Claudine Burton-Jeangros, Christoph Maeder (Hrsg.): Identität und Wandel der Lebensformen
Rezensiert von Dr. Juliane Noack Napoles, 28.12.2011
Claudine Burton-Jeangros, Christoph Maeder (Hrsg.): Identität und Wandel der Lebensformen. Seismo-Verlag Sozialwissenschaften und Gesellschaftsfragen AG (Zürich) 2010. 280 Seiten. ISBN 978-3-03-777099-3. 48,00 EUR. CH: 32,00 sFr.
Thema
Ausgehend von einem Verständnis von Identität als einem Konzept, das sich auf die konkrete Art bezieht, wie einzelne Menschen ihr Leben führen und ihren Alltag gestalten, geht es in dem Buch darum „sich die Klassifikationskategorien der Gesellschaft anzuschauen, auf die der oder die Einzelne zurückgreifen kann, um seine oder ihre Identität zu konstruieren: Definiert er oder sie sich durch die soziale Stellung, die nationale oder sexuelle Zugehörigkeit, die Zugehörigkeit zu einer Jahrgangskohorte oder durch andere Kriterien.“ (S. 17) Unter dem Gesichtspunkt des gesellschaftlichen Wandels und dem damit verbundenen Wandel der Lebensformen, rückt in den Blickfeld, dass Identitätskonstruktionen immer auch der Kurzlebigkeit von gesellschaftlichen Prozessen unterworfen sind. Insofern – dies ist der Rahmen der zentralen Fragen der Beiträge dieser Publikation – sei es erst möglich „das Phänomen der individuellen Identität zu verstehen, wenn man auch die Veränderungsprozesse im Umfeld der betroffenen Individuen und gesellschaftlichen Gruppen und deren Einflüsse auf die verschiedenen Lebensformen erkennen und begreifen kann.“ (S. 18)
Herausgeberin und Herausgeber
Das vorliegende Buch wurde von Claudine Burton-Jeangros, Professorin am Department für Soziologie an der Universität von Genf und Christoph Maeder, Professor an der Pädagogischen Hochschule in Thurgau, herausgegeben.
Entstehungshintergrund
Die vorliegende Publikation ist im Rahmen des Kongresses 2009 der Schweizerischen Gesellschaft für Soziologie in Genf hervorgegangen, der sich mit dem zentralen Thema des Lebens in der modernen Welt „Identität und Wandel der Lebensformen“ beschäftigte. In vier Teilen enthält sie eine Auswahl der Beiträge zu dem Kongress.
Aufbau
In das Buch, dessen Entstehungshintergrund und theoretischen Rahmen führt eine, sowohl auf Französisch als auch auf Deutsch geschriebene Einleitung ein. Daran schließen sich die einzelnen Beiträge an, die wiederum vier Themenkomplexen zugeordnet und entweder auf Deutsch, Englisch oder Französisch verfasst sind:
I. Identität und Theorie
Die Beiträge dieses Teils beschäftigen sich theoretisch und auf gesellschaftlicher wie auf individueller Ebene mit dem Thema Identität und ihrem Wandel. Hier finden sich folgende vier Texte:
- „L'individualisme, la différence et la singularité (Danilo Martuccelli)
- Identität in der Sozialtheorie: Weiterentwicklung der Differenzierungstheorie (Kurt Imhof)
- Sociologie de la conversion: socialisation et transformations individuelles (Muriel Darmon)
- Changement identitaire, vulnérabilité et agir faible (Marc-Henry Soulet)
II. Identität und soziale Orte
Das Thema dieses Teils ist der Zusammenhang von sozialen Räumen und dem Selbst, dem sich folgende beiden Artikel in völlig unterschiedlicher Art und Weise widmen:
- „Jede Stadt ist ein Seelenzustand“ (Martina Löw)
- Migrationspolitik im pluralen Europa – Differenzierte Citizenship, Prekarisierung und soziale Rechte (Sandro Cattacin)
III. Identität und Arbeit
Wie der Titel bereits verrät, sind in diesem Teil vier Beiträge versammelt, die sich mit Identität im Kontext von Arbeit befassen:
- Unsichtbar in der Campus-Welt. Kontrapunktische Lektüre eines Vorzeigeprojekts der Wissensgesellschaft (Peter Streckeisen)
- Travail et citoyenneté (Danièle Linhart)
- Gendered und Gendering Ambivalences in Science or How Professional Identities Come to matter (Dagmar Lorenz-Meyer)
- Identités, inégalités et changement social: les enjeux de la mesure (Dominique Joye et Julien Chevillard)
IV. Identität und kulturelle Praktiken
Im Fokus des letzten Teils stehen kulturelle Praktiken in Hinblick auf Identität:
- Culture et identités. Quand les pratiques culturelles (re-)deviennent un objet d'étude légitime (Olivier Moeschler et Stéphanie Vanhooydonck)
- Séries télévisées et bricolage cultural (Jean-Pierre Esquenazi)
- Bild-Identitäts-Kulturen: Überlegungen zur Entstehung eines gegenwartskulturellen Beziehungsgefüges (York Kautt)
Inhalt
Die inhaltliche Auseinandersetzung erfolgt hier entlang der deutsch- und englischsprachigen Texte. Zunächst setzt sich Kurt Imhof in seinem Aufsatz „Identität in der Sozialtheorie: Weiterentwicklung der Differenzierungstheorie“ mit dem Thema der Identität entlang der Unterscheidung von funktionaler, stratifikatorischer, segmentärer und temporaler Differenzierung auseinander. Sein Ausgangspunkt ist hierbei die Feststellung: „Wenn wir mit der Kategorie „Identität“ arbeiten, haben wir es mit Differenzierungstheorien zu tun, weil sich Identität über Differenz konstituiert.“ (S. 45) Einer kritischen Analyse hinsichtlich ihres Nutzens und ihrer Mängel unterzogen werden die klassisch sozialwissenschaftliche Metatheorie der Differenzierung und eine typisch kulturwissenschaftliche Differenzierungstheorie. Anschließend werden beide synoptisch verbunden, indem „wir anstelle eines positivistischen Verständnisses von einer „äusseren“ Sozialstruktur und eines kulturalistischen Verständnisses von „inneren“ symbolischen Strukturen die soziale Ordnung als den Subjekten immer schon vorgegebene, verselbständigte Sozialität beschreiben, die unsere Intentionen und unser Handeln durch uns hindurch bestimmt wie von außen beschränkt.“ (S. 45)
In ihrem Aufsatz „Jede Stadt ein Seelenzustand: Über städtische Vergesellschaftung und Identitätsanforderung“ untersucht Martina Löw den Zusammenhang von Raumbindung und Identität am Beispiel von Städten. Diese Raumbindung ist, so argumentiert sie,: „in einer urbanisierten Welt ganz wesentlich über Städte als Sinneinheiten organisiert. Mittlerweile existiert in Deutschland ein Verstädterungsgrad von 88%, in Brasilien von 84%, in der Schweiz von 75%. Demzufolge ist davon auszugehen, dass neben globalen und nationalen Bezügen, auch die Stadt als vergesellschaftender Sinnkontext relevant wird.“ (S.105) Als These formuliert hält sie fest: „In jeder Stadt bilden sich spezifische und unterscheidbare Konstellationen zusammenhängender Wissensbestände und Ausdruckformen heraus. Damit verdichten sich diese Städte zu Sinnzusammenhängen, die Menschen in ihren Praktiken, das heißt in ihrer Identität, in Gefühlen, Einstellungen, im Denken auf unterschiedliche Weise prägen. Gleichzeitig und umgekehrt reproduziert sich durch diese Praxis eine besondere Logik der Stadt.“ (S.107f) Mit dem Thema „Migrationspolitik im pluralen Europa – Differenzierte Citizenship, Prekarisierung und soziale Rechte“ setzt sich Sandro Cattacin ebenfalls im Teil Identität und soziale Orte auseinander. Er kommt zu dem Schluss, dass die Veränderung der europäischen migrationspolitischen Praxis viele Gemeinsamkeiten mit der US-amerikanischen Politik gegenüber ihrer regulären und irregulären Einwanderung habe, was er als „Amerikanisierung“ Europas deutet. Dies macht er an drei großen Linien identitätsrelevanter Entwicklungen fest: 1. an der Ambivalenz zwischen nationalen Identitätsdiskursen und europäischer Staatenbildung; 2. an den internen Differenzierungen der Zivilgesellschaft, die sich nur noch in der Differenz als Einheit erkennt und 3. an sozialrechtlichen Zugehörigkeitsdifferenzierungen und deren Konsequenzen infolge von Migration (S. 21)
Peter Streckeisen legt in seinem Beitrag „Unsichtbar in der Campus-Welt. Kontrapunktische Lektüre eines Vorzeigeprojekts der Wissensgesellschaft“ dar, „wie sich der Übergang von der alten Industrie- in die neue Wissensgesellschaft präsentiert und welche Folgen sich daraus für die Identitätsbildung von Angestellten.“ (S. 21) ergeben. Der Autor liest die großen Erzählungen hinsichtlich dieses Projekts kontrapunktisch, d.h. er legt das Augenmerk darauf, was nicht gesagt wird und wer nicht zu Wort kommt. Mit diesem Vorgehen deckt er hinsichtlich der Identitätsthematik auf, wie wenige mächtige Akteure „sich ihren Gelegenheitsraum für die zu ihnen passenden Selbstbilder schaffen, diesen mit sozialem Wandel legitimieren und dabei die alltägliche betriebliche Normalität zu einem marginalen Phänomen degradieren.“ (ebd.)
In ihrem Aufsatz „Gendered und Gendering Ambivalences in Science or How Professional Identities Come to Matter“ thematisiert die Autorin Dagmar Lorenz-Meyer die Frage, wie Wissenschaftlerinnen, die mit dem kulturellen Widerspruch zwischen ihren weiblichen Normen und ihren professionellen Kompetenzen konfrontiert werden, ihre Geschlechteridentität und ihre berufliche Identität aushandeln. Dabei geht sie von der These aus: „identities can be fruitfully studied around enactments of ambivalence …“ (S. 166), wobei sie in Anlehnung an die Arbeiten von Kurt Lüscher Ambivalenz wie folgt versteht: „ambivalence refers to opposing values that are simultaneously imputed to a significant „object“ or pattern of the social (an artefact, a person, gender, nation etc.) in the course of its apprehension, use and interaction.“ (ebd.)
Das Buch endet schließlich mit dem Text von York Kautt „Bild-Identitäts-Kulturen: Überlegungen zur Entstehung eines gegenwartskulturellen Beziehungsgefüges“, in dem sich der Autor der Frage nach der modernitätsspezifischen Relevanz von „Identität“ über eine auf Medien bezogene Perspektive nähert. Im Zentrum seiner Überlegungen steht die Beziehung zwischen Identität und Bild, die sich mit der Fotografie im 19. Jahrhundert entwickelt habe und bis in die Bildkulturen der Gegenwartsgesellschaft hinein von Bedeutung sei: „Diese Beziehung wird stark geprägt von Merkmalen und Effekten technischer Bildmedien, die die Konstruktion von Identität in neuartige Konfliktlagen manövrieren und damit zugleich neue Formen der bildlichen Schematisierung von Identität provozieren.“ (S. 250) – wobei hier explizit die soziale Identität gemeint ist.
Diskussion
Die vorliegende im Rahmen des Kongresses der Schweizerischen Gesellschaft für Soziologie entstandene Publikation thematisiert den Wandel von Lebensformen und die damit verbundenen Konsequenzen für Identität und Identitätsentwicklung. So heißt es auf dem Klappentext des Buches: „Wenn sich moderne Gesellschaften in vielen Bereichen konstant verändern, dann stellen sich vielfältige Fragen zu den damit verbundenen Prozessen der Identitätsfindung und -bildung. Die Fragen „Wer sind wir?“ und „Wer bin ich?“ tauchen deshalb als eine Art sozialer Zwang immer wieder von Neuem auf.“ Ausgehend von der Identität als einem soziologischen Grundbegriff, der sich auf die konkrete Art bezieht, wie einzelne Menschen ihr Leben führen und gestalten, bleibt in den vorgestellten Beiträgen die Diskussion um den Begriff bzw. das Konzept der Identität eher implizit. In den Mittelpunkt gerückt werden gesellschaftliche Veränderungen anhand konkreter Beispiele, die dann hinsichtlich ihres Einfluss auf die Konstruktion und Entwicklung von Identität gedeutet werden. Aus der Perspektive solcher gesellschaftlicher Analysen sind diese Beiträge nicht nur äußerst erhellend, sondern auch sehr spannend und interessant zu lesen. Als soziologische Fachbeiträge teilweise auch recht voraussetzungsreich (vgl. beispielsweise den Aufsatz von Kurt Imhof über die Differenzierungstheorie), was sich eben auch an den stellenweise sehr implizit bleibenden Deutungen hinsichtlich identitätsrelevanter Konsequenzen zeigt. Interessant insbesondere hinsichtlich der Identitätsthematik ist, wie sich sozusagen die schweizerische Identität in dem Buch widerspiegelt, zum einen sind die Beiträge in ihren Originalsprachen (französisch, deutsch und englisch) veröffentlicht und zum anderen „schimmern“ in den Beiträgen immer wieder schweizerische Themen durch bis hin zu dem Beitrag „Unsichtbar in der Campus-Welt. Kontrapunktische Lektüre eines Vorzeigeprojekts der Wissensgesellschaft“ von Peter Streckeisen, in dem es um den Neubau der Gebäude des Pharmaunternehmens Novartis hinsichtlich der Identität der dort Angestellten geht, der derzeit eine der größten Baustellen der Schweiz ist.
Fazit
Das vorliegende Buch dient der Sensibilisierung für und Sichtbarmachung von gesellschaftlichen Veränderungen und Prozessen, stellt aber keine, wie möglicherweise aufgrund des Titels „Identität und Wandel der Lebensformen“ zu erwartende explizite Auseinandersetzung mit Identitätskonzepten und deren Zusammenhang mit sozialem Wandel dar. Insgesamt, so ja auch das Anliegen der Arbeit, wird ein Einblick in die aktuelle Forschungslandschaft zum Thema Identität vermittelt, wobei jedoch, angesichts der Tatsache, dass es sich um ein soziologisches Fachbuch handelt, einige seiner Beiträge sehr voraussetzungsreich sind.
Rezension von
Dr. Juliane Noack Napoles
Institut für Bildungsphilosophie, Anthropologie und Pädagogik der Lebensspanne der Universität zu Köln
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Es gibt 12 Rezensionen von Juliane Noack Napoles.
Zitiervorschlag
Juliane Noack Napoles. Rezension vom 28.12.2011 zu:
Claudine Burton-Jeangros, Christoph Maeder (Hrsg.): Identität und Wandel der Lebensformen. Seismo-Verlag Sozialwissenschaften und Gesellschaftsfragen AG
(Zürich) 2010.
ISBN 978-3-03-777099-3.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/11851.php, Datum des Zugriffs 19.01.2025.
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