Suche nach Titel, AutorIn, RezensentIn, Verlag, ISBN/EAN, Schlagwort
socialnet Logo

Wolfgang Hahn: Ein neues Zuhause? (Altenpflegeheim)

Rezensiert von Prof. Dr. Michael Brömse, 10.02.2012

Cover Wolfgang Hahn: Ein neues Zuhause? (Altenpflegeheim) ISBN 978-3-631-61737-3

Wolfgang Hahn: Ein neues Zuhause? Eine ethnographische Studie in einem Altenpflegeheim. Peter Lang Verlag (Bern · Bruxelles · Frankfurt am Main · New York · Oxford) 2011. 255 Seiten. ISBN 978-3-631-61737-3. D: 41,80 EUR, A: 43,00 EUR, CH: 61,00 sFr.
Europäische Hochschulschriften - Reihe 19, Ethnologie, Kulturanthropologie - Abt. A, Volkskunde - Band 743.

Weitere Informationen bei DNB KVK GVK.

Kaufen beim socialnet Buchversand

Thema

Der Mikrokosmos "Altenpflegeheim", also die Sonderwelt eines Hauses mit dort lebenden alten Menschen, pflegenden und betreuenden Personen, weiterem Personal und von außen zeitweise dazu kommenden Menschen wie z.B. den Angehörigen, ist ein klassischer Forschungsgegenstand der Gerontologie. Meistens zeigen diese Forschungen aber die Perspektive einer außen liegenden wissenschaftlichen Position ins Innere der betreffenden Einrichtung, etwa wie mit einer Sonde. In der hier vorliegenden Untersuchung wird jedoch die 16 Jahre währende Binnenperspektive eines im Heim tätigen Sozialarbeiters wissenschaftlich vertieft, und zwar aus ethnogerontologischer Sicht. Dabei wird der Begriff der Ethnologie in einem weiteren Sinn gefasst, als es bei Studien der Fall ist, die im Wesentlichen nur Aspekte von Migration im Blick haben: Es geht um die Kultur, besser die Kulturen der im Altenheim lebenden und tätigen Menschen, wobei Kultur als Ausdruck von Identität verstanden wird. Vor dem Hintergrund der öffentlich geführten gegensätzlichen Grundsatzdiskussion über die Altenheime bzw. Altenpflegeheime - Abschaffung (K.Dörner et al.) vs. caritative und humanitäre Weiterentwicklung - sowie in der Spannung des Anspruchs der Persönlichkeitsrechte des Einzelnen einerseits und der wachsenden Ökonomisierung andererseits geht es dem Autor darum, "aus der Perspektive der Bewohnerinnen und der Mitarbeiterschaft das Leben, Wohnen und Arbeiten im Altenpflegeheim zu betrachten." (S. 12) – Die Arbeit ist eine überarbeitete Fassung der 2009 an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt eingereichten Dissertation des Verfassers.

Autor

Wolfgang Hahn ist Sozialarbeiter. Er hat 16 Jahre in zwei Altenpflegeheimen gearbeitet und während dieser Zeit an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt Ethnologie studiert. Dort wurde er auch zum Dr.phil. promoviert.

Aufbau und Inhalt

Prolog (S. 9-14): Der Autor erläutert seine wissenschaftliche Position als Ethnologe im thematischen Zusammenhang des Buches. Es werden die Zielsetzung, die Methodik sowie der Aufbau der Arbeit dargestellt.

Kap. I - Theoretische Herangehensweise (S.15-35): Im ersten Hauptteil (S. 15ff) wird zunächst der Begriff "Ethnogerontologie" erklärt. Dabei beschreibt der Verfasser den Begriff der Ethnologie im Sinne eines erweiterten Kulturbegriffs unter Bezug auf die von Klaus E. Müller entwickelte Differenzierung von zentrierten und integrierten Systemen. Im weiteren Verlauf geht er auf den Begriff des "Kulturschocks" ein sowie auf den von A. van Gennep begründeten völkerkundlichen Begriff der Übergangsriten ("Rites de passage"). – Ein zweiter Abschnitt behandelt das Verständnis des Begriffs der Gerontologie und gibt einen Blick auf die Entwicklung der Gerontologie seit Metchnikov (1903) bis zur Gegenwart. – In einem zweiten Hauptteil des Kapitels (S. 29ff) geht der Autor genauer auf den Begriff der Sozialisation ein, der dann auf die Alterssozialisation fokussiert wird.

Kap. II - Rahmenbedingungen (S. 37-50): Der erste Abschnitt des Kapitels (S. 37ff) geht auf historische, gesellschaftliche und juristische Kontexte des Altenpflegeheims ein, wobei insbesondere das Heimgesetz, das Pflegeversicherungsgesetz, das Betreuungsgesetz sowie das Bundessozialhilfegesetz genauer dargestellt werden. – Ein zweiter Abschnitt (S. 46ff) nimmt das Altenpflegeheim als Institution in den Blick. Dabei wird – vor dem Hintergrund der von E.Goffmann entwickelten Thesen - der Begriff der Institution selbst näher betrachtet. Im Weiteren geht der Autor auf die Wohnbedingungen der Bewohnerinnen und das Arbeiten der Mitarbeiterinnen ein.

Kap. III - Betreuung (S. 51-79): In diesem Kapitel gibt der Verfasser einen Einblick in die alltägliche Praxis von Sozialer Arbeit und Pflege in der stationären Altenhilfe. Dabei kann Soziale Arbeit. (S. 51ff) nicht ohne den Hintergrund von Systemorientierter Betrachtungsweise erfolgen. Von da ausgehend geht es – nach Weakland/Herr (1984) - um Klärung der Fragen: "1. Welche Information über die zu behandelnde Familie wird benötigt? 2. Welche Veränderungen sind anzustreben und in welchem Umfang (die Frage der Therapieziele)? 3. Welche Maßnahmen sollte der Therapeut ergreifen, um diese Veränderung erfolgreich zu betreiben?" (S. 56) – diese Fragen werden im Folgenden unter den Stichworten "Wahrnehmung", "Ziel", "Vorgehen" auf der Basis von Fallbeispielen entfaltet. – Im Zusammenhang der Pflege (S. 71ff) betont der Verfasser den Schlüsselbegriff der Person im Zusammenhang der Komplexe von Umgebung, Gesundheit/Wohlbefinden und Pflege. Im Weiteren werden die Konzepte von Pflegerahmenmodell, Pflegeprozessmodell und Managementmodell näher beleuchtet.

Kap. IV - Einzug und Leben (S. 81-213): Dieses Kapitel bildet den Hauptteil der Untersuchung. Dabei wird unter verschiedenen Aspekten die Innensicht des Heims offen gelegt, wobei der Verfasser auch seine eigene Situation und seine eigenen Eindrücke reflektiert.

Dem entspricht der Einstiegsabschnitt (0, Seite 81ff): "Persönlicher Eindruck der Heime und eigene Kulturschockerfahrungen."

Abschnitt 1 ("Eintritt in den neuen Lebensabschnitt", S. 92ff) befasst sich mit dem geplanten Umzug, dem Einzug des Neuankömmlings und dem damit verbundenen Kulturschock. Zuletzt werden diese Themen an fallweisen Gesprächssituationen veranschaulicht.

Abschnitt 2 ("Wohnen und Leben", S. 141ff) beschreibt zunächst plastisch und bisweilen drastisch einen "Rundgang durch das Heim". (2.1) – Dann geht es um "Lebenshintergründe", und zwar bezogen auf die Bereiche von Familie, beruflicher Tätigkeit, politischen sowie religiösen Vorstellungen. (2.2) – Am Beispiel von "Fünf Biographien" werden diese Themen verdichtet und konkretisiert. (2.3) – "Leit- und Leidsätze" geben ambivalente Lebensmaximen der Bewohnerinnen wieder. (2.4) – Dies wird unter dem Stichwort "Orientierungssysteme" weitergeführt, wo es um räumliche, soziale und kulturelle Orientierungskategorien der Bewohnerinnen geht. (2.5) – Mit dem Stichwort "Neues Heim" wendet sich der Autor schließlich den Raumorientierungen zu, die der Befriedigung von Lebensbedürfnissen und damit der Identifikation mit einem (Lebens-)Raum zugrunde liegen. Dies geschieht in vier Kategorien: Instrumentale Raumorientierung, Kontrollierende Raumorientierung, Soziokulturelle Raumorientierung und Symbolische Raumorientierung. (2.6) – In einem "fiktiven Brief" versucht der Autor, die Vielfalt der ihm von den Bewohnerinnen mitgeteilten Aussagen zu bündeln und in einem zweiten Gang diese zu interpretieren. (2.7)

In Abschnitt 3 ("Sterben und Tod", S. 206ff) geht der Verfasser auf die Problematik des Sterbens im Heim ein, also dem letzten "Übergang" im Lebensverlauf. Dabei weist er auf Defizite in der Pflege hin, die anhand der 14 Punkte der Pflegestandardbeschreibung nach AEDL ("Aktivitäten und existentielle Erfahrungen des Lebens") dargestellt werden.

Kap. V - Folgerungen und Forderungen (S. 215-237): Zunächst setzt sich der Autor mit der Frage auseinander, ob es denkbare "Alternativen" (S. 215ff) zum herkömmlichen Heim gibt. Dabei werden noch einmal die bekannten Thesen von Klaus Dörner (2001) aufgegriffen und referiert. Der Autor entwickelt dann, ausgehend von den Thesen Peter Dürrmanns (2001/2005) zur stationären Dementenbetreuung, alternative Gedanken zur Position Dörners. Dabei ist es das Hauptziel, für die Bewohnerinnen eher individuelles Wohlbefinden und weniger allgemeine Normalität im Heim zu gestalten. Hierzu ist nicht in erster Linie ein "mehr an Geld" erforderlich als ein Überdenken der "Frage der persönlichen Haltung (Milieu- und Beziehungsgestaltung)" sowie des "Pflegeverständnisses (Konzept)" und der "Struktur (Aufbau- und Ablauforganisation) der Einrichtung". – Ein "Resümee" (S. 227ff) schließt das Buch mit Gedanken ab, wie ein lohnenderes Leben und Wohnen im Altenpflegeheim entwickelt werden könnte. Dabei weist der Autor auf den Stellenwert von ethnologischer Validation und Begleitung hin.

Ein ausführliches Literaturverzeichnis (S. 239-245) und ein Quellenanhang (S. 247-255) schließen sich dem Textteil an.

Zielgruppe

Das Buch von Wolfgang Hahn eignet sich vor allem für Leser und Leserinnen, die sich mit Innenperspektiven des Altenheims vertraut machen wollen. Auch für solche, die als Mitarbeiter-Innen oder Angehörige mit stationärer Pflege befasst sind, kann es von Interesse sein. Für Studium und Lehre der Pflegewissenschaften enthält es authentische und reflektierte Einblicke in die Realität des Altenpflegeheims und gibt Anregungen zur Verbesserung der bestehenden Situation.

Diskussion

Das Buch bietet ein Fülle von Einblicken in die Realität der stationären Pflege aus der reflektiert-authentischen Sicht eines dort langjährig tätigen Mitarbeiters. Dazu kommen viele anregende Gedanken zum Diskurs der gegenwärtigen Pflegeproblematik, die aus der spezifisch ethnologischen Sicht des Autors nicht ohne Reiz sind. Das Problem der Abhandlung liegt allerdings darin, dass die subjektive Erfahrungsebene des Autors und die wissenschaftliche Reflexionsebene häufig ineinander übergehen und bisweilen das Bild einer gewissen Unstrukturiertheit vermitteln. Als Leser hat man dann bisweilen den Eindruck, dass der Autor aus der strengen Stilform der Dissertation in die Ebene von Readers Digest ausbricht. Das macht das Buch zwar streckenweise leicht lesbar, erschwert aber das Erkennen einer Struktur des Forschungsprozesses im Text.

Der im Prolog entfaltete Spannungsraum – Dörners Forderung nach Abschaffung der Altenheime einerseits und andererseits die Forderung nach menschenwürdiger Gestaltung der stationären Einrichtungen – (S. 9) weckt die Erwartung nach einer wissenschaftlich begründeten eigenen Positionierung des Autors in diesem Spannungsraum. Dies geschieht auch – unter Bezug auf die Forderungen Dürrmanns zur stationären Dementenversorgung (S. 220ff) –, kann aber nicht restlos überzeugen.

Fazit

In vielen Passagen ist das Buch durchaus lesenswert und vermittelt authentische Einblicke in Lebenssituationen und Arbeitsbedingungen bzw. -anforderungen im Raum der stationären Pflege Alter Menschen. Aufgrund der genannten Einschränkungen ist es jedoch nur bedingt empfehlenswert.

Rezension von
Prof. Dr. Michael Brömse
Fachhochschule Hannover, Fakultät V (Diakonie, Gesundheit und Soziales)

Es gibt 35 Rezensionen von Michael Brömse.

Zitiervorschlag anzeigen Besprochenes Werk kaufen

Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt. Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns. Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.


socialnet Rezensionen durch Spenden unterstützen
Sie finden diese und andere Rezensionen für Ihre Arbeit hilfreich? Dann helfen Sie uns bitte mit einer Spende, die socialnet Rezensionen weiter auszubauen: Spenden Sie steuerlich absetzbar an unseren Partner Förderverein Fachinformation Sozialwesen e.V. mit dem Stichwort Rezensionen!

Zur Rezensionsübersicht

Sponsoren

Wir danken unseren Sponsoren. Sie ermöglichen dieses umfassende Angebot.

Über die socialnet Rezensionen
Hinweise für Rezensent:innen | Verlage | Autor:innen | Leser:innen sowie zur Verlinkung

Bitte lesen Sie die Hinweise, bevor Sie Kontakt zur Redaktion aufnehmen.
rezensionen@socialnet.de

ISSN 2190-9245