Barbara Keddi: Wie wir dieselben bleiben
Rezensiert von Dipl. Päd. Anke Wischmann, 22.07.2011
Barbara Keddi: Wie wir dieselben bleiben. Doing continuity als biopsychosoziale Praxis.
transcript
(Bielefeld) 2011.
315 Seiten.
ISBN 978-3-8376-1736-8.
32,80 EUR.
CH: 47,90 sFr.
Reihe: Pädagogik.
Thema
Barbara Keddi geht in ihrem Buch der Frage nach, inwiefern, neben dem aktuellen Diskurs des Umgangs mit Diskontinuität, Brüchen und Unwägbarkeiten, die Bedeutung der Herstellung von Kontinuität relevant ist und bleibt. Dabei verfolgt sie einen multiperspektivischen Ansatz, der Perspektiven der Neuropsychologie, der Persönlichkeitspsychologie, der Biografie- und der Identitätsforschung berücksichtigt und füreinander fruchtbar macht.
Autorin
Die Autorin forscht am Deutschen Jugendinstitut in München und lehrt - ebenfalls in München - an der Ludwig-Maximilians-Universität. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Familien- und Genderwissenschaften sowie interdisziplinäre Entwicklungs- und Biografieforschung.
Entstehungshintergrund
Es handelt sich bei dem Buch um die Habilitationsschrift von Barbara Keddi, in der sie systematisch der Frage der Herstellung von Kontinuität(en) in Biografie und Lebenslauf nachgeht. Wie sie schreibt, sollte es zunächst um den Umgang mit Diskontinuität gehen. Im Laufe der Forschungsarbeit hat sich jedoch herausgestellt, dass das (aktuell eher vernachlässigte) Thema des „doing continuity“ von unterschätzter Bedeutung ist. Diese Erkenntnis ergab sich aus Arbeit in multidisziplinären Zusammenhängen wie der Biografieforschung und neurologischer Forschung.
Aufbau
Das Buch ist in drei Abschnitte untergliedert.
- Im ersten Teil werden konzeptuelle Überlegungen zur Praxis des „doing continuity“ angestellt, die zunächst in der Einleitung von einer sozialwissenschaftlichen Perspektive ausgehen. Im ersten Kapitel werden dann die Koordinaten und Arbeitsbegriffe, nämlich Personale Kontinuität, Herstellungspraxis und Multiperspektivität, erläutert, die gleichsam die weitere Herangehensweise an die Thematik bestimmen.
- Im zweiten Teil, der Empirischen Spurensuche, die vier Kapitel umfasst, rekonstruiert Keddi die Mechanismen und Praktiken der Herstellung von Kontinuität in unterschiedlichen disziplinären Kontexten: der Biografieforschung, der Neuropsychologie, der Persönlichkeitspsychologie sowie der Sozialwissenschaft, Sozialpsychologie und der Kulturwissenschaft.
- Der letzte Teil ist gleichzeitig das letzte Kapitel und hier entwirft Keddi einen multiperspektivischen Zugang zum „doing continuity“, dessen Anspruch es ist, die zuvor diskutierten Ansätze zu verknüpfen, ohne sie gegeneinander zu stellen oder ihre Unvereinbarkeiten zu ignorieren.
Inhalt
Kontinuität, so Keddi, habe keine Konjunktur (S. 9). Warum sie dennoch dieses Buch geschrieben hat, legt sie in der Einleitung dar, indem sie darauf hinweist, dass gerade angesichts gegenwärtiger Unsicherheiten und Unwägbarkeiten die Praxis der Herstellung von Kontinuität, also des „doing continuity“, von besonderer Relevanz sei. Die Frage ist jedoch, wie genau dies geschieht und hier gibt es Antworten in unterschiedlichen Disziplinen. Dass diese Antworten durchaus in Zusammenhang zu bringen sind, zeigen zwei grundlegende, übergreifende Befunde (S. 13), nämlich dass Kontinuität immer einem ständigen Herstellungsprozess unterläge, egal ob z. B. im Gehirn oder bezüglich der Identitätsbildung, und dass eine unidirektorale, unilineare und unidimensionale Perspektive nicht ausreichen könne, um diese Prozesse zu untersuchen. Damit sind die formulierten Ziele des Buches zum einen die Rekonstruktion der komplexen und dynamischen Praxen des „doing continuity“ und zum anderen die Entwicklung eines „empirisch gesättigte[n], handlungsbezogene[n] Forschungsprogramm[s] als Anregung auf dem Weg zu einer multiperspektivischen [...], postdisziplinären‘ „doing continuity“ (S. 15).
Im ersten Kapitel geht es Keddi um eine präzise Bestimmung von Begriffen und Koordinaten. Damit geht sie einen Weg, der sich vom Gros systematischer Abhandlungen unterscheidet, indem nicht konkrete Theoriekonzepte als heuristische Rahmenkonstrukte vorgestellt werden, sondern im Sinne einer multiperspektivischen Herangehensweise in unterschiedlichen Disziplinen relevante Begriffe aufgenommen und in ihren diversen Bedeutungen vorgestellt werden. Hierbei geht es vor allem um die Rekonstruktion der Ideen von Kontinuität einerseits und Wandel andererseits sowie die Möglichkeiten der Einnahme einer multiperspektivischen Position als Forschende. Indem Keddi in dieser Weise verfährt, kann sie zeigen, dass die aktuelle Rede von der Priorität des Wandels heute und der der Kontinuität früher, zu differenzieren ist, den es gilt immer das historisch je spezifische Verhältnis von beidem in den Blick zu nehmen. Grundsätzlich wird davon ausgegangen, dass Kontinuität in sozialen Kontexten in vielfältiger Weise hergestellt wird, was anhand konstruktivistischer, agency-basierter und praxeologischer Theorien verdeutlicht wird.
Im Anschluss an die Auslotung der Begriffe und Koordinaten von Kontinuität folgt im zweiten Teil (und in den folgenden vier Kapiteln) eine empirische Spurensuche nach Herstellungspraxen derselben. Die Spurensuche beginnt im Bereich der Biografieforschung (Kapitel 2). Hier zeigt Keddi, dass sich die Biografie immer als ein Prozess der (Wieder-)Herstellung von Kontinuität angesichts erfahrener Brüche und Unsicherheiten im Kontext personaler Identität verstehen lässt. Oder anders gesagt: die Einpassung neuer Erfahrungen in gegebene Lebensthemen und -entwürfe entpuppt sich immer wieder als Normalität, auch wenn sich die Lebensthemen und -entwürfe selbst im Laufe des Lebens (wiederum kontinuierlich) transformieren. Im nächsten Schritt (Kapitel 3) werden die Ergebnisse neuerer neuronaler Forschung in Bezug auf die Herstellung von Kontinuität präsentiert. Es wird dabei herausgestellt, dass sich das Gehirn individuell in Auseinandersetzung mit der Umwelt als physikalisch-physiologischer Prozess entwickelt und als solcher bestehen bleibt. Innerhalb dieses Prozesses wird das (autobiografische) Gedächtnis als die Instanz bezeichnet, die permanent - angesichts der bruchstückhaften Gestalt von Wissen - Kontinuität herstellt. Das autobiografische Gedächtnis entwickle sich jedoch erst verhältnismäßig spät, im Alter zwischen drei und sechs Jahren. Dies erkläre auch, warum sich Erwachsene später nicht mehr an ihre frühe Kindheit erinnern bzw. diese in die Kontinuität ihrer Biografie integrieren könnten. Das autobiografische Ich, das der Kontinuität bedarf, bilde darüber hinaus eine „soziale Institution“ (S. 133), die das Funktionieren gesellschaftlichen Zusammenlebens ermöglicht und stabilisiert. Keddi spricht vom „Gehirn als Beziehungsorgan“ (S. 135ff), das permanent das Verhältnis von Subjektivität und Umwelt herstellt. Personale Kontinuität wird demnach nicht nur biografisch, sondern auch neuronal hervorgebracht. Wie diese personale Kontinuität im Kontext von psychologischen Persönlichkeitstheorien theoretisch und empirisch gefasst wird, diskutiert Keddi im Anschluss (Kapitel 4). Dabei wird grundlegend differenziert zwischen strukturalen und prozessualen Perspektiven auf Persönlichkeit. Die prozessuale Sichtweise erweist sich als angemessener, weil sich gezeigt hat, dass Persönlichkeit sich im Lebensverlauf dynamisch darstellt und dass sich selbst als stabil angenommen Persönlichkeitsmerkmale grundlegend verändern können. Auch hier zeigt sich, dass Kontinuität nicht gegeben und stabil ist, sondern ihre Hervorbringung selbst Teil der Persönlichkeit ist. Dieser Prozess vollziehe sich immer in intersubjektiven Kontexten, als soziale Praxis (Kapitel 5). Es wird insbesondere auf Identitätsbildungsprozesse hingewiesen, wobei Identität im Duktus der bisherigen Ausführungen prozessual und gleichzeitig auf (soziale) Strukturen bezogen verstanden wird. Keddi stellt die ihrer Ansicht nach relevanten Praktiken der Identitätsherstellung vor, die immer auch personale Kontinuität hervorbrächten.
Im letzten Abschnitt (Kapitel 6) präsentiert die Autorin im Anschluss an die empirische Spurensuche ein multiperspektivisches Konzept von „doing continuity“ als biospsychosozialer Praxis. Als Fazit stellt Keddi heraus, dass die Herstellung von Kontinuität aus allen angesprochenen disziplinären Perspektiven (weiterhin) von größter Relevanz sei. Außerdem weist sie darauf hin, dass der Mensch immer sowohl als körperliches als auch als psycho-soziales Wesen zu verstehen sei, in dessen Handeln sich „Konvergenzzonen“ (242) der unterschiedlichen disziplinären Bezüge zeigen. In diesem Sinne setzt sich die Autorin in diesem letzten Kapitel mit den Schnittmengen der verschiedenen disziplinären Zugänge zum „doing continuity“ als alltäglicher Praxis auseinander. Gerade angesichts sich zuspitzender Kontingenz werde Kontinuität zu einer grundlegenden Ressource für individuelle und soziale Lern- und Bildungsprozesse, denn die Bewältigung von Neuem bedürfe des Bezugs auf Bekanntes und Beständiges.
Diskussion
Barbara Keddi nimmt in Ihrem Buch ein aktuell eher vernachlässigtes Thema auf und unterstreicht dessen Bedeutung für die Bildung personaler Identität und Subjektivität. Dabei wird jedoch keine oppositionelle Position gegenüber Theorien des Wandels eingenommen. Vielmehr stellt Keddi heraus, dass gerade die wachsende Brüchigkeit und Kontingenz von Lebensverläufen die permanente Herstellung von Kontinuität auf unterschiedlichen Ebenen erfordert.
Überzeugend sind vor allem die Versuche, die theoretischen Überlegungen immer an empirische Befunde und Studien aus unterschiedlichen Bereichen rückzubinden. So gelingt es Keddi die Praxis des „doing continuity“ aufzuzeigen. Im Hinblick auf weitere empirische Studien wäre somit eine Verknüpfung der Perspektiven bereits im Forschungsprozess wünschenswert, wobei sich noch zeigen müsste, ob hier multidisziplinäre Perspektive praktikabel wäre und welche Widersprüche sich u. U. ergeben könnten.
Fazit
Das Buch bietet einen wichtigen, in letzter Zeit vernachlässigten, Einblick in die Bedeutung von Beständigkeit und Kontinuität für Subjektivität. Dabei bleibt Keddi nicht auf der Ebene des Appells stehen, sondern rekonstruiert anhand vielfältiger Bezüge die konkreten Praxen der Herstellung von Kontinuität. Die Darstellungen leisten einen wichtigen Beitrag für die Bildungs- Entwicklungs- und Sozialisationsforschung und sind damit für einschlägige Wissenschaftler unbedingt zu empfehlen.
Rezension von
Dipl. Päd. Anke Wischmann
Carl von Ossietzky Universität Oldenburg
Fakultät 1
Institut für Pädagogik
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Es gibt 3 Rezensionen von Anke Wischmann.
Zitiervorschlag
Anke Wischmann. Rezension vom 22.07.2011 zu:
Barbara Keddi: Wie wir dieselben bleiben. Doing continuity als biopsychosoziale Praxis. transcript
(Bielefeld) 2011.
ISBN 978-3-8376-1736-8.
Reihe: Pädagogik.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/11873.php, Datum des Zugriffs 11.09.2024.
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