Susanne Brüggen, Kathrin Keller et al.: Zwischen Engagement und Professionalität
Rezensiert von Prof. Dr. Michael Vilain, 30.11.2012
Susanne Brüggen, Kathrin Keller, Achim Browziewski: Zwischen Engagement und Professionalität. Organisationsformen von Freiwilligenarbeit am Beispiel einer Initiative im Kanton Thurgau.
Seismo-Verlag Sozialwissenschaften und Gesellschaftsfragen AG
(Zürich) 2011.
155 Seiten.
ISBN 978-3-03777-098-6.
Reihe: Freiwilligkeit.
Thema
Zwischen Engagement und Professionalität. Organisationsformen von Freiwilligenarbeit am Beispiel einer Initiative im Kanton Thurgau
Autorinnen und Autor
Prof. Dr. Achim Brosziewski, Dr. Susanne Brüggen und Kathrin Keller sind Wissenschaftler/innen an der Pädagogischen Hochschule Thurgau (Schweiz).
Entstehungshintergrund
Die vorliegende Fallstudie wurde im Rahmen eines Forschungsprojektes an der Pädagogischen Hochschule Thurgau im gleichnamigen Kanton im Zeitraum von März 2007 bis Februar 2009 erstellt.
Aufbau
Das Buch stellt im Kern eine Fallstudie am Beispiel der reaktivierten Komturei Tobel im Thurgau dar. Es gliedert sich in sieben Kapitel:
- Einleitung
- Komturei Tobel: Freiwilligenarbeit als Honoratiorentätigkeit
- Workcamp Switzerland: Freiwilligenarbeit als Volunteering
- Stiftung Zukunft: Freiwilligenarbeit als Lernarbeit
- Entwurf einer Typologie von Formen der Freiwilligenarbeit
- Vergleich mit einer städtischen Initiative: Das Haus der Eigenarbeit (HEi) in München
- Fazit und Ausblick: Biographische Unbestimmtheit, soziale Praxis und die Organisation von Freiwilligenarbeit
Inhalt
Seit vielen Jahren weisen Wissenschaft und Praxis im Bereich des Freiwilligenengagements auf einen Strukturwandel im Ehrenamt hin. Die Motivlagen verschöben sich dabei weg von religiös-moralischen Vorstellungen hin zu instrumentell-individualistischen. An dieser Stelle setzt die vorliegende Untersuchung an und stellt die Frage nach der Organisationsform von Freiwilligenarbeit unter derart veränderten Rahmenbedingungen. Im Mittelpunkt steht dabei das Konzept der „biographischen Passung“, in dessen Kern es um die Überwindung biographischer Unbestimmtheit durch soziales Engagement in Richtung auf Selbst- statt Fremdbestimmung geht. Auf diese Weise wird die Aufmerksamkeit weg von überindividuellen Erfolgsmotiven wie Geld, Karriere oder Macht auf die persönliche Lebenssituation des Engagierten gelenkt. In Anlehnung an Corsten et al. (2008) wird angenommen, dass es soziale Praktiken (z.B. Freiwilligenarbeit) gibt, die eine Bedeutung für individuelle Biografien bekommen oder auch wieder verlieren können (vgl. S. 10). Solche biographischen Passungen sind demnach instabil und flüchtig. Was gerade noch als sinnhaft und passend wahrgenommen wird, kann bald schon als belastend und behindernd empfunden werden. Organisationen bieten als Rahmen für erfolgreiches Handeln und dessen Verstetigung sichere Erwartungsstrukturen im Sinne einer Infrastruktur, die sich anhand von Programmen, Kommunikationswegen und Personen identifizieren lassen. Allerdings stehen sie zugleich der erforderlichen Beweglichkeit biographischer Entwicklungen entgegen. Damit lässt sich die Kernfrage der vorliegenden Arbeit identifizieren: Wie gelingt es, Freiwillige unter diesen veränderten Bedingungen zu gewinnen und biographische Orientierungsmuster und soziale Praktiken durch entsprechende organisationale Gelegenheitsstrukturen zu verknüpfen (vgl. S. 22)? In welchem Verhältnis stehen dabei Engagement und Professionalisierung? Als Untersuchungsdesign wurde die Fallstudienmethodik gewählt. Im Rahmen einer Methodentriangulation aus Dokumentenanalyse, teilnehmender Beobachtung und (teilweise biographischen) Interviews wird die Wiederbelebung eines alten Komtureigeländes im Kanton Thurgau untersucht (vgl. Kapitel 1). Dazu werden zunächst die wesentlichen Akteure vorgestellt. Dies sind die Stiftung und der Verein Tobel, der Verein Workcamp Switzerland und die Stiftung Zukunft. Den Aktivitäten in jeder Organisation wird eine idealtypische Form des Engagements zugewiesen.
Alle Aktivitäten rund um die Komturei dienen dem Ziel des Wiederaufbaus und der Bewirtschaftung eines kantonalen Gebäudekomplexes (Kapitel 2). Dieses beherbergte ursprünglich eine Niederlassung des Johanniter-Ordens (Komturei), dann ein kantonales Gefängnis und stand schließlich mehr als 30 Jahre leer. Mehrere Privatisierungsversuche blieben erfolglos. Der Verein Tobel diente der Vorbereitung eines kantonalen Beschlusses zur Gründung einer neuen Trägerstiftung. Befürworter haben sich hier unter Beteiligung der Gemeinde Tobel versammelt und um Unterstützung für das Vorhaben geworben. Die Stiftung Komturei Tobel wurde zwei Jahre später vom Kanton Thurgau mit einem Stiftungskapital von 2,9 Mio. Franken errichtet. Die Erträge des Stiftungskapitals werden zweckgebunden für die Wiederbelebung der Komturei verwendet. Die Arbeit der Freiwilligen findet in beiden Organisationen im Wesentlichen innerhalb formalisierter Organisations- und Gremienstrukturen statt. Sie wird von den Autoren als „Honoratiorentätigkeit“ bezeichnet, welche durch ein vergleichsweise hohes Maß an Sozialkapital und Netzwerkpotenzialen gekennzeichnet ist. Die Ehrenamtlichen sind überwiegend lokale und kantonale Prestigeträger, die umfangreiche Gestaltungs- und Mitwirkungsmöglichkeiten einfordern. Diese Möglichkeiten seien trotz Abhängigkeit von staatlichen Auftraggebern und gegebenen institutionellen Rahmenbedingungen vergleichsweise groß.
Ein weiterer wichtiger Akteur ist Workcamp Switzerland (Kapitel 3). Der Verein war in der ursprünglichen Planung für die Komturei nicht vorgesehen, ist jedoch eine wichtige Form des Engagements und der Unterstützung geworden. Er organisiert einen internationalen Austausch von schweizerischen und ausländischen Jugendlichen, die für mindestens zwei Wochen an aufgabengebundenen Workcamps teilnehmen. Auf diese Weise wird Jugendlichen nicht nur ein wichtiges Feld für Lernerfahrungen bereit gestellt, es konnten auch Renovierungs- und Gartenarbeiten für die Komturei geleistet werden. Die Jugendlichen tragen die Anreise sowie einen Teilnahmebeitrag selbst. Unterkunft und Verköstigung werden von den jeweiligen Partnern vor Ort zur Verfügung gestellt und das Engagementmatching übernimmt der von Sponsorengeldern abhängige Verein. Die umfangreichen Abhängigkeiten von anderen führen nach Ansicht der Autoren zu einem professionellen Verständnis von Freiwilligenmanagement. Die Arbeit in den Camps ist durch Partizipation und Selbstorganisation geprägt. Das als Volunteering bezeichnete Engagement ist punktuell, projektgebunden und unverbindlich.
Der letzte in der Untersuchung eingeschlossene Akteur ist die Stiftung Zukunft (Kapitel 4). Sie ist als Partnerorganisation von Anfang an eingebunden. Die Stiftung ermöglicht es arbeitslosen Jugendlichen im Rahmen von Beschäftigungsprogrammen oder eines „Motivationssemesters“, einer beruflichen Tätigkeit oder Ausbildung nachzugehen. Da diese Maßnahmen von staatlichen Sanktionen für die Jugendlichen begleitet werden, haben die Tätigkeiten eher Pflichtcharakter. Sie werden daher als „interessanter Grenzfall“ (vgl. S.20) für die Analyse des Engagements verstanden. Die Stiftung hat sich aufgrund unterschiedlicher Begleitumstände zusehends aus der Arbeit zurückgezogen. Die zugeordnete Engagementform wird als (verordnete) Lernarbeit definiert. Im Gegensatz zum Volunteering gehe es dabei um die Herstellung einer Alltäglichkeit. Die Maßnahmen haben stark pädagogischen Charakter und seien in hierarchische Strukturen und monotone Abläufe eingebunden, die nicht selten Motivations- und Disziplinprobleme zur Folge hätten.
Im Ergebnis werden die drei Engagementformen in einer „Typologie von Formen der Freiwilligenarbeit“ weiter ausdifferenziert und abgegrenzt (Kapitel 5). Die Honoratiorentätigkeit bezeichnet dabei „ein Engagement, das stark traditional geprägt ist und als Ehrenamt dem Gemeinwohl dient.“ (S. 111) Das Volunteering hingegen ist „als soziale Praxis klar befristet angelegt und jeweils thematisch fokussiert (z.B. Umwelt, Kinder) (S. 114) Bei der „Lernarbeit“ handelt es sich um Simulationen erwerbswirtschaftlicher Arbeitsformen im Rahmen von Beschäftigungsmaßnahmen. Alle Formen werden tabellarisch anhand von vier Dimensionen beschrieben: Form, Identitätsrahmen und biographische Orientierung, Soziale Praxis und Konflikte.
Da die Fallstudie durch die typischen Gegebenheiten im ländlichen Raum geprägt ist, stellt sich die Frage, ob und inwiefern die Ergebnisse auch auf urbane Regionen übertragbar sind. Zu diesem Zweck wird ein Vergleich mit einer städtischen Initiative, dem Haus der Eigenarbeit (HEi) in München vorgenommen (Kapitel 6). Dabei handelt es sich um einen etablierten offenen Treffpunkt für Bürger mit unterschiedlichsten Projekten und Angeboten, vor allem auch im handwerklichen Bereich. Hier sollen Teamarbeit und wechselseitige Hilfe initiiert und partielle ökonomische und soziale Subsistenzstrukturen aufgebaut werden (vgl. S. 124). Insgesamt zeige sich als Ergebnis des Vergleichs, dass es sich bei der Honoratiorentätigkeit „am ehesten um eine spezifisch ländliche Form von Freiwilligenarbeit handelt“ (S. 147), das von lokalen Eliten ausgeübt wird. Dies wird auf die spezifische, weniger professionalisierte Art des Engagements zurückgeführt, die unter anderem aus der Vermischung von Erwerbsleben, Öffentlichkeit, Freizeit und Privatheit resultiert. Volunteering und Lernarbeit seien ihrem Wesen nach eher urbane Formen des Engagements, obwohl sie den Strukturen des ländlichen Raums nicht grundlegend widersprächen.
Im abschließenden Fazit (Kapitel 7) werden die Ergebnisse noch einmal zu einer zentralen Aussage gebündelt, welche die eingangs getroffenen Überlegungen wieder aufnimmt: „Organisationen, die sich auf Freiwilligenarbeit gründen, verstetigen und ausdifferenzieren wollen, müssen ihre eigenen Strukturen so einrichten, dass Passungen von Biografie und Praxis möglich sind und als Anreize die klassischen Motivationsmittel Geld und Recht ersetzen können.“ (S. 150)
Diskussion
Die vorliegende Fallstudie analysiert und typologisiert Formen des freiwilligen Engagements. Im Kern wird dabei eine Differenzierung in drei Engagementtypen vorgenommen: Honoratiorentätigkeit, Volunteering und Lernarbeit. Die Definitionen und Differenzierungskriterien bleiben dabei allerdings etwas unscharf. Was beispielsweise mit „traditional“ bei der Definition von Honoratiorentätigkeit gemeint ist und ob damit das im ersten Kapitel als „altes“ Ehrenamt titulierte Engagement auf der Grundlage religiös-moralischen Handelns angesprochen wird, bleibt offen. Wenn diese Form des Ehrenamts – wie in der Typologie als Charakteristikum angenommen – dem Gemeinwohl dient, ist dies dann beim Volunteering nicht der Fall? Letzteres wurde als soziale Praxis definiert, welche klar befristet angelegt und jeweils thematisch fokussiert ist. Das dürfte jedoch als Kriterium kaum ausreichen, um sich von der Honoratiorentätigkeit abzugrenzen. So gibt es beispielsweise regelmäßig Gremienpositionen, die durch Satzung befristet und thematisch eng fokussiert sind. Wäre dies dann auch Volunteering oder ist Volunteering generell gleichzusetzen mit Projektarbeit? Es will sich auch nicht so recht erschließen, warum Honoratiorentätigkeit nur biographisch bedingt sein soll und nicht etwa auch ökonomisch – zumal auf die enge Verschränkung von Ehrenamt und Erwerbsarbeit in ländlichen Regionen ja ausdrücklich verwiesen wird. Honoratiorentätigkeiten erfüllen gerade dort unterschiedlichste Funktionen, können der (politischen) Karriere oder der Auftrags- oder Einkommenssicherung dienen und können auch dienstlich begründet sein, wenn beispielsweise Bank- oder Kommunalvertreter in bestimmten Gremien entsandt werden, um dort die jeweiligen Interessen zu vertreten.
In weiten Teilen der Ehrenamtsliteratur herrscht bei allen Unterschieden doch Einigkeit darüber, dass sich Freiwilligenarbeit ganz im Sinne der Wortbedeutung über die Freiwilligkeit des Engagements bestimmt. Ob „Lernarbeit“ von verpflichteten Jugendlichen in Beschäftigungsmaßnahmen überhaupt zur Freiwilligenarbeit gerechnet werden kann, wird daher zu Recht hinterfragt (vgl. S. 118). Umso erstaunlicher ist es dann, dass über die Auszahlung eines Tagesgeldes an die Jugendlichen, eine „hergestellte Freiwilligkeit“ angenommen wird oder die Freiwilligkeit in der Akzeptanz gesellschaftlicher Zuschreibungen von unterstelltem Motivationsmangel der Jugendlichen gesehen wird: „Die ’Freiwilligkeit´ bezieht sich primär darauf, diese Zurechnung anzuerkennen und sich der Massnahme [sic] zu unterziehen […]“ (S. 118). Die Einbeziehung dieser Gruppe in die zu erstellende Typologie erstaunt umso mehr, als ja zuvor gerade rechtliche und monetäre Anreize als Gegenmodell zur Freiwilligenarbeit konstruiert wurden. „Lernarbeit“ könnte somit ganz gegen die Lesart der Autoren geradezu als Paradebeispiel gegen das Konzept der biografischen Passung und für Motivation durch Recht und Geld verstanden werden.
Die abschließende Tabelle mit der Typenbildung kann hier auch nur begrenzt weiterhelfen. Die darin erwähnten Stichpunkte sind nur teilweise ausgeführt und nicht immer selbsterklärend. Die Abgrenzungen zwischen den Typen von Freiwilligenarbeit sind einerseits nicht überschneidungsfrei und lassen andererseits Leerstellen offen. Was ist beispielsweise damit gemeint, wenn Lernarbeit mit dem Stichwort „ökonomisches Kapital“ und Honoratiorentätigkeit mit „sozialem Kapital“ beschrieben wird? Geht es um eine Input- oder Outputbetrachtung? Und warum sollte Lernarbeit nicht auch soziales Kapital produzieren oder erfordern?
Mit der Auswahl des Konzeptes der biografischen Passung als zentralem Erklärungsmodell wurde ein vergleichsweise offener Zugang zum Thema Engagementmotivation gewählt und mit überindividuellen Erfolgsmotiven wie Geld, Macht oder Recht kontrastiert (vgl. S. 9). Diese Dichotomie wird allerdings nicht näher begründet. Unklar bleibt auch, wie sich die in Theorie und Empirie als zentral identifizierten Engagementmotive wie zum Beispiel „Spaß haben“, „nette Menschen kennenlernen“ in den Kontext der Arbeit einordnen lassen. Damit geht ein Stück Anschlussfähigkeit an die Fachdebatte verloren.
Fazit
Eine Fallstudie zum Thema „Freiwilligenarbeit und biographische Passung“, die ganz nebenbei einen spannenden Einblick in bürgerschaftliche Aktivitäten an den Rückzugsorten des Staates gibt. Damit leistet das Buch einen Beitrag zur Erschließung der vielgestaltigen Formen von Engagement. Die dargestellte Typologie der Engagementformen bleibt jedoch letztlich vage und lässt Fragen offen.
Rezension von
Prof. Dr. Michael Vilain
Evangelische Hochschule Darmstadt
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Zitiervorschlag
Michael Vilain. Rezension vom 30.11.2012 zu:
Susanne Brüggen, Kathrin Keller, Achim Browziewski: Zwischen Engagement und Professionalität. Organisationsformen von Freiwilligenarbeit am Beispiel einer Initiative im Kanton Thurgau. Seismo-Verlag Sozialwissenschaften und Gesellschaftsfragen AG
(Zürich) 2011.
ISBN 978-3-03777-098-6.
Reihe: Freiwilligkeit.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/11854.php, Datum des Zugriffs 25.01.2025.
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