Philip Manow: Politische Ursprungsphantasien
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 22.08.2011

Philip Manow: Politische Ursprungsphantasien. Der Leviathan und sein Erbe. Konstanz University Press (Göttungen) 2011. 243 Seiten. ISBN 978-3-86253-011-3. 24,90 EUR. CH: 37,90 sFr.
Zôon politikon oder anthrôpos tyrannis?
Schafft sich die gewandelte und sich rapide wandelnde Gegenwart eine veränderte Vergangenheit? Mit dieser philosophischen wie existentiellen Frage stehen wir an eine der Urgründe menschlichen Denkens, hergeleitet von antiken Philosophen und Staatstheoretikern der Neuzeit. Es ist die Nachschau nach dem, „wie wir wurden, was wir sind“ (Bernt Engelmann, 1980); es ist die Verzweiflung, dass „die menschliche Vernunft ( ) das besondere Schicksal in einer Gattung ihrer Erkenntnisse (hat): dass sie durch Fragen bestätigt wird, die sie nicht abweisen kann; denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben, die sie aber auch nicht beantworten kann, denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft“, wie dies Immanuel Kant in seiner Vorrede zur ersten Ausgabe von „Kritik der reinen Vernunft“ 1781feststellt; es ist die Gewissheit, dass das „Ende der Gewissheiten“ angebrochen ist (vgl. dazu: Michael Thoss, Hrsg., Das Ende der Gewissheiten. Reden über Europa, München 2009, in: socialnet Rezensionen unter https://www.socialnet.de/rezensionen/7917.php). Es ist nicht zuletzt die fundamentale Erkenntnis, „dass wir die Demokratie besser verstehen, wenn wir lernen, sie vor dem Hintergrund dessen zu betrachten, was sie ablehnt, vor dem Hintergrund der Monarchie“. Damit sind wir mitten drin im Hier und Heute und im philosophischen und politischen Spekulieren, dass die Demokratie zwar die schlechteste aller Staatsformen sei, ausgenommen alle anderen, wie dies Winston Churchill formuliert haben soll. Und wir sind angelangt beim „Leviathan or the Matter, Forme and Power of a Commonwealth Ecclesiastical and Civil (Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates), der staatstheoretischen Schrift von Thomas Hobbes aus dem Jahr 1651, mit dem der englische Philosoph sein absolutistisches Politikverständnis formuliert (http://de.wikipedia.org/wiki/Leviathan/).
Autor und Inhalt
Es sind die Ursprungserzählungen, mit denen sich Gesellschaften und Zivilisationen ihrer Existenz, ihrer Daseinsberechtigung und nicht zuletzt ihrer Überlegenheit gegenüber anderen Nachbildern vergewissern. Philip Manow, Professor für Vergleichende Politische Ökonomie am Institut für Politikwissenschaft der Universität Bremen, nimmt die (abendländische) Vorstellung von der „Wildheit als phylogenetische Kindheit“, wie sie im Hobbes’schen Leviathan-Frontispiz als Ursprungsphantasie des Naturzustandes der Menschen zum Ausdruck kommt und, überraschenderweise, ebenso bei Sigmund Freud in „Totem und Tabu“, sowie „Der Mann Moses“, nicht mehr wie bei Hobbes als „von der Angst befreiendes (ut nullum timeret), sondern ein selbst Angst und Schrecken in nie geahntem Ausmaß verbreitendes Monster geworden ist“, zum Anlass, den verbrecherischen Ursprung politischer Herrschaft an den politischen und religiösen Gründungsorten ? America und Sinai ? zu verdeutlichen, die im Leviathan als „both State and the Church are the same man“ gekennzeichnet werden. Philip Manow geht dabei didaktisch und literarisch in bemerkenswerter Weise vor, indem er an 27 ausgewählten Abbildungen Bildinterpretationen vornimmt und sie mit einer Textexegese verbindet.
Das Buch ist in zwei Teile gegliedert: Im ersten Teil geht es um „America“, das die Abendländer in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts überwiegend durch Reiseberichte, Phantasieerzählungen und Horrorgeschichten übermittelt bekamen: „Wildheit“ und „Zivilisation“, „Naturzustand“ und „Primitivität“, despotische, familiäre und institutionelle Herrschaft, die Erzählungen, wie sie sich in der Apotheose vom „Naturzustand“ des Menschen bei Hobbes und bei der „Urhorde“ bei Freud darstellen, vermitteln einen Menschen, der in seinen privaten und öffentlichen Existenzen hier sich befreit aus den Fesseln der Herrschaft, dort sich triebhaft ihnen ausliefert, zwischen Körper, Republik und Besitz. Denn im Naturzustand existiert „kein Besitz, kein Eigentum, kein Mein und Dein“, was ironischerweise dazu führt, dass die Landnahme, als koloniale Herrschaft genau mit dieser Diktion begründet werden kann: Alle haben ein Recht auf alles!
Im zweiten Teil thematisiert der Autor den Bedeutungszusammenhang von Thron und Opferaltar, indem er die Symbolik des „religiösen Kannibalismus“ interpretiert, wie sie sich als politische und religiöse „Einverleibung“ im Leviathan-Frontispiz zeigt und in Freuds „Totemmahlzeit“ zentral angesprochen und als Lehrsatz formuliert wird: „Der Souverän ist Garant der politischen wie der religiösen Einheit, wir schulden ihm in beiden Welten ? der spiritualty und der temporalty , im commonwealth ecclesiasticall und im commonwealth civil ? Gehorsam“. Die Bezugnahmen auf Christus als Weltenherrscher und auf Hiob als Opfer wird der Anspruch auf die gegebene Ordnung postuliert, die sich im Souverän symbolisiert: „Das Verbrecherische wird jetzt, diese Ordnung nicht anzuerkennen“, was bedeutet, dass für die Krise der Gesellschaft diejenigen verantwortlich gemacht werden, die sich gegen die Ordnung stellen.
Im Schlussteil nimmt Philip Manow Freuds Interpretationen vom Medusenhaupt und von der Kastrationsangst zum Anlass, auf den Zusammenhang von politischer und gesellschaftlicher Desintegration und sexuellen Bedrohungen: „Die politischen Ursprungsphantasien enthalten daher auch immer das Versprechen auf die (Wieder-)Herstellung einer sexuellen Ordnung“. Er kommt zu der bemerkenswerten Aussage, die zweifellos eine neue Sichtweise des Leviathan-Mythos darstellt, dass Hobbes mit dem Leviathan „nicht nur und vielleicht noch nicht mal in erster Linie ein Ur-Bild des Staates, sondern ein Ur-Bild der Demokratie geschaffen“ hat ? freilich damit auch das (Macht-)Gebilde des Nationalstaates, das nicht mehr als beschützendes, die Angst abwehrendes Monster auftritt, sondern selbst als bedrohliches Monster wirkt, etwa als totalitäre, verbrecherische und unmenschliche Macht, wie sich dies im Nationalsozialismus dargestellt hat.
Fazit
Philip Manow hat mit seiner Bildinterpretation und Textexegese eine interessante, philosophische Arbeit geliefert, die historische Befunde verbindet mit aktuell politischen Reflexionen. Er leistet damit einen Beitrag zum Diskurs, wie wir geworden sind, was wir sind und rückt Mythen und Fehlinterpretationen in ein anderes, real-existierendes Licht.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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