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Philipp Aerni, Fritz Oser (Hrsg.): Forschung verändert Schule

Rezensiert von Dr. Monika Wilkening, 07.10.2011

Cover Philipp Aerni, Fritz  Oser (Hrsg.): Forschung verändert Schule ISBN 978-3-03-777100-6

Philipp Aerni, Fritz Oser (Hrsg.): Forschung verändert Schule. Neue Erkenntnisse aus den empirischen Wissenschaften für Didaktik, Erziehung und Politik. Seismo-Verlag Sozialwissenschaften und Gesellschaftsfragen (Zürich) 2011. 223 Seiten. ISBN 978-3-03-777100-6.

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Thema und Zielsetzung

Vermittlung von neuen Erkenntnissen und Methoden aus der interdisziplinären Forschung; Ausweitung von bestehenden Vorstellungen, Überzeugungen, Praktiken; Beitrag zur Neuorientierung in der Schweizer Bildungsdebatte

Autoren

Philipp Aerni arbeitet am World Trade Institute der Universität Bern und am Institut für Umweltentscheidungen der ETH Zürich,

Fritz Oser war Professor für Pädagogik und Pädagogische Psychologie an der Universität Friboug.

Entstehungshintergrund

Die Autoren haben am 5.6.2009 das Symposium „Forschung verändert Schule“ am Collegium Helveticum in Zürich organisiert. Aus den Beiträgen ist dieser Sammelband entstanden.

Aufbau

Neben Vorwort und Einleitung enthält der Band vier Teile.

Vorwort vom Schweizer Staatssekretär für Bildung und Forschung

Wissenschaftliche Methoden kann man sich jederzeit aneignen – viele Aufgaben übernimmt heute die Technologie – , Handlungskompetenz jedoch ist dringlich wegen der Komplexität und ständigen Veränderung von Bildungsprozessen.

Die Diskussion über die Ziele der Schule, über die vorrangig zu erwerbenden Kompetenzen, einschließlich der weniger gut messbaren, ist offen. Der Wunsch, Schule durch „höhere Wissenschaftlichkeit“ besser steuern zu können, bleibt eine Illusion. Dennoch müssen Schule, Hochschule und Lehrerbildung weiter untersucht werden.

Einleitung der Autoren

Auch in der Schweiz hat sich Schulforschung vorrangig an formalen und standardisierten Kriterien orientiert. Die Autoren beschreiben den neuen Bildungsartikel vom Mai 2006. Das Problem der Messbarkeit in verschiedenen Fächern wird diskutiert. Lernende müssen auch erfahren, wie neues Wissen überhaupt zustande kommt. Daher müssen sie auch mit neueren Forschungsmethoden vertraut gemacht werden. Humboldts Prinzip der Einheit von Forschung und Lehre wird erwähnt. Die Qualität des Unterrichts hängt von der Eigeninitiative Lehrender ab, die Lernenden Instrumente für die Forschung und Neugierde und Mut vermitteln. Lehrende erfahren in diesem Zusammenhang viele Schwierigkeiten.

Reines Orientierungswissen ist kaum brauchbar für Lernende, da im Alltag die Welt komplizierter und ambivalenter ist. Es regt auch nicht dazu an, selbst Nachforschungen anzustellen und dabei zu verstehen, wie neues Wissen geschaffen wird und welche Forschungsmethoden dabei zur Verfügung stehen. Zudem hat die neuere empirische Feldforschung neue Techniken entwickelt , die eine Disziplinen übergreifende Zusammenarbeit ermöglichen. (diskutiert am Symposium „Forschung verändert Schule“ am 5.9.2009 in Zürich) Schule soll für Forschung geöffnet werden und so zukunftsfähig gemacht werden.

Eine der Autorinnen, Gabrielle von Büren-von Moos, definiert treffend „Interdisziplinarität“ (S. 107-108): „Interdisziplinarität impliziert die Anerkennung der Disziplinarität. Sie beruht auf Einzeldisziplinen, und sie schöpft Inhalt durch das Vorhandensein von Disziplinen. Interdisziplinarität ist damit in erster Linie etwas Sekundäres, etwas Abgeleitetes, doch zugleich ermöglicht erst sie ein ganzheitliches Verständnis komplexer Zusammenhänge. So hat Interdisziplinarität einen Wert und eine Bedeutung per se, nämlich dann, wenn sie als Gegenbewegung zu einem allzu engen Disziplinendenken interpretiert wird, einem Disziplinendenken, das mit dem Problem der Verabsolutierung und ´Ent-Grenzung´ der eigenen Methode, die zur einzigen Wahrheitsproduktionsstätte wird, verbunden ist.“

Die folgenden Beiträge stammen von teilnehmenden Referenten. Es gibt vier Blöcke:

  1. Forschung über die Schule
  2. Forschung in der Schule (allgemein)
  3. Empirische Forschung und Orientierungswissen (Forschung verändert Schule: fachspezifisch)
  4. Technologie ermöglicht Forschung in der Schule (Risiken und Nutzen von neuen Technologien)

Ergebnis des Symposiums ist, dass viele neue Durchbrüche durch Disziplinen übergreifende Forschungsmethoden erzielt wurden; dadurch wird auch zunehmend auf Fachjargon verzichtet, um ein größeres Publikum zu erreichen und wissenschaftlich anschlussfähig zu bleiben.

Diese Entwicklung steht teils im starken Kontrast zum Unterricht auf verschiedenen Stufen, die noch stark disziplinär orientiert sind und sich noch vorrangig der traditionellen Wissensvermittlung widmen.

Innovative Lehrende müssen mehr gesellschaftliche Anerkennung erfahren; die Verlage müssen sich auf eine Ausweitung reiner Fachinhalte einstellen. Enge Zusammenarbeit von forschenden und praktizierenden Lehrenden sind notwendig.

FachdidaktikerInnen, die diese Umsetzung vollziehen könnten, bleiben nach Auffassung der Autoren meist im rein Normativen oder im Nur-Praktischen hängen. Deshalb gelinge es ihnen zumeist nicht, ihre eigenen Strategien empirisch zu überprüfen.

Der Sammelband soll die disziplinorientierte Lehre für neue Erkenntnisse aus der interdisziplinären Forschung empfänglicher machen und die Forschung anhalten, sich mehr mit neuen Fragestellungen und innovativen Ansätzen aus der Praxis zu beschäftigen.

Dazu gehören auch experimentierfreudige Schulen und motivierte Lehrkräfte, die bestehendes und neues Wissen wirksam vermitteln können und die durch Offenheit, Engagement und Innovation die Zukunftschancen ihrer Lernenden verbessern möchten. Sie sollten mehr Anerkennung erfahren wie z.B. Obamas Initiative „Race to the Top“ in den USA.

Teil 1: Forschung über die Schule

Elsbeth Stern - Intelligentes Wissen als Schlüssel zum Können. Stern fragt, wie Menschen das im kulturellen Kontext entstandene Wissen erwerben können. Sie schreibt über die Bedeutung des Übens. Sie zeigt Mechanismen, um sich Wissen effizient anzueignen und zu verstehen. Wissenspsychologische Begriffe wie Automatisierung, Chunking und Verstehen werden an Beispielen illustriert. Die Grundlagen dafür müssten in der Grundschule gelegt werden. Lernende seien weniger geprägt durch Persönlichkeitsmerkmale.

Darcia Narvaez - Dualistisches Denken als Barriere der geistigen Entwicklung. Es ist seit langem bekannt, dass Wissen durch Handeln generiert wird. Dennoch werden Lernende meist nicht ermutigt, Fragen zu stellen oder eigene Regeln oderLösungen zu entwickeln und zu testen, kritisch nachzudenken. Dieses sei jedoch wichtig auf dem Wege zu mündigen Bürgerinnen und Bürgern. Wissen werde durch Lehrende vermittelt, sei oft statisch und stehe „echtem“ Lernen und Problemlösen im Wege. Dadurch werde die Übernahme von sozialer und politischer Verantwortung verhindert. Die kognitiv-vermittelnde Perspektive definiert Lernen als aktive Transformation konzeptioneller Strukturen, nicht als passive Akkumulation von Informationen.

Fritz Oser und Catherine Näpflin - Conceptual Change: Über bedeutungsvolle Veränderungen im Denken. Lernende haben Schwierigkeiten, den fundamentalen Wechsel ihrer Vorstellungen (conceptual change) zu vollziehen, der für ein wissenschaftliches Verständnis der natürlichen und sozialen Prozesse erforderlich ist. Die Autoren illustrieren anhand von Zeichnungen verschiedene Stadien zur Entwicklung des ersten Weltverständnisses von Kindern. Dabei zeigen sie graduelle Veränderungen in den verschiedenen Stadien auf. Für Kinder können durchaus zwei Erklärungsweisen für das gleiche Phänomen nebeneinander bestehen. (Komplementarität).

Teil 2: Forschung in der Schule

Dieter Imboden - Forschung verändert Schule – Fragezeichen oder Ausrufezeichen? Imboden fragt, wie die Erkenntnisse aus der allgemeinen Forschung in die Schule kämen und was sie dort bewirken. Darauf gebe es keine befriedigende Antwort, denn Wissensproduktion in der Forschung und – vermittlung in der Lehre seien „zwei ungleiche Geschwister“, die nur schwer zusammenfänden. (S. 83) Ein sich ständig vergrößernder Graben tue sich auf zwischen der interdisziplinären Wissensproduktion von Forschenden und der noch sehr disziplinär orientierten Wissensvermittlung von Schule. Die Innovationen müssten nicht nur an der Uni durchgeführt werden, sondern auch in der Schule: „Denn es sind die innovativen Lehrkräfte, welche im Zeitalter der Spezialisierung sicherstellen, dass das humboldtsche Bildungsideal der Einheit von Lehre und Forschung aufrechterhalten wird.“ (S. 17) Imboden beschreibt ein Problem von standardisierenden Methoden: Sie erforderten kein eigenständiges Denken, sondern nur die Fähigkeit des Auswendiglernens. Welche Art von Forschung wird künftig besonders wichtig sein? Imboden diskutiert verschiedene Formen und schließt, dass die zielgerichtete Forschung mit unbekanntem Lösungsweg die zukunftsträchtige sei. Schule könne und müsse dabei mithelfen.

Jürgen Oelkers - Interdisziplinäres Lernen im Fachunterricht? In ähnliche Richtung argumentiert auch Oelkers. Neues interdisziplinäres Wissen sollte an Schulen vermittelt werden, jedoch bleiben fachliche Abgrenzungen auch wichtig. Lehrende und Lernende mögen das einzelne Fach verstehen als flexibles, erweiterbares Gebilde für neues Wissen. Deshalb seien Fächer, Lehrpläne, Lehrkräfte und Lehrmittel wichtig und bisher kaum Gegenstand von Forschung ebenso wenig wie die Auswirkungen neuer Medien auf Lehrmittel.

Es sei wichtig, die Fähigkeit zum interdisziplinären Denken und Problemlösen zu fördern, sodass die Lernenden mehr über die Entstehung des Wissens erfahren als über das Wissen selbst.

Gabrielle von Büren-von Moos - Interdisziplinarität an Kantonschulen. Die Autorin kritisiert fachspezifisches Denken und ausschließliche Orientierung an messbarer Leistung. In der Interdisziplinarität könne man Multiperspektivität fördern; dadurch würden wesentliche Fähigkeiten zur Persönlichkeitsentwicklung gestärkt. Deshalb müsse die Interdisziplinarität als Gegengewicht zum engen disziplinären Denken gefördert werden. Interdisziplinarität ist in der Allgemeinen Maruritätsanerkennungsverordnung fest verankert. Die Autorin legt die Grundvoraussetzungen für deren erfolgreiche Umsetzung an Gymnasien dar.

Kathy Riklin - Die Bildungsdebatte ist erwünscht, ja nötig! Im Schulalltag tragen nach Ansicht von Riklin jegliche „bottom-up„-Initiativen zur interdisziplinären und politischen Bildung bei. Selbstverständlich bleibe aber auch der Fachunterricht wichtig. Es fehle den Lernenden jedoch oft an richtiger Einordnung ihres Basiswissens. Die Vernetzung und das Verstehen von Zusammenhängen seien oft erst mit zunehmenden Fachkenntnissen möglich.

Sabine Kappeler und Markus Lerchi - Akzentklasse Ethik/Ökologie: Neue Unterrichtsmodule und neue Herausforderungen. Die Autoren berichten von Praktiken des interdisziplinären und multiperspektivischen Lernens in der Schule wie z.B. von einer Akzentklasse Ökologie und Ethik. Ethik definieren sie als geistige Tätigkeit des Fragens und Zweifelns. Sie unterstützen nachhaltig den „bottom-up„- Ansatz aus der Schule heraus.

Teil 3: Empirische Forschung und Orientierungswissen

Michael Sommer - Historische Grenzgänger: Plädoyer für eine interdisziplinäre Geschichtswissenschaft. Sommer schreibt über die neueren Erkenntnisse der Geschichtswissenschaft, insbesondere die interdisziplinäre Geschichtsforschung. Lehrende müssten bei Lernenden das Interesse an größeren Zusammenhängen wecken.

Philipp Aerni - Interdisziplinarität an Schule und Universität: Das Fallbeispiel Geographie. Aerni diskutiert Ähnliches am Geographieunterricht. Anstatt Vermittlung und Diskussion von komplexen globalen Zusammenhängen werde Wissen in Form von Antagonismen vermittelt, welche jedoch nicht geeignet seien, die komplexen globalen Probleme des 21. Jahrhunderts anzugehen.

Teil 4: Technologie ermöglicht Forschung in der Schule

Catherine Näpflin und Fritz Oser - Gymnasien als interdisziplinäres Denksystem. Die Autoren beschreiben das Schulprojekt „Biotechnologie und Moral im Schulzimmer“. Die Frage der selbstständigen moralischen Urteilsbildung durch konkrete Erfahrungen im Versuchslabor wird untersucht. Die Autoren erfahren geringe Bereitschaft von Schule, u.a. wegen starrer Zeitvorgaben aus den Lehrplänen.

Eveline Bergmüller - Grüne Gentechnik an Schweizer Kantonschulen – Experimente und Diskussionen. Wie Näpflin und Oser schildert auch Bergmüller ihre Erfahrungen an diesem Forschungsprojekt. Sie plädiert für die Einrichtung von neuen Schullabors für besseres Kennenlernen der Methoden und Instrumente von Biotechnologie. Die sehr aufwendigen Labors könnten im Schulverbund geschaffen werden.

Hans Hinterberger - Das Potential des Computers im Schulunterricht

Hinterberger diskutiert das Potential der Informationstechnologie im Unterricht. Methoden wie E-Science, E-Education, E-Tutoring und E-Learning Tools sollen helfen, zunächst einmal Studierenden den Erwerb von notwendigen Kompetenzen für den Umgang mit einem Informationsarbeitsplatz zu ermöglichen. Auch an einigen Schulen werde E-Learning schon ansatzweise verwendet. Er sieht die Informationstechnologie als zentrales Mittel, Forschung an Schulen zu bringen und so zu verändern. Dieses ermögliche es den Lernenden, besser auf die Zukunft vorbereitet zu sein.

Zielgruppe

Zielgruppe ist eine breite Leserschaft von Bildungspolitikern, Erziehungswissenschaftlern, Sozialforschern, aber auch Studienseminaren, Schulaufsichtsbehörden, Schulleitungen, Lehrkräften sowie Lehrmittelverlagen.

Diskussion und Fazit

Das Buch ist sehr leserfreundlich gestaltet, indem es in der Einleitung und zu Beginn jedes Beitrags eine Zusammenfassung der Hauptargumente enthält. Die Einzelbeiträge sind alle von überschaubarer Länge.

Die zunehmende Wichtigkeit des interdisziplinären Lernens wird immer wieder in den theoretischen Diskussionen und in den sehr unterschiedlichen Beispielen den Lesenden verdeutlicht. Dadurch gibt der Sammelband interessante Impulse für verschiedene Zielgruppen aus der breiten Leserschaft.

Rezension von
Dr. Monika Wilkening
Tätigkeitsfeld: seit 32 Jahren Gymnasiallehrerin Klassen 5-13 für die Fächer Englisch und Französisch, Autorin von zahlreichen Fachaufsätzen und Fachreferentin, Rezensentin; Arbeitsschwerpunkte: schülerorientierte Unterrichtsformen im Fremdsprachenunterricht, Evaluation, insbes. Selbst- und Partnerevaluation, 2011 Promotion zur Doktorin der Philosophie an der Universität Augsburg. Praxisbuch zur Selbst- und Partnerevaluation (4/2013)

Es gibt 12 Rezensionen von Monika Wilkening.

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Zitiervorschlag
Monika Wilkening. Rezension vom 07.10.2011 zu: Philipp Aerni, Fritz Oser (Hrsg.): Forschung verändert Schule. Neue Erkenntnisse aus den empirischen Wissenschaften für Didaktik, Erziehung und Politik. Seismo-Verlag Sozialwissenschaften und Gesellschaftsfragen (Zürich) 2011. ISBN 978-3-03-777100-6. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/11852.php, Datum des Zugriffs 03.06.2023.


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