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Jens Wassenhoven: Europäisierung deutscher Migrationspolitik

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 14.11.2011

Cover Jens Wassenhoven: Europäisierung deutscher Migrationspolitik ISBN 978-3-8300-5390-3

Jens Wassenhoven: Europäisierung deutscher Migrationspolitik. Policy-Wandel durch Advocacy-Koalitionen. Verlag Dr. Kovač GmbH (Hamburg) 2011. 425 Seiten. ISBN 978-3-8300-5390-3. 98,00 EUR.
Schriftenreihe Schriften zur Europapolitik - Band 11.

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Migration als internationales Phänomen

Dass Wanderungsbewegungen in der Menschheitsgeschichte keine neuartigen und überraschenden Entwicklungen sind, wird im Zusammenhang mit dem Diskurs um Migrationspolitik und -forschung immer wieder betont. Die Motive, warum Menschen ihre Heimat verlassen, um in der Fremde zu leben, sind so vielfältig wie ihre Lebensbedingungen, Hoffnungen, Bedürfnisse und Wünsche. In der Migrationsforschung wird von Push- und Pull-Faktoren gesprochen, wenn nach den Ursachen gefragt wird, warum Menschen (aus-) wandern. Der marokkanische, in Paris lebende Schriftsteller Tahar Ben Jelloun lässt die jungen Marokkaner klagen, die sich auf die abenteuerliche und lebensgefährliche Flucht hin zum „europäischen Paradies“ begeben, um „die heimatliche Erde zu verlassen, denn oft ist sie nicht reich genug, liebt uns nicht ausreichend, gibt nicht genug her, um uns dazubehalten“ (Tahar Ben Jelloun, Verlassen, 2006, www.socialnet.de/rezensionen/4393.php).

Im deutschen Migrationsdiskurs verdeutlichen sich das Auf und Ab der gesellschaftlichen Befindlichkeiten, Fremdenfeindlichkeit und Empathie, öffentliche Meinungsbildung und Demagogie, Für und Wider einer sich öffnenden oder geschlossenen Gesellschaft. Die Auseinandersetzungen über die jahrzehntelang geführte Frage, ob Deutschland ein Einwanderungsland sei oder keins, belastet bis heute die gesellschaftliche Diskussion, und die rassistisch, nationalistisch und fremdenfeindlich daher kommenden Parolen – „Das Boot ist voll“ und „Deutschland den Deutschen“ – sind noch nicht überwunden; auch nicht angesichts der lokalen und globalen Entwicklung, und schon gar nicht bei Berücksichtigung der demografischen und wohlstandsorientierten Aspekte. Immerhin: Insbesondere in der Migrationsforschung werden seit ein paar Jahren Schneisen in die allzu tumben Meinungsauswüchse geschlagen; etwa die Frage, wie eine humane und gerechte Flüchtlingsbetreuung aussehen solle (Verein Flüchtlingsbetreuung nach dem Münchner Modell e.V., Hrsg., Flüchtlingsbetreuung im Sammellager „mit Sonderaufgaben“, 2003, in: www.socialnet.de/rezensionen/1228.php), der Situation von „illegalen“ Migranten (Jörg Alt, Leben in der Schattenwelt. Problemkomplex „illegale“ Migration, 2004, www.socialnet.de/rezensionen/1672.php), zum Aspekt der Kriminalisierung von Migration ( Klaus Jünschke / Bettina Paul, Hrsg., Wer bestimmt denn unser Leben? Beiträge zur Entkriminalisierung von Menschen ohne Aufenthaltsstatus, 2005, www.socialnet.de/rezensionen/2816.php ), zur Tragödie der Bootsflüchtlinge (Gefährlicher Transit. Die afrikanische Wanderung nach Europa, 2006, www.socialnet.de/rezensionen/3987.php), zu den Wanderungsbewegungen an den Grenzen Europas (Transit Migration Forschungsgruppe, Hrsg., Turbulente Ränder. Neue Perspektiven auf Migration an den Grenzen Europas, 2007, www.socialnet.de/rezensionen/6650.php), Auseinandersetzungen über die physischen und psychischen Folgen von Migration (Sigrid Scheifele, Hrsg., Migration und Psyche. Aufbrüche und Erschütterungen, 2008, www.socialnet.de/rezensionen/6112.php), der Aufruf zur Toleranz (Paul Scheffer, Die Eingewanderten. Toleranz in einer grenzenlosen Welt, 2008, www.socialnet.de/rezensionen/7124.php), Einstellungsuntersuchungen über die Migrationsthematik (Judith Schicklinski, Migration und europäische Zuwanderungspolitik, 2009, www.socialnet.de/rezensionen/8921.php), zur Frage der Integrationssituation von türkischen Migrantinnen und Migranten in Deutschland, Großbritannien und Australien (Nilüfer Keskin, Probleme der Integration türkischer Migranten…, 2010, www.socialnet.de/rezensionen/11975.php), kulturwissenschaftliche Perspektiven, 2011 (www.socialnet.de/rezensionen/12023.php), der kulturelle Gesichtspunkt (Marie-Hélène Gutberlet / Sissy Helff, Hrsg., Die Kunst der Migration…, 2011 (www.socialnet.de/rezensionen/11665.php), und nicht zuletzt das Einlassen darauf, dass unsere (Eine?) Welt sich immer interdependenter und entgrenzender entwickelt (Dirk Lange, Hrsg., Entgrenzungen. Gesellschaftlicher Wandel und politische Bildung, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/12192.php).

Entstehungshintergrund und Autor

Migration ist grenzüberschreitend, sowohl in individueller und gesellschaftlicher Hinsicht, als auch räumlich betrachtet. Zwar stellen statistisch und weltweit betrachtet, die „Binnenflüchtlinge“ die größte Zahl bei den Wanderungsbewegungen, doch das europäische Augenmerk ist überwiegend auf die Einwanderer gerichtet, die aus außereuropäischen Ländern in den „gelobten und verheißungsversprechenden Kontinent“ gelangen. Dieses Europa, insbesondere in der institutionalisierten Form der Europäischen Union (EU), unternimmt, genau wie die einzelnen europäischen Länder, eine Reihe von Anstrengungen, um die Migrationsbewegungen zu steuern, gesetzlich zu regeln und zu begrenzen. So gelten mittlerweile, neben den nationalen, die europäischen Grenzen, wie sie im Schengener Abkommen von 1985 und den Folgevereinbarungen geregelt werden. Die „Europäisierung der Migrationspolitik“ hat auch auf die deutsche Einwanderungspolitik erhebliche Auswirkungen.

Wie sich die EU-Vorstellungen und Regelungen auf die deutsche Migrationspolitik auswirken, welche Einflüsse von den deutschen, nationalen Rechts- und Politikauffassungen auf die europäische Politik ausgehen und umgekehrt, ist eine Frage, die bisher eher fragmentarisch und auf bestimmte Fälle bezogen diskutiert wird. Der an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen Politikwissenschaft studierende Jens Wassenhoven hat sich in seiner Dissertation damit beschäftigt, wie sich der europäisierte „Policy-Wandel“ auf die deutsche Migrationspolitik auswirkt. Die Übernahme der englischsprachigen Begrifflichkeiten „Policy“ und „Politics“ in den deutschen, politikwissenschaftlichen Forschungsdiskurs ist der Tatsache geschuldet, dass mit ersterem Begriff die politischen Systeme und die Institutionen im Ganzen eindeutiger analysiert und mit letzterem die Prozesse und Initiativen der politisch Handelnden grundlegender thematisiert werden können. Die Einflussnahme und Wirkungen von theoretischen und praktischen Maßnahmen auf die Politikfelder in den EU-Staaten werden u. a. in den migrationspolitischen Aktivitäten deutlich, aber von den nationalen Gesellschaften meist nicht in objektiver Weise wahr genommen. Ziel der politikwissenschaftlichen Arbeit ist es deshalb, unter Zugrundelegung des zu Beginn der 1990er Jahre entwickelten Europäisierungsansatzes und der Berücksichtigung der unterschiedlichen Kategorisierungen – Europäisierung als geographische Expansion, Europäisierung als bottom-up-Prozess, Europäisierung als Mehrebenen-Governance-System, Europäisierung als Instrument, Europäisierung als politisches Projekt – den dynamischen Prozess der Europäisierung herauszuarbeiten, und mit dem Forschungsansatz des Advocacy Coalition Framework (ACF) untersucht. Dem ACF liegt die Annahme zugrunde, dass Politikhandeln in spezifischen Politikfeldern, wie z. B. der europäisierten Migrationspolitik, ausgeht von individualisierten und institutionalisierten Akteuren und eingehütet ist in ein Netzwerk von zweckorientierten Informationen, das zum policy-orientiertem Lernen führt und den Policy-Wandel erklärbar macht

Aufbau und Inhalt

Jens Wassenhoven geht davon aus, dass „die Europäisierung eine Hauptursache für Policy-Wandel in der deutschen Migrationspolitik war“ (und ist!). Er analysiert dabei die „Entwicklung der deutschen und der europäischen Migrationspolitik und ihr Zusammenspiel“ in den letzten zehn Jahren, bis zum Dezember 2009.

Neben der Einleitung, in der der Autor den aktuellen Stand zur europäischen Migrationsforschung darstellt, den Aufbau der Arbeit erläutert und das konzeptionelle und methodische Vorgehen aufzeigt, wird das Buch in die Kapitel „„Europäisierung und Policy-Forschung„(3), „Migration und Migrationspolitik“ (4) und „Fallstudien zur deutschen Migrationspolitik“ (5) gegliedert, sowie mit einer Zusammenfassung und einem Ausblick auf die aktuelle und zukünftige Entwicklung der europäischen Migrationspolitik (6) abgeschlossen. Es sind insbesondere der „Advocacy-Coalition-Ansatz“ und die in diesem Zusammenhang aktualisierte, politikwissenschaftliche Forschung, die die Akteurs-Aktivitäten, -Einflüsse und -Wirkungen beim Framework schafft.

Die knapp verfasste Geschichte der Migrationspolitik, speziell bezogen auf die Entwicklung in Deutschland in der neueren Zeit, sowie auf die Gestaltung, wie sie sich in den europäischen Ländern vollzieht, wird ergänzt durch eine analysierende und bewertende Auseinandersetzung mit den verschiedenen europäischen Regelungen – von Maastricht bis Haag.

In den Fallstudien zur deutschen Migrationspolitik – Staatsangehörigkeitsrecht, Zuwanderungs- und Richtlinienumsetzungsgesetz – werden die Positionen der im Bundestag vertretenen politischen Parteien sowie anderer Akteure und Organisationen diskutiert. Wenn die Grundannahme stimmt, dass beim politischen Lernen Wissen über die Verknüpfung von Information durch Erfahrung entsteht (belief system), ist es von besonderer Bedeutung, darauf zu schauen, wie politische Akteure ihre Grundüberzeugungen, die allgemeinen, gesellschaftlichen Wahrnehmungen verknüpfen mit situations- und sachbedingten Einstellungen.

Fazit

Die Hypothese, dass „die Europäisierung eine Hauptursache für Policy-Wandel in der deutschen Migrationspolitik war“ und ist, wird in der Arbeit am Staatsangehörigkeitsrecht, der Asyl- und Einwanderungspolitik, sowie der Integrationspolitik überprüft. Die sich dabei darstellenden Strategien von Akteuren und Institutionen im Rahmen der advocacy coalitions machen sowohl deutlich, dass euroskeptische und -kritische bis -ablehnende Haltungen, als auch zustimmende, selbstbestimmte und eurobejahende Positionen in einer politikwissenschaftlichen Analyse erfasst werden können. Das ist insofern notwendig und gesellschaftlich wichtig, weil die Wirkungen und Auswirkungen, wie sie sich in der Migrationspolitik darstellen, auch Einflüsse auf die innere und europäische Sicherheits-, Arbeitsmarkt-, Wirtschafts-, Integrations- und Bildungspolitik haben. Denn es ist die (kontroverse) Spannweite von Liberalität und Sicherheit, die in der deutschen Gesellschaft und in den europäischen Gesellschaften ausgelotet werden muss, um die allgemeingültige, globale Ethik der Menschenrechte wirksam werden zu lassen. So bleibt als Dreh- und Angelpunkt die Erkenntnis: Erst wenn in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union eine gelingende Integrationspolitik praktiziert wird und der EU weitere Kompetenzen in der Zuwanderungspolitik übertragen werden können, „wird eine Europäisierung der deutschen Migrationspolitik durch advocacy coalitions wahrscheinlich“. Denn Integrations- und Migrationspolitik ist nicht mehr ab- und einzugrenzen in Mentalitäts- und nationale Gehege, sondern im Rahmen des politischen, europäischen und globalen Menschheitsprojekts offensiv und optimistisch zu realisieren. Die Weltkommission „Kultur und Entwicklung“ (1995) hat uns dies ins Stammbuch geschrieben: „Die Menschheit steht vor der Herausforderung umzudenken, sich umzuorientieren und gesellschaftlich umzuorganisieren, kurz: neue Lebensformen zu finden“ (vgl. dazu auch: Martin Große Hüttemann u.a., Hrsg., Das neue Europa, Schwalbach/Ts., 2008, 298 S.; sowie: Josef Nußbaumer, Andreas Exenberger, Hrsg., Unser kleines Dorf. Eine Welt mit 100 Menschen, Kufstein 2010, in: www.socialnet.de/rezensionen/10572.php).

Die Thematik wird sicherlich nicht dazu beitragen, dass das Buch „Europäisierung deutscher Migrationspolitik“ – nicht zuletzt wegen der Preiskalkulation des Verlags – auf den alltäglichen Lesermarkt erscheint. Es sollte vor allem an Universitätsbibliotheken und Innen-, Außen-, Europa- und Gesellschaftspolitikern zur Verfügung stehen.

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Es gibt 1695 Rezensionen von Jos Schnurer.

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ISSN 2190-9245