“ (74) in Bezug auf die Diskussion über ethnische Segregation in Deutschland herauszuarbeiten. Dabei werden vier migrationspolitische Standpunkte zugrunde gelegt; es zeigt sich u.a., dass vor allem neo-assimilatorische Ansätze, welche ethnische Segregation als „Mobilitätsfalle“ (S. 86) begreifen, die Diskussion zwar stark prägen, empirische Belege für eine solche Falle aber schuldig bleiben. Stefan Fröba, Frank Dölker, Nadja Laabdallaoui und Holger Adam berichten von den Ergebnissen einer Untersuchung zu den „Bedingungen und Ressourcen sowie die Barrieren für eine angemessene Lebensführung älterer Zuwanderer“ in vier unterschiedlichen Quartierstypen (S. 103). Neben den Quartiersbeschreibungen werden die Ergebnisse in den Dimensionen Quartiersbedeutungen, Netzwerkstrukturen, bürgerschaftlichem Engagement vorgestellt. Klaudia Gabriele Geissler und Anne Stahl stellen einen weiteren Quartiersvergleich vor, in dem „Prozesse der Sozialisation“ nachgezeichnet sowie „handlungsleitende Erkenntnisse“ (S. 122) erarbeitet werden sollen. Dieser hohe Anspruch wird der mittels qualitativer Triangulation umgesetzt. Interessant ist der historische Schwerpunkt der Quartiersbeschreibungen, da hier vor allem am Beispiel Limburg-Nord die Dramatik (kommunal)-politischer Fehlentscheidungen zutage tritt.
Der letzte Abschnitt des Bandes zu institutionellen Räumen beginnt mit Michael Mays differenzierter Betrachtung der Begriffe Ausschließung und Exklusion. Besonders interessant erscheint hier die Auseinandersetzung mit der Systemtheorie: Hier geht es um die Position der Ausgegrenzten in der Gesellschaft, die nicht nur am Rande verläuft, sondern bis hin in die Unsichtbarkeit geht. Der Autor entspannt eine hochgradig relevante Diskussion über durch Inklusion exkludierende Praktiken der Gesellschaft und die Frage, inwieweit auch die Soziale Arbeit dazu beiträgt, durch vermeintlich inkludierende Maßnahmen die Exklusion voranzutreiben.
Im Beitrag von Barbara Nemesh-Baier geht es um raumabhängige Nutzung und Bewertung von Sprache. Grundlage sind dabei Gruppendiskussionen, die mit „der Arbeit mit subjektiven Landkarten“ (160) gestartet wurden. Dabei werden die Ergebnisse anhand vierer konstruierter Raumtypen gliedert, wobei der Raum nicht als Behälterraum, sondern als relationaler Raum verstanden wird, der durchaus auch als zukünftiger Raum oder „Gedanken-Raum“ konstituiert sein kann (167). Nikola Puls-Heckersdorf beschäftigt sich im Beitrag „Brauchen Menschen mit geistiger Behinderung Schutz durch Segregation?“ mit der Frage, wer von der Unterbringung von geistig Behinderten in Institutionen eigentlich profitiert. Die Autorin legt überzeugend dar, dass weniger die Behinderten selbst, die „beschützt“ werden sollen vor Diskriminierungen, Übergriffen etc., profitieren, sondern es eher im Interesse der Institutionen und der Gesellschaft liegt, dass geistig Behinderte eben nicht in die Gesellschaft integriert werden bzw. sich im Sozialraum frei bewegen können. Im letzten Beitrag untersucht Andreas Pürzel die subjektive Perspektive von wohnungslosen Männern mit Migrationhintergrund auf eine Einrichtung der Wohnungslosenhilfe. Ausgehend von den Ergebnissen wie Sprachschwierigkeiten oder Ausländerfeindlichkeit werden Verbesserungsmöglichkeiten für Einrichtungen formuliert.
Fazit
Den HerausgeberInnen ist ein vielseitiger Sammelband gelungen, der durch seine empirisch und theoretisch angelegte Breite das Thema Segregation um einige Facetten in Bezug der Sozialen Arbeit bereichert. Mit dieser Erweiterung des Segregationsbegriffs stellt sich jedoch auch die Frage, inwieweit die Diskussion um residenzielle Segregation auf institutionelle Räume übertragen werden kann. Dies sei kurz erläutert: So kritisiert Nina Puls-Heckersdorf dass in der Segregationsdebatte von Menschen mit geistigen Behinderungen nie die Rede sei. Ist das nun ein Versäumnis der Stadtsoziologie? Auch Andreas Pürzel schreibt, die üblichen Argumentationslinien (strukturell/funktional, freiwillig/unfreiwillig) würden bei der Segregation von Wohnungslosen nicht greifen, was der Autor als Hinweis darauf interpretiert, dass es sich bei der institutionellen Segregation von Wohnungslosen um etwas anderes handeln könnte als um die ‚gängige‘ residenzielle Segregation. Und tatsächlich: Wenn auch der jeweilige Zustand als Segregation insgesamt ähnlich interpretiert werden kann (vgl. Definition von Friedrichs, die im Band zugrunde gelegt wird), unterscheiden sich jedoch die jeweiligen Ursachen und Prozesse, da bei der Segregation durch Institutionen der Sozialstaat und die Soziale Arbeit ein viel höheres Gewicht und eine höhere Zuweisungsmacht erhalten als bei einer residenziellen Segregation, die – mehr oder weniger durch die Kommunalpolitik gesteuert – auf dem freien Wohnungsmarkt entsteht. Zudem führt Michael May in Anlehnung an Stichweh den Begriff der „inkludierenden Exklusion“ ein (S. 147), der zusammen mit den Überlegungen Winklers zum „Oblivionismus“ (S. 146) hervorragend geeignet erscheint, z. B. die ‚Kasernierung‘ von Wohnungslosen oder geistig Behinderten analytisch zu fassen. Hier ist eine weitere Diskussion nötig, für die der Band einen Grundstein gelegt haben könnte.
Rezension von
Prof. Dr. Andrea Janßen
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Zitiervorschlag
Andrea Janßen. Rezension vom 05.09.2012 zu:
Michael May, Monika Alisch (Hrsg.): Formen sozialräumlicher Segregation. Verlag Barbara Budrich GmbH
(Opladen, Berlin, Toronto) 2011.
ISBN 978-3-86649-427-5.
Reihe: Beiträge zur Sozialraumforschung - 7.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/11760.php, Datum des Zugriffs 03.10.2024.
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