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Thorsten Fuchs: Bildung und Biographie

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 18.08.2011

Cover Thorsten Fuchs: Bildung und Biographie ISBN 978-3-8376-1791-7

Thorsten Fuchs: Bildung und Biographie. Eine Reformulierung der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung. transcript (Bielefeld) 2011. 414 Seiten. ISBN 978-3-8376-1791-7. 35,80 EUR. CH: 49,90 sFr.
Reihe: Pädagogik.

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Nicht was Bildung ist, sondern wie Bildung möglich wird, ist gefragt

Diese zwar nicht unter Ausschließlichkeitsaspekten formulierte Aussage kommt einer „stillen Revolution“ im bildungstheoretischen und ?praktischen Diskurs (Baumert / Roeder, 1994) und einer Aufforderung zum Perspektivenwechsel im Bereich der Bildungsforschung gleich. Wenn Bildung, wie es in Artikel 26, Abs. 2 der von den Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948 proklamierten Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte heißt, auf die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit und auf die Stärkung der Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten gerichtet sein und Verständnis, Toleranz und Freundschaft zwischen allen Völkern und allen rassischen oder religiösen Gruppen fördern soll, muss Bildung eben mehr und etwas anderes sein als die Anhäufung von (formalem) Wissen. Und hier kommt in den Revisionsprozess bildungstheoretischer Forschung die Frage danach, wie Bildung sich im jeweiligen kulturellen und historischen Zusammenhang darstellt und verändert.

Entstehungshintergrund und Autor

Es ist die Frage nach der biographischen Bedeutung, die zu „einer angemessenen Relationierung von Bildungstheorie und Bildungsforschung“ Anlass gibt und Perspektiven hin zu einem Konzept der „Biographie als vermittelnde Kategorie“ (Marotzki, 1996) denken lässt. Dabei muss zwangsläufig in den (Forschungs-)Blick geraten, was in den traditionellen, forschungstheoretischen Zugängen eher als Randproblem betrachtet wird, nämlich die Herausarbeitung von Welt(an)sichten und ihre Wirkungen auf Selbst(an)sichten.

Im Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften der Universität Gießen ist Thorsten Fuchs in seiner Dissertation den im Biographieforschungs-Diskurs behandelten Aspekten des Zusammenhangs von bildungs- und biographietheoretischer Reflexion nachgegangen. Er kommt dabei auf mindestens zwei bisher ungeklärte Fragebereiche:

  1. Genügen die Ansprüche des erziehungswissenschaftlichen Biographiekonzepts, als Vermittlerin zwischen Bildungstheorie und Bildungsforschung zu wirken? Oder, als These formuliert, ist dies „ein zwar mit hehrem Anspruch verbundenes Diktum“, das eben den Erwartungen nicht gerecht wird?
  2. Bieten die konzeptionellen Ausprägungen der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung Möglichkeiten zur Entfaltung und Weiterentwicklung an?

Aufbau und Inhalt

Der Autor gliedert das Buch in zwei Kapitel, denen er sechs Themenbereiche zuordnet. Die Kapitelüberschriften können dabei als programmatische Verankerungen betrachtet werden: „Skeptisch-Diskursives“ und „Qualitativ-Empirisches“.

Im ersten Teil reflektiert er den Istzustand von „Bildungstheorie und Bildungsforschung in der Gegenwart“, indem er die Konturen dieses ambivalenten Verhältnisses aufzeigt, als Diametral- und als Komplementärverhältnis. Die Diskussion über die vorliegenden Theoriekonzepte, etwa Winfried Marotzkis Ansatz der Auslegung von lebensgeschichtlichen Bildungsprozessen in hochkomplexen Gesellschaften; Hans-Christoph Kollers rhetorische Analyse biographischen Bildungsprozesse in der (Post-)Moderne; Heide von Feldens Versuche zur Erforschung von geschlechtskonstruierenden Bildungsprozessen; Arnd-Michael Nohls Forschungen zur empirischen Rekonstruktion von spontanen Bildungsprozessen in individuellen und kollektiven Handlungspraktiken. Dabei findet Fuchs mehrere Haare in der Suppe: Es ist zum einen das Problem, dass der „Wandlungsprozess als eine spezifische Prozessstruktur des Lebensablaufs zum Vorbild für einen Bildungsprozess genommen wird, dieser aber nur bedingt über die Art der Wandlung informiert und im Wesentlichen die Veränderungen selbstbezüglicher Aspekte des Biographieträgers… fokussiert“, und zum anderen, dass „die inhaltsbezogene Differenzierung biographischer Bildungsprozesse randständig“ bleibt.

Im zweiten Kapitel setzt Fuchs „biographie- und bildungstheoretische Markierungen“, indem er in lebensgeschichtlichen Erzählungen und Bildungsgestalten „artikulierte Selbst-, Fremd- und Weltverhältnisse“ aufzeigt und narrative Konstruktionen beim menschlichen Entwicklungsgang verdeutlicht; und zwar nach den je unterschiedlichen Entwicklungsphasen von der Kindheit zur Jugendzeit. Die bei Jugendlichen ermittelten lebensgeschichtlichen Erzählungen werden kategorisiert und interpretiert. Besonders die Skizzierung und Protokollierung der lebensgeschichtlichen Äußerungen der Jugendlichen vermittelt mit den drei Fallbeispielen einen informativen und erhellenden Eindruck von den subjektiven, individuell, kollektiv, trend- und vorbildgeleiteten Selbstempfindungen und -verhältnissen, und untermauert die Auffassung, dass „von einer auf Bildungstheorien rekurrierenden Biographieforschung … auch nicht die ’Generalisierbarkeit ihrer Ergebnisse’(Wigger, 2004) und die Erfassung von Gesetzen und Strukturen der Welt“ abgeleitet werden kann. Denn die Frage nach „Bildung“ ist eben nicht nur theoretisch-normativ zu beantworten, sondern muss auch auf „genuin bildungstheoretischen Fundamenten aufbauenden Biographieforschung“ ruhen.

Fazit

Fuchs Versuch, eine Reformulierung der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung vorzunehmen und dabei exemplarisch lebensgeschichtliche Erzählungen von „Bildungsgestalten“ zugrunde zu legen, stützt sich auf die Überzeugung, dass der Bildungsbegriff eben nicht nur ausgelegt werden sollte, sondern in den individuellen, gesellschaftlichen und kulturellen Wirklichkeiten konkret angelegt werden muss, mit der Anforderung, wie Bildung möglich ist. Dabei stehen nicht die bildungspolitischen Herausforderungen im Vordergrund, sondern die Bildungsreflexion als Forschungsgegenstand: „Dementsprechend ist Anliegen und Anspruch der Bildungsforschung ’nicht nur die Realität gegebener Bildungsqualitäten angeben zu können, sondern auch noch deren Ursachen’ und Prägekraft“ zu benennen.

Es ist das Verdienst von Thorsten Fuchs, mit seiner Forschungsarbeit auf die Bedeutung der Biographieforschung erneut aufmerksam gemacht zu haben. Damit öffnet er ein weiteres Stück von der engen Wendeltreppe aus dem „Elfenbeinturm“ hinunter in die „Halle der Wirklichkeiten“, die den lokalen und globalen Anspruch auf „Bildung für Alle“ plakatiert. Für Forschung und Lehre dürfte die Arbeit bedeutsam sein!

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 18.08.2011 zu: Thorsten Fuchs: Bildung und Biographie. Eine Reformulierung der bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung. transcript (Bielefeld) 2011. ISBN 978-3-8376-1791-7. Reihe: Pädagogik. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/11821.php, Datum des Zugriffs 14.12.2024.


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