Bernd Seeberger, Angelika Braun (Hrsg.): Wie die anderen altern
Rezensiert von Prof. Dr. Harro Kähler, 16.12.2003
Bernd Seeberger, Angelika Braun (Hrsg.): Wie die anderen altern. Zur Lebenssituation alter Menschen am Rande der Gesellschaft. Mabuse-Verlag GmbH (Frankfurt am Main) 2003. 345 Seiten. ISBN 978-3-935964-09-8. 29,00 EUR.
Einführung in das Thema
Dass es so gut wie unmöglich ist, allgemeine Aussagen über das Altern und alte Menschen in unserer Gesellschaft zu machen, gehört zu den Allgemeinplätzen der gerontologischen Literatur. Die besondere Situation alter Frauen im Vergleich zu der der alten Männer, die besonderen Umstände des Alterns unter Bedingungen geringer im Vergleich zu gesicherter materieller Versorgung oder die Unterschiede des Alterns auf dem Lande im Vergleich zur Großstadt sind nur einige Beispiele für die Differenzierungsbedürftigkeit der Betrachtung des Alterns in modernen westlichen Gesellschaften. Insbesondere die Debatte über Individualisierungstendenzen schließlich - als letztes Beispiel - lässt erkennen, dass es notwendig ist, jeweils genau zu bestimmen, von welchen Zielgruppen alter Menschen gerade die Rede ist.
Eine ganz neue und ungewöhnliche Erweiterung der differenziellen Betrachtung des Alters wird durch das hier vorgestellte Buch nahe gelegt, fokussiert es doch systematisch Teilgruppen alter Menschen, die zumindest teilweise bisher noch gar nicht Gegenstand der Aufmerksamkeit waren. Zwar mehrt sich die Literatur zum Altwerden bestimmter Teilgruppen alter Menschen, z.B. Altwerden in der Fremde, alt werdende Behinderte, alt werdende Wohnungslose - trotzdem ist es gut, dass es auch zu diesen Zielgruppen Beiträge in diesem Buch gibt. Viele Themen sind aber bisher wohl noch gar nicht aufgegriffen worden. Die Zusammenstellung der Fülle von Teilgruppen alter Menschen in dem vorgestellten Buch ist in dieser Form neu, ungewöhnlich und Horizont erweiternd.
Herausgeberin, Herausgeber, Autorinnen und Autoren
Angelika Braun ist Journalistin, Bernd Seeberger ist Professor an der Evangelischen Fachhochschule Nürnberg. Sie haben als Herausgeber und Autoren weitere Autorinnen und Autoren für die Darstellung der Alterssituation unterschiedlichster Zielgruppen gewonnen. So bunt wie die beruflichen Hintergründe des Autorenkreises, so vielfältig und unterschiedlich ist auch die Herangehensweise an die jeweilige Themenstellung. Das passt zum Vorsatz dieses Buches, über das Alter der "Anderen" zu informieren, die sich teilweise massiv vom Mainstream des Verständnisses vom "normalen Alter" unterscheiden.
Aufbau und Themen
Die Wiedergabe des Inhaltsverzeichnisses vermag wohl am besten auf die Spannbreite der vorgestellten "anderen Alten"einzustimmen (auf die fett hervorgehobenen Beiträge wird unten exemplarisch näher eingegangen):
- Alt werden und Geschichte
- Polen, die im KZ geboren wurden oder als Kinder dort interniert waren (Christoph Kulessa)
- DDR-Funktionäre - Die Angst bleibt bis zum Schluss (Lydia und Wolf-Dieter Füg)
- Sinti und Roma - bitteres Altern (Susanne Kischa und Martina Kleinow)
- Älter werdende Russlanddeutsche (Marita Blitzko-Hoener)
- Ein Unbehagen bleibt. Alternde Juden in Deutschland (Angelika Braun)
- Alt- und heimatvertrieben: Sudentendeutsche (Christian Stöger)
- Alt werden und Gesellschaft
- Wenn Schwule älter werden (Bastian Brisch)
- Alt und ohne Wohnung (Stefan Gillich)
- Knast statt Seniorenheim - Altern im Strafvollzug (Karin Hermanns)
- Alt werden mit körperlicher Behinderung (Barbara Jordan und Gerhard Etzold-Jordan)
- Wenn Junkies in die Jahre kommen (Werner Stumpf)
- Alt werden mit geistiger Behinderung (Renate Weigel)
- Alt werden auf dem Lande (Andrea Borchert)
- Sexuelle Gewalt in der Lebensgeschichte alter Frauen (Martina Böhmer)
- Alt werden und Beruf
- Junge Alte - Arbeitslos in Deutschland (Michael Mehlich)
- Prostituierte - Alt werden nach der Zeit "auf dem Strich" (Petra Fontana)
- Ältere türkische Gastarbeiter/-innen in Deutschland (Bernd Seeberger)
- Deutsche Einwanderer - Alt geworden in Australien (Dorothea Geuthner)
- Älter werdende Diakonissen (Barbara Städtler-Mach)
- Alt werden und Freizeit
- Kein Märchen - Alte Märchenerzählerinnen (Ingeborg Scheffler)
- Reif für die Insel - Alt auf Mallorca (Barbara Hoffmann)
- Wenn Easy Rider in die Jahre kommen (Peter Lämmermann)
- Alte Schnulzen - ewig junger Schlager (Johannes Florian)
Ausgewählte Inhalte
Aus der Fülle der so unterschiedlichen Darstellungen sollen einige Hinweise auf besonders interessante Darstellungen herausgegriffen werden, die hoffentlich neugierig auf das ganze Buch machen.
Zumindest für westdeutsche LeserInnen, zu denen der Rezensent zählt, sind die Ausführungen über alternde und alte SED-Funktionäre eine anregende Lektüre. Die Differenzierung in drei Funktionärsebenen belegt, dass selbst hier nicht von einer einheitlichen Altersgruppierung die Rede sein kann. Die nachvollziehbaren Hoffnungen nach dem Ende des nationalsozialistischen Regimes auf soziale Errungenschaften und Frieden sichernde Strukturen wurden zunehmend pervertiert in den Aufbau eines schnell verkrustenden Herrschaftsapparats, als deren Teil die Funktionäre eingebunden waren. Mit der Wende brach dieser Apparat zusammen. Damit ging für viele Funktionäre der Lebenssinn verloren. Typische Reaktion für viele: das völlige Ausblenden und Verdrängen dieses größtes Teils ihrer Biografien. Die "Vergangenheit (findet) ausschließlich in gesellschaftlichen Nischen Raum" (39).
Wie können Juden im "Land der Mörder" groß werden? Die Aussage, dass Deutschland nach 1945 das sicherste Land war, lässt stutzen, weil seither viele Änderungen eingetreten sind, die dazu beitragen, dass "ein Unbehagen bleibt". Ein paar Stichworte zur Auffrischung der Erinnerung: Bitburg, die Fassbinder-Aufführung in Frankfurt, der Historikerstreit, die Jenninger-Rede, Rostock, Mölln und Solingen, die Debatten um Goldhagen, das Holocaust-Denkmal, Martin Walsers Paulskirchen-Rede... Der Beitrag über alternde Juden in Deutschland konfrontiert mit Entwicklungen, die bedenklich stimmen und die Gefährdung als gesichert geltender Grundlagen in unserem Land bewusst machen.
Dass Schwule älter werden, ist ebenfalls keine überraschende Aussage. Aber insbesondere "Heteros" werden sich im allgemeinen selten mit dieser Gruppe auseinandergesetzt haben, ist doch "älter werden( ...) auch in der schwulen Welt ein Tabu." (90). Besonders beeindrucken mich die Überlegungen zur Pflege alter Schwuler. Der Autor zitiert hier Studien, nach denen in der Pflege das Thema Sexualität fast vollständig ausgeblendet wird. Wie dann erst die nach wie vor Unsicherheiten des Umgangs auslösende schwule Sexualität. Die Frage nach der Notwendigkeit spezieller Einrichtungen ("Muss es ein schwules Altenheim geben?") wird ambivalent diskutiert. Hier schlägt wohl auch die allgemeine Skepsis gegenüber stationären Unterbringungsformen durch.
In den Einrichtungen der Justizvollzugsanstalten gibt es einen nicht unerheblichen (und in Zukunft wahrscheinlich steigenden) Anteil einer Minderheit von Menschen, "die während einer langen Haft älter wurden, neben solchen, die im höheren Alter zum ersten Mal in ihrem Leben straffällig wurden, und solchen, die immer wieder in eine Vollzugseinrichtung zurückkehren."(120) Über Altern im Strafvollzug ist wenig bekannt. Nur sehr wenige Justizvollzugsanstalten verfügen über spezielle Abteilungen für ältere Strafgefangene. Innerhalb der Insassenkultur haben sie offensichtlich einen Sonderstatus, der sie vor haftinterner Viktimisierung weitgehend schützt. Die Autorin dieses Beitrags sieht in unterbelegten Abteilungen des offenen Vollzugs eine gute Chance der Unterbringung für ältere Strafgefangene und plädiert für eine vollzugsinterne Altenhilfe nach dem Vorbild der Jugendgerichtshilfe.
Sexuelle Gewalterfahrungen von heute alten Frauen stellen ein bisher wenig beachtetes Thema dar, das insbesondere für Fachkräfte in der Altenpflege wichtig ist. Die Autorin dieses Beitrags hat dazu ein in der Fachwelt wohlwollend aufgenommenes Buch verfasst (vgl. dazu die Rezension). Heute alte Frauen waren vielfältigen Gewalterfahrungen ausgesetzt - im Gegensatz zu jungen Frauen ist es aber für sie noch viel schwerer, diese Erfahrungen zu thematisieren. Neben den besonderen Formen der Gewalterfahrung waren sie besonders stark dem Druck ausgesetzt, derartige Erfahrungen zu verdrängen. Kommen sie im Alter aber in Situationen, in denen sie erneut Ohnmachtserfahrungen machen (wie es in der Pflege häufig der Fall ist), tauchen nach Ansicht der Autorin diese verdrängten Gewalterfahrungen wieder auf und machen sich in Verhaltensweisen und Symptomen bemerkbar, die für die Umwelt als merkwürdig und verrückt erscheinen. Insbesondere die traumatisierenden Vergewaltigungserfahrungen im und nach dem Zweiten Weltkrieg spielen hier eine gewichtige Rolle. "Einerseits erleben alte Frauen in Krankenhäusern und Altenheimen einen Verlust ihrer vertrauten Bewältigungsstrategien, andererseits befinden sie sich in den Institutionen erneut in Situationen, denen sie ohnmächtig und ohne eigene Kontrollmöglichkeiten gegenüberstehen und so kann es zu den vielfältigsten psychischen und somatischen Reaktionen kommen (...)" (201). Zur Einschätzung der empirischen Basis der Argumentation dieses Aufsatzes vgl. unten den Abschnitt "Diskussion".
Junge Alte, die in das Schicksal der Langzeitarbeitlosigkeit geraten, sind das Thema eines weiteren exemplarisch herausgegriffenen Beitrags, der sich durch die breite Quellenbasis von den meisten anderen Beiträgen des Bandes abhebt (leider fehlen für die herangezogenen Literaturhinweise die bibliografischen Angaben). Im Gegensatz zum weit verbreiteten Bild einer Altersgruppe, deren Situation weit gehend mit den Vorteilen des Vorruhestands gleichgesetzt wird, erleben viele Betroffene die Arbeitslosigkeit als diskriminierend und frustrierend. Sowohl materiell als auch psychisch stellt die vorzeitige Entlassung aus dem Erwerbsleben für viele Menschen eine Belastung dar. Selbst bei oberflächlich freiwillig zu Stande gekommenen "Entberuflichungen" durch entsprechende Arrangements handelt es sich häufig doch um die Wahl des kleineren Übels. Noch am besten können die Personen mit der Situation umgehen, denen es gelingt, Arbeitslosigkeit als Vorstufe und Teil des Vorruhestands umzudeuten.
Der erste Eindruck der Exotik beim Thema alte Motorradfahrer verflüchtigt sich schnell angesichts der Zahl von 150.000 Menschen über 50 Jahren, die dieser Freizeitbeschäftigung nachgehen. Das Erleben von Freiheit und Mobilität in der Natur stellt für diese Menschen offensichtlich eine wichtige Facette von Freizeitgestaltung dar. Soziale Unterschiede werden durch die einerseits vereinheitlichende, andererseits Individualität ermöglichende spezifische Bekleidung in den Hintergrund gedrängt. Interessant auch der Hinweis auf den generationenübergreifenden Charakter des geselligen Lebens der Szene. Auf diese Weise erhalten jüngere Menschen einen überwiegend positiven Eindruck vom Alter. Allerdings macht der Autor auf altersspezifische Risiken des Motorradfahrens aufmerksam und fordert von der Interventionsgenrontologie Anstrengungen, um den Betroffenen eine möglichst lange Ausübung ihres geliebten Hobbys zu ermöglichen.
Diskussion
Vielleicht geht es den LeserInnen dieses Buches so wie dem Rezensenten: die durchaus vorhandene Einsicht in die Heterogenität der Zielgruppe "alte Menschen" erfährt durch die Lektüre der Beiträge eine neue Qualität. Allgemeine Aussagen über alte Menschen werden mir nach diesem Buch sehr viel seltener über die Lippen kommen eingedenk der gewonnenen Einsicht in die unglaubliche Vielfalt unterschiedlichster Subgruppierungen der Alterspopulation. Insofern sehe ich allein in der Zusammenstellung dieser Beiträge einen großen Verdienst für die weitere Beschäftigung mit dem Altern.
Wenn man sich mit ungewöhnlichen Themen beschäftigt, ist nicht zu erwarten, dass die Erträge auf Anhieb vollständig befriedigen können. Die Basis vieler (nicht aller, vgl. z.B. den Beitrag von Michael Mehlich über junge alte Arbeitslose) Darstellungen ist häufig dünn, manchmal nicht einschätz- oder nachvollziehbar. In den meisten Beiträgen werden zur Illustration Fallbeispiele herangezogen - das hilft sehr als Illustration. Inwieweit diese Beispiele wirklich stellvertretend für die dargestellte Zielgruppe stehen, lässt sich schwer beurteilen. Die Auswahlproblematik der Fallbeispiele lässt sich ja durchaus als Teil der jeweiligen Situation der Zielgruppe verstehen: bei den Sinti und Roma gibt es gut nachvollziehbare Blockaden, sich über ihre belastenden Erinnerungen zu äußern. Wenn es dann heißt: "Jede Lebensgeschichte eines Menschen ist unverwechselbar und einzigartig, jedoch soll folgende stellvertretend für alle Sinti und Roma stehen" (44), wird über ein Problem hinweggehuscht, das Kern jeder empirischen Forschungsanstrengung sein muss: über welche Informationsquellen und Auswahlverfahren komme ich an ein möglichst unverzerrtes Bild der jeweiligen Zielgruppe? Inwieweit steht also die eine auskunftsbereite Person wirklich stellvertretend für alle anderen, denen der Mund nach wie vor verschlossen ist? Insofern lesen sich einige Aufsätze nicht wie abschließende Berichte, sondern eher wie vorbereitende Materialien für zukünftige Forschungsprojekte: auf der Grundlage der vorgestellten Anregungen möchte man loslegen und jetzt intensiv in die vertiefende empirische Erforschung einsteigen. Aber kann man Besseres über ein Buch sagen, als dass es anregt, sich weiter mit den angerissenen Themen zu beschäftigen?
Fazit
Hier liegt ein Buch vor, das die Einsicht in die Vielfalt des Alterns in unserer Gesellschaft fördert und dazu beiträgt, allgemeine Aussagen über das Alter und das Altern zugunsten differenzierender Äußerungen einzuschränken. Dass die Grundlagen mancher Ausführungen als problematisch einzuschätzen sind und es sich vielfach mehr um journalistisch anmutende denn um wissenschaftliche Beiträge handelt, kann angesichts des Betretens von Neuland nicht verwundern, verweist vielmehr auf die Nowendigkeit für neue Forschungsanstrengungen in unbekanntes oder wenig bekanntes Gelände.
Einer Neuauflage würde ein sorgfältiges Korrekturlesen gut tun.
Rezension von
Prof. Dr. Harro Kähler
Bis zur Emiritierung Fachhochschullehrer an den Hochschulen Hagen, Dortmund und Düsseldorf. Bis 2019 Redakteur der socialnet Rezensionen, Mitarbeiter in der Redaktion des socialnet Lexikons.
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