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Dirk Braunstein: Adornos Kritik der politischen Ökonomie

Rezensiert von Prof. em. Dr. habil. Hans-Ernst Schiller, 05.12.2011

Cover Dirk Braunstein: Adornos Kritik der politischen Ökonomie ISBN 978-3-8376-1782-5

Dirk Braunstein: Adornos Kritik der politischen Ökonomie. transcript (Bielefeld) 2011. 439 Seiten. ISBN 978-3-8376-1782-5. 36,80 EUR. CH: 52,90 sFr.
Reihe: Edition Moderne Postmoderne.

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Thema

War in den Jahrzehnten nach dem 2.Weltkrieg die Überzeugung verbreitet, das kapitalistische Wirtschaftssystem habe trotz einiger Ungerechtigkeiten die Form einer stabilen und sozial verträglichen Bewegung gefunden, wird nach dem Beginn der Finanzkrise häufiger die Frage gestellt, ob der Kapitalismus noch eine Zukunft habe. Aber was ist Kapitalismus? Wie ändert er sich im Laufe seiner Geschichte? Und gibt es überhaupt eine Alternative? Wer über solche Probleme nachdenkt, sieht sich auf Marx, aber auch auf Adorno (und Horkheimer) verwiesen. Deshalb passt ein Buch über „Adornos Kritik der politischen Ökonomie“ gut zur Problemlage unserer Gegenwart.

Die Hauptthese des vorliegenden Buches besteht darin, dass es „eine genuin Adornosche Fassung der Kritik der politischen Ökonomie“ gibt und dass man sie nicht einfach an der Marxschen, von der sie sich „in vielerlei“ unterscheide, messen kann. Die Entwicklung anderer Maßstäbe (etwa die innere Inkonsistenz oder die Übereinstimmung mit Erfahrung) tritt freilich zurück hinter einem „Gestus des Zeigens“, der vornehmlich Adorno selbst zur Sprache kommen lassen will.

Aufbau und Inhalt

Die Arbeit zeichnet in drei, den großen biographischen Etappen folgenden Teilen die „Entwicklung der Ökonomiekritik in der Philosophie Adornos“ nach.

Im ersten Teil wird die hohe Bedeutung von Georg Lukács' Buch „Geschichte und Klassenbewusstsein“ von 1923 festgestellt, das zusammen mit seiner vormarxistischen „Theorie des Romans“ zu den entscheidenden Bildungserlebnissen des jungen Adorno zählte. Adorno übernehme von Lukács die „originär Hegelsche Konzeption von Totalität, Verdinglichung und zweiter Natur“. (30) Hinzu komme der Einfluss Walter Benjamins, besonders seines „Ursprung des deutschen Trauerspiels“. Die Einschätzung, dass Adorno Benjamin „philosophisch zweifellos mehr zu verdanken (hat) als irgend jemandem sonst“ (75) wird nicht weiter begründet; dazu hätte man die Bedeutung der erkenntnistheoretischen Einleitung des Trauerspielbuchs für Adornos „Utopie der Erkenntnis“ bis hin zur „Negativen Dialektik“ bestimmen müssen. Braunstein geht ferner auf die Diskussion um Benjamins Passagenprojekt und die Kritik des Reproduktionsaufsatzes ein. Nach einigen, wiederum eher biographisch ausgerichteten Seiten über Adornos Verhältnis zu Alfred Sohn-Rethel, schließt eine Rekapitulation der Verwendung des Fetischbegriffs im Aufsatz über den „Fetischcharakter in der Musik“ den 1.Teil ab.

Der zweite Teil beschäftigt sich mit dem Erkenntnisprozess während des Exils, vornehmlich in den Vereinigten Staaten. Er beginnt mit der Debatte über die Konzeption des „Staatskapitalismus“, die man heute einmal mit dem Blick auf die Rolle des Staates oder der internationalen Staatenbünde in der gegenwärtigen Wirtschaftskrise wieder lesen sollte. Während sich die Frage einer krisenfreien Ökonomie wohl erledigt haben dürfte, steht die Bestimmung des Verhältnisses von ökonomischer Macht und politischer Herrschaft nach wie vor zur Diskussion. Braunstein führt sie nicht, sondern geht weiter zur geschichtsphilosophischen Ausweitung der Begriffe von Herrschaft und Tausch: Im Tausch erkenne Adorno den Mythos des Immergleichen. Hier wird die zyklische Wiederholung der Natur, die seit der Urzeit das Leben der Menschen bestimmte, kurz geschlossen mit der Ödnis einer industrialisierten Welt, in der superlativische Sensationen Aufmerksamkeit und Kauflust erregen sollen. Braunstein thematisiert sodann die Kulturindustrie als Form von Herrschaft, um schließlich auf den Zusammenhang von Gesellschafts- und Sprachkritik hinzuweisen.

Der dritte Teil ist Adornos Beschäftigung mit politischer Ökonomie nach der Rückkehr aus dem Exil gewidmet und beginnt mit der Auswertung von Protokollen eines Seminars aus dem Wintersemester 1957/58. Man diskutiert, ausgehend von Max Weber, das Verhältnis von Wirtschaft und Gesellschaft, wobei Adorno dazu neigt, der „Wirtschaft“ den gewaltlosen Tausch und der „Gesellschaft“ die Herrschaft zuzuschreiben. Dokumentiert werden auch Überlegungen zur Universalität der Tauschkategorie, eine These, die für die geschichtsphilosophische Konstruktion wichtig ist. Es folgen Auseinandersetzungen um den Begriff des Gebrauchswerts, deren Stellenwert ohne die Beziehung auf subjektive Bedürftigkeit nicht nachvollziehbar ist. Von besonderer Bedeutung ist das Verhältnis von Tausch und Produktionssphäre. Schließlich wendet sich Braunstein der negativ theologischen Krönung von Adornos Kritik der politischen Ökonomie zu.

Diskussion

Braunsteins Darstellung weist einen gewissen Überhang von direkten Zitaten aus, der teilweise gerechtfertigt sein mag durch die Wiedergabe unveröffentlichten Materials. Im Allgemeinen entsteht freilich nicht der Eindruck, dass man inhaltlich mehr oder anderes erfährt, als was einer sorgfältigen Lektüre der veröffentlichten Werke nicht schon zugänglich gewesen wäre. Die Schriften zum sog. Positivismusstreit aus den sechziger Jahren scheinen mir zu kurz gekommen, ebenso die „Dialektik der Aufklärung“, deren genaue Lektüre Auskunft darüber geben könnte, welche Ansichten zur Ökonomie Horkheimer und Adorno in den vierziger Jahren für verbindlich hielten. Immerhin kann das unveröffentlichte Material lehrreich sein für die heutige Produktion fruchtbarer Fragestellungen. Angesichts des oft recht apodiktischen, um nicht zu sagen verkündigenden Tons Adornoscher Schriften vergisst man zu leicht, dass sie die Antwort auf mutige Fragestellungen und das Resultat ausgiebiger Diskussionen gewesen sind.

Der weitgehend referierende Gestus von Braunsteins Buch wird selten durch die Reflexion auf Geltungsgründe ergänzt. Das gibt dem Ganzen einen apologetischen Zug, der gegenüber interessierten Missverständnissen unvermeidlich sein mag, aber durch eine eher problemorientierte Sichtweise ergänzt werden könnte. Vor allem scheint mir der Autor zu sehr auf die Tauschtheorie Adornos zu vertrauen, deren geschichtsphilosophische Absicht er hervorhebt (389), ohne ihre Inspiration durch Nietzsche sichtbar zu machen (vgl. die „Genealogie der Moral“). Es führt kein Weg daran vorbei, dass die „genuin Adornosche Fassung der Kritik der politischen Ökonomie“ der Marxschen gegenüber gerade in diesem Punkte eine Entdifferenzierung darstellt. Die Unterschiede von Produktentausch, Warentausch und Tausch als Moment des Akkumulationsprozesses von Kapital – wobei der Tausch von Arbeitskraft und Lohn die Angel bildet – gehen bei Adorno unter. (Darauf habe ich schon in dem Aufsatz „Selbstkritik der Vernunft. Zu einigen Motiven der Dialektik bei Adorno“ aufmerksam gemacht; in: Vf. „An unsichtbarer Kette. Stationen kritischer Theorie“.) Adornos geschichtstheoretische Projektion der Tauschkategorie in die Frühgeschichte ist nicht weniger fragwürdig als die Charakterisierung der modernen Gesellschaft als „Tauschgesellschaft“. Hier arbeiten zwei Motive zusammen, die gleichermaßen kritisierbar sind: Wenn das archaische Opfer die Lücke ersetzt, die die Jagd in die Natur gerissen hat, so kann man dies nicht als Tausch verstehen; es geht um die Sicherstellung der Reproduktion des natürlichen Zusammenhangs, als dessen Glied der „Wilde“ sich weiß. Und wenn in der modernen Gesellschaft die Arbeitskraft zur Ware wird, so verweist dies auf eine neue Produktionsweise, auf die Sphäre der materiellen Produktion. Erst auf dieser Basis kann sich das Tauschwertdenken ökonomisch verbreitern und sich auch solcher Bereiche bemächtigen, die unmittelbar keine ökonomischen sind.

Auch wenn solche Debatten für Leser, die mit den Theorien von Marx und Adorno weniger vertraut sind, etwas spitzfindig und im wörtlichen Sinne „scholastisch“ („zur Schule gehörig“) anmuten, geht es doch um ganz wesentliche Dinge. Die Ausführungen im 3.Teil des Buches lassen erkennen, dass „die genuin Adornosche Kritik der politischen Ökonomie“ erheblich zirkulationslastig ist. Dass es im Tausch von Arbeitskraft gegen Kapital „mit rechten Dingen zugeht und nicht mit rechten Dingen zugeht“, macht Sinn nur im Hinblick auf den Produktionsprozess. Die Pointe der Marxschen Argumentation besteht nicht darin, dass keine Äquivalente getauscht würden, sondern in der Aufforderung, über die Tauschverhältnisse hinaus zu gehen. Tausch ist im Kapitalismus, der „Tauschgesellschaft“ nach Adorno, kein „immanent kritischer Begriff“, sondern kritisch zu sehen im Hinblick auf das, was er ggf. als Oberfläche verbirgt. Man kann eben nicht, wie Braunstein zur Verteidigung von Adorno, behaupten „dass Tausch als das die Gesellschaft konstituierende Prinzip die Produktion einschließt.“ (334) Umgekehrt: Der Gesamtprozess des Kapitals schließt die Zirkulation ein, als deren Moment man den Tausch, auch den Tausch von Arbeitskraft gegen Ware, begreifen muss. Oder: der Tausch ist ein Moment des Zirkulationsprozesses des Kapitals, dessen Gesamtprozess der einer Produktion und Realisierung von Mehrwert und darin ein Akkumulationsprozess ist. Der Satz, mit dem Braunstein Adorno verteidigt, wäre diesem wahrscheinlich doch nicht über die Lippen gekommen. Wenn er sich nur mit Gesellschaftstheorie befasst – ablesbar eben an den Veröffentlichungen zum „Positivismusstreit“ – und nicht die negative Geschichtsphilosophie als Konsequenz einer Weiterentwicklung der Marxschen Kategorien darzustellen trachtet, weiß Adorno sehr wohl, dass nicht der Tausch, sondern die Mehrwerttheorie im Zentrum der Marxschen Analyse steht, und dass der Tausch von Arbeitskraft und Kapital das Klassenverhältnis, das ein Produktionsverhältnis ist, voraussetzt. (354)

Unter den Punkten, die einer genauen Durchdenkung bedürfen, sei nur noch auf das Verhältnis von Theologie und Kritik der politischen Ökonomie verwiesen. Nachdem diese in eine negative Geschichtsphilosophie eingebettet war, scheint nicht momentan, sondern grundsätzlich die Chance vertan, dass aus der Immanenz der gesellschaftlichen Widersprüche doch noch die richtige Gesellschaft, die klassenlose, entstehen könne. Man scheint also auf ein außergeschichtliches Agens verwiesen – eines, das im Bereich der Theologie beheimatet war. Hinzu kommt die Überzeugung, dass es unstatthaft sei, vor dem Tode zu resignieren, da in solcher Resignation die Gleichgültigkeit gegen die sinnlosen Opfer der Geschichte Triumphe feiert. (Vgl. 372) Beide Motive werden von Adorno in seiner Version des Bilderverbots zusammen gebunden. Es betrifft nicht nur die transzendente Sphäre, aus der die Erlösung vom Tode kommen müsste, sondern auch die geschichtliche Zukunft, die für Marx und alle Revolutionäre durch menschliches Handeln wirklich werden soll. Wenn eine solche Praxis einem Bilderverbot untersteht, ist sie nicht nur vertagt, sondern prinzipiell unmöglich. (Auch dazu findet sich eine Analyse in:Vf., An unsichtbarer Kette, nämlich in dem Essay: „Zergehende Transzendenz: Theologie und Gesellschaftskritik bei Adorno“.)

Fazit

Eine auf den theoretischen Ertrag erpichte Lektüre wird dadurch erschwert, dass Braunsteins Buch überwiegend aus Zitaten besteht, und zwar keineswegs nur aus unveröffentlichten Quellen. Verdienstvoll ist, dass die seit dem Erscheinen der „Ästhetischen Theorie(1970) verbreitete Gewissheit, Adorno habe sich von der Kritik der politischen Ökonomie abgewandt, eine eindeutige Widerlegung erfährt. Braunsteins Buch zeigt zudem, dass Adornos Beschäftigung mit der Kritik der politischen Ökonomie von Marx ein Problemniveau aufweist, das auch heute, da die Überzeugung von der Funktionstüchtigkeit der kapitalistischen Wirtschaft (im Sinne eines krisenfesten und sozial integrativen Wachstums) ernsthaft in Frage gestellt ist, nicht unterschritten werden darf. Ob die weit ausgreifenden geschichtstheoretischen Thesen zum Tausch und zum Identitätsdenken richtig sind, muss bezweifelt werden. Unerlässlich ist die Klärung der Frage nach dem Verhältnis von politischer Herrschaft und ökonomischer Macht, die freilich aus dem Bezugsrahmen jener Tauschtheorie zu lösen wäre.

Rezension von
Prof. em. Dr. habil. Hans-Ernst Schiller
Vormals Professor für Sozialphilosophie und -ethik
Fachhochschule Düsseldorf, Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften
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Es gibt 32 Rezensionen von Hans-Ernst Schiller.

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Zitiervorschlag
Hans-Ernst Schiller. Rezension vom 05.12.2011 zu: Dirk Braunstein: Adornos Kritik der politischen Ökonomie. transcript (Bielefeld) 2011. ISBN 978-3-8376-1782-5. Reihe: Edition Moderne Postmoderne. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/11784.php, Datum des Zugriffs 13.09.2024.


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