Bernhard Rathmayr: Selbstzwang und Selbstverwirklichung
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 22.08.2011

Bernhard Rathmayr: Selbstzwang und Selbstverwirklichung. Bausteine zu einer historischen Anthropologie der abendländischen Menschen.
transcript
(Bielefeld) 2011.
352 Seiten.
ISBN 978-3-8376-1698-9.
32,80 EUR.
CH: 43,90 sFr.
Reihe: Konglomerationen - Studien zu Alltagspraktiken subjektiver Absicherung - 2.
Menschen sind grundsätzlich wandelbare Lebewesen
Die Frage nach dem Wesen und dem Sein des Anthrôpos hat Menschen bewegt, seit sie existieren. Der Mensch als zôon logon echon, als sprach- und vernunftbegabtes Lebewesen, wie auch als zôon politikon, als politisches, soziales und gemeinschaftsbildendes Lebewesen, das ein eu zên, ein gutes, glücklich-gelingendes Leben anstrebt, wie dies Aristoteles formuliert hat, das die allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnende Würde in sich trägt, wie dies in der Präambel der von den Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948 proklamierten Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte zum Ausdruck kommt, dessen „kreative Vielfalt“ als Merkmal der Menschheit gilt (Weltkommission „Kultur und Entwicklung“, 1995), ist nicht darauf zu begründen, dass die Natur, wie im Mythos der conditio humana der philosophischen Anthropologie postuliert wird, Grundlage des Menschseins darstellt; vielmehr, das ist die Diktion der historischen Anthropologie, dass „Menschen ( ) als je konkret in ihrer Zeit, ihrer Kultur, ihrer sozialen und individuellen Geschichte verweilende und einem permanenten Wandel unterworfene Personen betrachtet“ werden. Die conditio humana wird damit nicht in den Urgrund der Natur verwiesen, sondern als ein offener Prozess verstanden, der sich „in der Geschichte des Menschlichen entfaltet und erschließt“.
Die traditio humana, als ein bedeutsamer Strang in der historisch-anthropologischen Forschung geht davon aus, dass „das Menschen Mögliche ( ) erkennbar (ist) an dem, was Menschen bisher möglich war, aber dieses ist nicht sein endgültiges Maß. Alles Dagewesene ist Menschen möglich, aber es ist keinesfalls schon alles Mögliche da gewesen“. Es geht also in der historischen Anthropologie darum, „Wissen von und über Menschen aus verschiedensten Epochen und Kulturen gleichsam zu einem Album des Menschlichen zusammenzufügen zu einer Erkundung des Menschlichen“, und zwar „im Rückblick auf geschichtlich und im Hinblick auf gegenwärtig verwirklichte Menschlichkeiten den reflexiven Horizont der Gegenwärtigen auf die Vielfalt der Möglichkeiten menschlicher Existenzweisen hin auszuweiten“.
Entstehungshintergrund und Autor
Am Institut für Erziehungswissenschaften der Universität Innsbruck wird seit den 1980er Jahren ein Verständnis von transdisziplinären Erziehungswissenschaften gepflegt, bei dem die Historische Anthropologie, Zivilisationsgeschichte, Historische Psychologie, Psychohistorie und eine Reihe weiterer quer zu den disziplinären Ordnungen der Fachwissenschaften liegende Denkrichtungen zusammenarbeiten. Der in Innsbruck und Bozen lehrende Anthropologe und Erziehungswissenschafter Bernhard Rathmayr (em.) gibt, zusammen mit den Innsbrucker Erziehungswissenschaftlerinnen Helga Peskoller und Maria A. Wolf im transcript Verlag die Reihe „Konglomerationen“ heraus, in eine interdisziplinäre Forschungs- und Praxisdiskussion „am Scheideweg der Gegenwart das labile Verhältnis von Absicherung und Entsicherung für künftige Alltagswelten geklärt werden und prinzipiell offen bleiben“ soll. Maria A. Wolf, Bernhard Rathmayr und Helga Peskoller haben 2009 den ersten Band der Reihe „Konglomerationen“ mit dem Titel „Produktion von Sicherheiten im Alltag. Theorien und Forschungsskizzen“ herausgegeben. Und nun legt Bernhard Rathmayr, gewissermaßen als Ertrag seines „akademischen Lebens“, den zweiten Band vor. Er subsumiert in dem Band die Materialien, Analysen und Beiträge der im Laufe der Jahrzehnte durchgeführten Lehrveranstaltungen und Diskussionsprozesse, die sich als Versuch lesen, in den interdisziplinären pädagogisch-anthropologischen Diskurs Kletter-, Halte- und Führungsseile einzubringen, bei denen, im metaphorischen Sinn wie in der praktisch-pädagogischen und erzieherischen Bedeutung, „bergsteigerische“ Kompetenzen für Lern- und Bildungshandeln dargestellt werden. Der Fokus liegt dabei auf der Frage, wie der abendländische Mensch geworden ist, was er ist. Nur am Rande werden dabei Verhaltensweisen und Wandlungsprozesse bei anderen Kulturen angesprochen.
Aufbau und Inhalt
Der Autor gliedert das Buch in fünf Kapitel.
Im ersten Kapitel werden „Symptome des Wandels“ in der biologischen, physischen und sozialen Existenz des Menschen thematisiert. Es sind die Körpererfahrungen, die Veränderungen bewirken, bei der Nahrungsaufnahme, Essensregeln, Tischsitten, genau so wie bei den „Ausscheidungen“, den Lebensäußerungen des Schamgefühls, von Liebe und Sexualität, bei der Kindererziehung, vom Umgang mit Gewalt, von Regeln zur Strafe und Vergeltung.
Das zweite Kapitel ist überschrieben mit „gesellschaftlicher Zwang zum Selbstzwang“. Es geht um die von Norbert Elias etablierten historischen, soziologischen und gesellschaftlichen Zivilisationsprozesse, die sich in den veränderten Weltbildern verdeutlichen und in Eurozentrismen, Kolonialismen und „white-man“-Phantasien zu Tage treten.
Auf die Elias´schen Zivilisationstheorien und die Duerr’sche Kritik folgt im dritten Kapitel die „Intervention der Disziplinargesellschaft“; gemeint ist damit die von Michel Foucault formulierte Darstellung des Zusammenhangs von Machtausübung und Körperdisziplinierung und seiner Einteilung in „zivilisatorische Phasen“: Die Zeit der Ähnlichkeiten vor dem 16. Jahrhundert, die Zeit der Sprache (Zeichen) vom 16. bis 18. Jahrhundert und die Zeit des Menschen vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, bis hin zu der Zeit des Verschwindens des Menschen.
Die historische Diktion setzt sich fort mit „gesellschaftlicher Zwang zur Selbstverwirklichung“ im vierten Kapitel. Es sind die aktuellen Stichworte der Entwicklung der Menschheitsgeschichte, die sich im konsumtiven „Glück der Waren“, in dem lokal-globalen Bewusstsein von der „Entfernung der Ferne“, bis hin zum „mobilen“ und „medialen“ Menschen ziehen.
Im fünften Kapitel schließlich nimmt der Autor mit der „Gegenwartsgeschichte“ die aktuellen Entwicklungslinien auf, die sich nicht zuletzt in der existentiellen Nachfrage manifestieren: Dürfen wir Menschen alles, was wir können? Es gelte, „die Wiederbelebung der Furcht“ bei den Menschen zu schaffen; und zwar nicht durch Perpetuierung von menschlicher Macht, auch nicht durch kassandrische Horrorszenarien, sondern durch „die Herauslösung der humanistischen Ansprüche aus einem vorherrschenden Menschenverständnis, das Ausscheren aus dem wahnhaften Zirkel einer Vervollkommung der menschlichen Natur“.
Fazit
Ob Furcht eigene Wirklichkeiten schafft, die den modernen Menschen seine Handlungsfähigkeit berauben ( vgl. dazu: Markus Holzinger, Stefan May, Wiebke Pohler: Weltrisikogesellschaft als Ausnahmezustand, Weilerswist 2010, in: socialnet Rezensionen unter www.socialnet.de/rezensionen/9743.php), oder Appelle wie die der Weltkommission „Kultur und Entwicklung“ (1995) - „Die Menschheit steht vor der Herausforderung umzudenken, sich umzuorientieren und gesellschaftlich umzuorganisieren, kurz: neue Lebensformen zu finden“ - ein Bewusstsein von der historischen und anthropologischen Sinnhaftigkeit des Menschseins schaffen können, wird mit der Analyse „Selbstzwang und Selbstverwirklichung“ nicht beantwortet.
Der Hinweis auf ein „relativistisches Menschenverständnis“ jedoch belebt den notwendigen Diskurs um eine Bewusstseinserweiterung des Menschseins und die Bemühungen, anthropologische ( vgl. dazu auch: Werner Petermann: Anthropologie unserer Zeit. Wuppertal 2010, in: www.socialnet.de/rezensionen/10567.php), humanistische (Jörn Rüsen / Henner Laas, Hrsg., Interkultureller Humanismus, Schwalbach/Ts., 2009, www.socialnet.de/rezensionen/8537.php), empathische (Jeremy Rifkin, Die empathische Zivilisation. Wege zu einem globalen Bewusstsein, Frankfurt/M., 2010, www.socialnet.de/rezensionen/9048.php), human-philosophische (Thomas Metzinger, Der Ego-Tunnel. Eine neue Philosophie des Selbst. Von der Hirnforschung zur Bewusstseinsethik, Berlin 2009, www.socialnet.de/rezensionen/9004.php), oder eben auch historische Aspekte in die anthropologischen Auseinandersetzungen um Menschenverständnis und ?erkenntnis einzubringen. Die von Bernhard Rathmayr gelieferten Bausteine sind ohne Zweifel ein Gewinn für diesen Diskurs!
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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