Ingrid Miethe, Hans-Rüdiger Müller (Hrsg.): Qualitative Bildungsforschung und Bildungstheorie
Rezensiert von Prof. Dr. Brigitte Liebig, 21.05.2012

Ingrid Miethe, Hans-Rüdiger Müller (Hrsg.): Qualitative Bildungsforschung und Bildungstheorie. Verlag Barbara Budrich GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2012. 311 Seiten. ISBN 978-3-86649-405-3. D: 33,00 EUR, A: 34,00 EUR, CH: 45,50 sFr.
Thema
In der Pädagogik ist die empirische Forschung heute zu einem unverzichtbaren Bestandteil für das Erkennen von Bildungs- und Erziehungszusammenhängen, für theoretische Reflexionen sowie praktische Anleitungen im Unterricht geworden. Bis heute zeichnet diese Wissenschaft jedoch noch eine Skepsis hinsichtlich des Nutzens qualitativ-empirischer Zugänge sowie eine primär quantitativ-empirische Forschungsmethodik aus.
Vor diesem Hintergrund stellt der vorliegende Band das ebenso spannungsvolle wie produktive Verhältnis zwischen Bildungstheorie und qualitativer Bildungsforschung in den Vordergrund und orientiert sich dabei an folgenden zentralen Fragen:
- Welche Bedeutung besitzen bildungstheoretische Entwürfe und Perspektiven für qualitativ-empirische Zugänge?
- Welchen Beitrag vermag die qualitative Bildungsforschung zur Entwicklung der Bildungstheorie zu leisten?
- Welche methodologischen Konzepte könnten in diesem Zusammenhang richtungsweisend und welche methodischen Verfahren zielführend sein?
Entstehungshintergrund
Versammelt finden sich im Buch ausgewählte Beiträge der Jahrestagung ‚Qualitative Forschung und Bildungstheorie‘ (Berlin 2010), die von der Kommission für Qualitative Bildungs- und Biographieforschung der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE) initiiert wurde.
Herausgeber/in und Autoren/innen
Ingrid Miethe ist Professorin für Allgemeine Erziehungswissenschaft am Institut für Erziehungswissenschaft der Justus-Liebig-Universität Giessen; sie ist Vorsitzende der Kommission für Qualitative Bildungs- und Biographieforschung der DGfE
Hans-Rüdiger Müller ist Professor für Allgemeine Pädagogik am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Osnabrück, Fachbereich Erziehungs- und Kulturwissenschaften
Die weiteren Autorinnen und Autoren kommen – bei unterschiedlichen Vertiefungen – aus der Erziehungswissenschaft sowie der qualitativen Bildungsforschung sowie vorwiegend aus dem deutschsprachigen Raum.
Aufbau
Der Sammelband gilt, so Miethe/Müller, der Klärung des Zusammenhangs zwischen qualitativer Forschung und Bildungstheorie, und beinhaltet – neben einer Einleitung und Übersicht – drei Teile, die sich dieser Thematik aus unterschiedlichen Richtungen nähern.
I. Von der Bildungstheorie zur Qualitativen Forschung – bildungstheoretische Begründungen.
Teil I wirft die Frage auf, inwiefern bildungstheoretische Perspektiven die Analyse von Bildungsprozessen anleiten können. Ansetzend an zwei heute zentralen bildungstheoretischen Entwürfen werden in sechs Beiträgen für die Empirie zentrale Fragestellungen formuliert und methodologisch-methodische Anschlusspunkte für die qualitative Bildungsforschung definiert.
Einführend legt Hans-Christoph Koller (Hamburg) die für die Erziehungswissenschaften heute zentrale Konzeption von Bildung als einen „Prozess der Erfahrung“ dar. Vorgestellt wird die in den Erziehungswissenschaften zentrale Konzeption von Bildung als (lebenslanger) Prozess, aus dem das Subjekt mit einem umfassend veränderten Verhältnis zur Welt und zu sich selbst hervorgeht. Sabine Reh (Berlin) und Norbert Ricken (Bremen) stellen mit der ‚Anerkennungstheorie‘ eine zweite theoretische Position der Bildungsforschung ins Zentrum, welche die Beziehungen zwischen Subjekten als wechselseitige Bestätigung oder Verneinung von Erwartungen und eingebunden in interaktive und kommunikative Praktiken zwischen Personen fasst.
Die folgenden Beiträge werfen einen kritischen Blick auf den normativen Gehalt des Bildungsbegriffs sowie daran anschließende theoretische Perspektiven und empirische Zugänge. So stellen etwa Dominik Krinninger und Hans-Rüdiger Müller (Osnabrück) die Frage, inwiefern die Orientierung am ‚Neuen‘ oder ‚Krisenhaften‘ – wie sie für transformationstheoretische Entwürfe charakteristisch ist – nicht die Aufmerksamkeit der Forschenden auf eben diese Phänomene lenken und den Blick auf das Eigentliche verstellen. Ruprecht Mattig (Kyoto) vertritt eine ähnliche Haltung, wenn er am Beispiel einer kulturvergleichenden Perspektive auf die spezifische Auslegung des Bildungsbegriffs verweist. Aus Sicht des Autors ermöglicht es erst der explorative Charakter der qualitativen Bildungsforschung, das Spannungsverhältnis zwischen jeweiligen Bildungsideal und Bildungswirklichkeit auszuloten.
II. Von der Empirie zur Bildungstheorie – Methodologische Reflexionen
Der zweite Teil des Bandes thematisiert die Frage nach Möglichkeiten und Wegen der Verknüpfung zwischen empirischer Forschung und Bildungstheorie. Er beginnt mit dem Beitrag von Thorsten Fuchs (Wien), welcher aus historischer Perspektive Bildungstheorie und Bildungsforschung eingebettet in unterschiedliche Wissenstraditionen und -kulturen skizziert. Zur Abgrenzung der Bildungstheorie von der Empirie trage bei, so macht der Autor deutlich, dass sich die Bildungstheorie historisch wertsetzend und normativ für die Aufgaben der Pädagogik begreift und nicht nur Bildungsrealitäten abbilden wolle. Zum anderen aber entstehe auch in der Bildungstheorie zunehmend das Bewusstsein, dass erst die empirische Analyse eine reflexive Position in der Pädagogik und die Entwicklung bildungstheoretischer Konzeptionen ermöglicht.
Die folgenden drei Beiträge zeigen das theoriegenerierende Potential ausgewählter methodologisch-methodischer Ansätze qualitativer Forschung auf. So stellt der Beitrag von Ingried Miethe die ‚Grounded Theory‘ (Glaser/Strauss) als ein grundlegendes wissenschaftstheoretisches Konzept zur Verbindung von Bildungsforschung und -theorie in den Erziehungswissenschaften dar. Im Unterschied zum logisch-deduktiven Vorgehen einer am Kritischen Rationalismus orientierten Wissenschaft, so wird deutlich, bildet hier das subjektive Erleben sozialer Akteure die Basis für Hypothesen und Theorien der Forschenden, die im Verlauf der Auseinandersetzung mit konkretem empirischen Material entworfen, überprüft, modifiziert oder zu ‚gegenstandsbezogenen Theorien‘ entwickelt werden. Im Rahmen des interpretativen Vorgehens werden dabei nicht generalisierenden Annahmen entwickelt, wie Florian von Rosenberg (Hamburg) zeigt, sondern „Typen biographisch geformter Selbst- und Weltverhältnisse“ und „Mikrostrukturen von Bildungsprozessen“. Juliane Lamprecht (Berlin) zeigt überdies am Beispiel einer bundesweit durchgeführten ‚dokumentarischen Evaluation‘, wie sich sprachliche Auffassungen und Bewertungen von Erzieher/innen und Lehrerinnen kritisch-reflexiv als Bildungsprozesse untersuchen lassen, indem sie „Steuerungsvorstellungen“ und „Steuerungsambitionen“ deutlich machen.
III. Exemplarische empirische Zugänge
Im letzten Teil wird – ausgehend von den in Teil I beschriebenen Theorieperspektiven – das Potential qualitativ-empirischer Erhebungs- und Auswertungsverfahren für die Erziehungswissenschaft illustriert. Fünf hinsichtlich ihres Forschungsgegenstandes sehr heterogene Beiträge legen dazu am Beispiel aktueller Themenfelder der Bildungsforschung empirisches Material sowie darauf aufbauende Interpretationen bzw. theoretische Entwürfe dar.
Erwähnt werden soll an dieser Stelle etwa der Beitrag von Arnd-Michael Nohl (Hamburg), welcher die ‚Auseinandersetzung mit materiellen Dingen‘ als wesentlichen Bestandteil von Bildungsprozessen rekonstruiert und als einen für die Bildungsforschung innovativen Zugang deutlich macht. Jochen Kade (Frankfurt/M.) und Sigrid Nolda (Dortmund) legen in ihrem Artikel auf der Grundlage von Interviewdaten die generationsabhängige bzw. zeitgeschichtliche Rahmung biographischer Rekonstruktionen des Lebenslaufs zweier Frauen dar. Die vergleichende Betrachtung von Interviews aus den 1980er Jahren und 2008/09 lässt lebensaltersspezifisch und historisch unterschiedliche biographische Orientierungen bzw. ‚Bildungsgestalten‘ erkennen, in deren Kontext die Darstellung des Lebens als ‚Gesamtbiographie‘ oder als ‚Karriere‘ im Vordergrund steht.
Diskussion
Bei unterschiedlicher Gewichtung beinhalten fast ausnahmslos alle Beiträge neben einer theoretisch-konzeptuellen Betrachtung von ‚Bildung‘ und ‚Lernen‘ auch forschungspraktische Beispiele. Auf diesem Wege verleiht das Buch nicht nur Einblick in aktuelle Theoriedebatten der Bildungsforschung, es macht auch die kreativen und innovativen Potentiale deutlich, welche qualitativ-empirischen Verfahren für die Theoriebildung in der Erziehungswissenschaft innewohnen.
Vereint finden sich dabei die Vorzüge wie Schwächen von Sammelbänden, indem neben einer Vielfalt von Gedanken auch Redundanzen zu erkennen sind, insbesondere wenn es um die Wahl des theoretischen Blickwinkels (transformations- oder anerkennungstheoretische Perspektiven) oder das ‚Abarbeiten‘ am Bildungsbegriff geht.
Als für die Erziehungswissenschaft zentrales Verfahren tritt in diesem Buch die ‚Dokumentarische Methode der Interpretation‘ hervor. Ralf Bohnsack, selbst hier nicht Autor, hat sie in Anlehnung an die wissenssoziologischen Schriften Karl Mannheims sowie in kritischer Auseinandersetzung mit der Ethnomethodologie und dem Gruppendiskussionsverfahren für die Sozialwissenschaften fruchtbar gemacht. Nicht wenige der hier versammelten Autorinnen und Autoren gehör(t)en seiner am Fachbereich Erziehungswissenschaften und Psychologie im ‚Arbeitsbereich Qualitative Bildungsforschung‘ der FU Berlin begründeten Schule an. Die herausragende Bedeutung dieses Verfahrens für die Erziehungswissenschaft mag darin begründet sein, dass es mit seiner Hilfe gelingt, nicht nur Bildungsprozesse als subjektive Wirklichkeitskonstruktionen zu erfassen, sondern auch die historische und soziale Determiniertheit dieser Prozesse analytisch einzubeziehen.
Fazit
Der Band ist nicht als Einführung gedacht, er richtet sich an Fortgeschrittene der Erziehungswissenschaft und darüber hinaus der Sozialwissenschaften allgemein: Vorausgesetzt wird ein Interesse an aktuellen Debatten zur Theorie und zum Begriff der ‚Bildung‘, eine gewisse Leidenschaft für methodologisches Denken und grundlegende Kenntnisse im Bereich qualitativ-empirischer Verfahren.
Wer die Kritik an der übermässigen Orientierung der Pädagogik an bestehenden Theorien teilt, wird in diesem Buch zahlreiche Argumente dafür finden, weshalb sie unumgänglich auch als empirische Wissenschaft zu betreiben ist. Und wer – ganz pragmatisch – auf der Suche nach Möglichkeiten und Wegen ist, die Kluft zwischen Bildungstheorie und -forschung zu überbrücken, wird wertvolle Hinweise erhalten und zahlreiche Anregungen gewinnen.
Rezension von
Prof. Dr. Brigitte Liebig
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