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Karim Fereidooni: Schule - Migration - Diskriminierung

Rezensiert von Dr. phil. Dipl.-Päd. Yalcin Yildiz, 14.10.2011

Cover Karim Fereidooni: Schule - Migration - Diskriminierung ISBN 978-3-531-17635-2

Karim Fereidooni: Schule - Migration - Diskriminierung. Ursachen der Benachteiligung von Kindern mit Migrationshintergrund im deutschen Schulwesen. VS Verlag für Sozialwissenschaften (Wiesbaden) 2011. 176 Seiten. ISBN 978-3-531-17635-2. 29,95 EUR.

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Thema

In der aktuellen deutschen Migrationsdebatte wird eine fruchtbare Integration von Zugewanderten von den beiden Faktoren Sprache und Bildung abhängig gemacht. Dabei entsteht auf Seiten der Mehrheitsgesellschaft die geradezu illusorische Einstellung, dass

  1. Migrantinnen und Migranten dieselben Bildungschancen offenstünden und
  2. Bildungserfolgreiche mit Migrationshintergrund ausnahmslos selig seien.

Das dem nicht so ist, zeigen aktuelle Entwicklungen. So offenbart sich seit geraumer Zeit eine (zumindest für die deutsche Volkswirtschaft) erschreckende Entwicklung: Vor allem türkische Folgegenerationen wollen das Land verlassen, da diese nicht dieselben Chancen auf dem Arbeitsmarkt für AkademikerInnen oder Ausgelernte haben. Ironischerweise muss diese Misere gerade für diejenigen als Luxus erscheinen, die erst gar nicht zum Bildungserfolg gelangen können oder dürfen.

Exemplarisch dafür sind die PISA-Studien der OECD (Programme for International Student Assessment), die seit 2000 regelmäßig in den OECD-Staaten durchgeführt werden und die Bildungssituation von Schülerinnen und Schülern international vergleichen. Die erste Studie (PISA I) hat in mehreren Teilnehmerstaaten, allen voran Deutschland, pädagogische Bestürzung (den sog. „PISA-Schock“) ausgelöst. Mit der statistisch belegten Chancenungleichheit im deutschen Bildungswesen wurde insbesondere die seit Jahrzehnten bewusst übersehene Bildungsmisere von sozial Benachteiligten, und hierbei speziell von Migrantenkindern, vor Augen geführt. Es zeigte sich, dass in Deutschland die regional-soziale Herkunft stärker als in jedem anderen Land über Bildungskarrieren von Kindern und Jugendlichen beeinflusst.

Ungeachtet dessen, dass die doppelte Marginalisierung von MigrantInnen gegen elementare demokratisch-rechtsstaatliche Grundrechte verstößt, sind Migration und Bildung auch heute noch Stiefkinder bundesdeutscher Integrationspolitik. Dasselbe gilt auch für die Migrationsforschung, die als reaktionistische Forschungsrichtung das Thema der Chancenungleichheit von Kindern mit Migrationshintergrund im deutschen Bildungssystem erst im Zuge der nationalen und internationalen Kompetenzvergleichsuntersuchungen IGLU 2001, PISA 2000, 2003 und 2006 und den damit zusammenhängenden öffentlichen Reaktionen aufgefangen hat.

Autor

Karim Fereidooni arbeitet als Studienreferendar für die Fächer Deutsch und Sozialwissenschaften in Nordrhein-Westfalen. Er ist Doktorand an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg (Dissertationsprojekt: „Diskriminierungserfahrungen von Lehrkräften mit Migrationshintergrund“).

Entstehungshintergrund

Der Autor geht der Frage nach, ob die Befunde der PISA-Studien 2000, 2003 und 2006 sowie IGLU 2001 die seit Jahrzehnten herrschende Vermutung stützen, dass in Deutschland eine bildungspolitische Chancenungleichheit im Sinne einer Bildungsdiskriminierung zwischen autochthonen und allochthonen SchülerInnen bestünde. Dabei möchte er auch eine Foschungslücke schließen: Zwar sind Bildungsforscher an der schulischen Situation von nicht-deutschen Kindern bereits seit den 1970ern (insbesondere seit dem Anwerbestopp von 1973 und dem zunehmenden Familiennachzug) vermehrt interessiert gewesen, eine wirkliche Verbesserung wurde dadurch nicht wirklich erreicht.

Im Gegensatz zu früheren Forschungen, die die Ursachen für den Bildungsmisserfolg entweder auf der Mikroebene (individuelle Ebene) oder Makroebene (gesellschaftliche Ebene) ausmachten, setzt sich der Autor hier gezielt mit den institutionellen Dimensionen der Bildungsdiskriminierung von ausländischen Kindern im deutschen Schulwesen auseinander. Nicht die ausländischen Kinder und Ihre Familien mit der spezifischen Fremdkultur macht er für die konkrete Bildungsmisere verantwortlich, sondern die institutionellen Machtstrukturen und -mechanismen. Hier kommt Fereidooni auch zugute, dass er als Lehrer aus der Praxis kommt und somit unmittelbaren Einblick in die Problematik hat: „Anstatt wie in vorangegangenen Untersuchungen hauptsächlich die Schüler, die Eltern, den Sozialstatus, die Konfession, die Kultur und Ethnie für den Bildungsmisserfolg verantwortlich zu machen und damit nach individuellen Ursachen zu forschen, beschäftigt sich diese Untersuchung mit den institutionellen Ursachen der Benachteiligung von Kindern mit Migrationshintergrund im deutschen Schulwesen, wie beispielsweise der Funktionsweise bzw. den Organisations- und Selektionspraktiken des deutschen Schulsystems“ (S. 18-19).

Fereidooni möchte die dominierenden kultur-deterministischen, defizitorientierten Deutungen durch eine differenziertere, kritische Forschungsphilosophie widerlegen. Damit schließt er sich mit seinem Buch auch an den Paradigmenwechsel neuer Publikationen zum Themenbereich Migration-Bildung-Benachteiligung an:

  • Gomolla, M./Radtke, F.-O.: Institutionelle Diskriminierung: die Herstellung ethnischer Differenz in der Schule. Opladen 2002.
  • Hormel, U./Scherr, A.:Bildung für die Einwanderungsgesellschaft: Perspektiven der Auseinandersetzung mit struktureller, institutioneller und interaktioneller Diskriminierung, Wiesbaden 1  2004
  • Gomolla, M.: Schulentwicklung in der Einwanderungsgesellschaft: Strategien gegen institutionelle Diskriminierung in England, Deutschland und in der Schweiz. Münster et al. 2005. 

(siehe hierzu auch www.socialnet.de/rezensionen/3151.php).

Die normative Relevanz der Thematik begründet der Bildungsforscher mit § 3 des Grundgesetzes und dem politischen Integrationsanspruch, den er durch ungleiche Teilnahmechancen (also Bildungschancen) als gefährdet ansieht. Die kognitive Relevanz ergibt sich für den Wissenschaftler durch die ökonomische und sozialpolitische Vergeudung des Humankapitals. Mit der demografischen Entwicklung in Deutschland gewinnt gerade diese Forschungsrelevanz an zusätzlicher Bedeutung. Die Tatsache, dass im Einwanderungsland Deutschland 19 % der Gesamtbevölkerung (das sind etwa 15.300.000 Menschen) einen Migrationshintergrund haben, führt bereits heute schon dazu, dass einige Schulen einen mehrheitlichen MigrantInnenanteil haben. Im Zuge des aktuellen Fachkräftemangels in Deutschland und der abnehmenden Bevölkerungszahl erhält diese Entwicklung eine zusätzliche soziale Brisanz.

Aufbau und Inhalt

Die Arbeit besteht aus 13 Kapiteln.

Kapitel 1 (S. 17 – 22) „Einleitung“ umfasst die thematische Relevanz, Fragestellung und den Forschungsstand (worauf im Entstehungshintergrund bereits eingegangen wurde).

In Kapitel 2 (S. 23 – 26) „Das Konzept der institutionellen Diskriminierung“ wird der theoretische Rahmen der Untersuchung skizziert. Hierzu gehört die nähere Definition von institutioneller Diskriminierung (wie z.B. hinsichtlich der begrifflichen Bedeutung, der Auslöser, der Opfer, Funktionsweisen und der Bedeutung innerhalb des deutschen Bildungssystems). In diesem Abschnitt wird insbesondere die wichtige, aber auch schwierige Unterscheidung zwischen institutioneller und direkter Diskriminierung gemacht: „Die institutionelle Diskriminierung wird auch indirekte oder versteckte Diskriminierung genannt, weil bei ihr die Benachteiligung nicht von diskriminierenden Einzelhandlungen, sondern durch Organisationsprozesse innerhalb von Institutionen, somit von systeminhärenten Strukturen ausgeht. Dieser Umstand macht sowohl ihre Benennung als auch Bekämpfung zu einer vielschichtigeren Aufgabe als die Beseitigung von offener, direkter Diskriminierung“ (S. 24).

Im 3. Kapitel (S. 27 – 28) „Bildungsforschung und Bildungspolitik“ werden einige zentrale Akteure der deutschen Bildungspolitik vorgestellt und Verknüpfungslinien zwischen Bildungsforschung und -politik gezogen.

Kapitel 4 (S. 29 – 30) befasst sich mit „Politik oder Policy, Politics und Polity – Die drei Dimensionen der Politik“. Dabei werden zentrale Funktionsfragen im Hinblick auf die drei zentralen politischen Dimensionen beantwortet.

Kapitel 5 (S. 31 – 38) „Policy-Analyse: Intention, Inhalte, Erkenntnisse“ dient dazu, ein politikwissenschaftliches Erklärungsmodell für die Genese von Regierungspolitiken vorzustellen.

In Kapitel 6 (S. 39 – 52) „Die Policy-Analyse der Bildungspolitik der BRD von 1973 bis zur Gegenwart“ werden die unterschiedlichen bildungspolitischen Strategien der BRD für die schulische Situation von seit 1973 bis heute dargestellt.

Mit den Kapiteln 7 (S. 53 – 62) „Die Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung (IGLU): Konzeption, Inhalt, Ziel“ und Kapitel 8 (S. 63 – 88) „Das Programme for International Student Assessment (PISA): Konzeption, Inhalt, Ziel“ rücken zwei Schulleistungsuntersuchungen unter besonderer Berücksichtigung von SchülerInnen mit Migrationshintergrund in den Fokus. Dabei soll die These überprüft werden, ob und wie allochthone SchülerInnen im deutschen Schulsystem diskriminiert werden.

Im 9. Kapitel (S. 89 – 122) „Zur Kritik in der Wissenschaft im Allgemeinen und Kritisches zu PISA im Speziellen“ werden unterschiedliche Beiträge vorgestellt.

In Kapitel 10 (S. 123 – 128) „Der Einfluss familiärer Paradigmen auf den Bildungs(miss)erfolg von Schülern im deutschen Schulwesen“ werden Beziehungen zwischen häuslicher Sozialisation und Schul(miss)erfolg näher betrachtet.

Kapitel 11 (S. 129 – 136) „Ein Blick über den Tellerrand: Finnland, Kanada und Schweden“ stellt die Vorzüge der bildungserfolgreichen PISA-Teilnehmerstaaten gegenüber dem deutschen Bildungssystem dar.

Mit Kapitel 12 (S. 137 – 154) werden konkrete „Reformvorschläge für ein gerechtes deutsches Bildungssystem“ gemacht.

Abgeschlossen wird mit Kapitel 13 (S. 155 – 158), der „Ergebnispräsentation“.

Zielgruppen

Diese Arbeit ist nicht nur für Dozierende und Studierende der Pädagogik interessant, sondern auch LehrerInnen und politisch Verantwortlichen, die mit MigrantInnen zu tun haben, wärmstens zu empfehlen.

Diskussion

Die Ausgangsüberlegung des Wissenschaftlers, die Bildungsbenachteiligung ausländischer Kinder im deutschen Schulwesen institutionell zu betrachten, kann man nur als gelungen bezeichnen. Fereidooni überzeugt durch seine kritische und klare Annäherung an eines der differenziertesten und am meisten vernachlässigten Felder der Migrations- und Bildungsforschung.

Das Buch stellt mit seiner transparenten und verständlichen Konzeption nicht nur den aktuellen Stand der realen Bildungssituation von Kindern mit Migrationshintergrund dar, es ist gleichermaßen ein Beispiel dafür, wie Migrationsforschung funktionieren soll und muss. Die bisherige Migrationsforschung hat bei ihrer Betrachtung der Lebenssituation von MigrantInnen entweder eine strikt mehrheitspolitische Position eingenommen oder eine marginale Advokatenrolle gespielt. Hier wird bei der Beantwortung zentraler Fragestellungen nicht mit der sozialmoralischen (weil einfachen) Keule argumentiert, sondern mit knallharten Fakten.

Karim Fereidooni versteht es auf relativ wenigen Seiten eine umfassende und interessante Arbeit abzuliefern. Besonders wertvoll sind in diesem Zusammenhang die sozialstrukturellen Erklärungsmuster für institutionelle Diskriminierungsprozesse, wie z.B. die Sicherung des deutschen Bildungssystems oder die Reproduktion von Machtverhältnissen im Sinne einer sozialen Unterschichtung. Es wird nicht nur kritisiert, sondern auch aufgezeigt, wie Bildungsprozesse innerhalb einer Einwanderungsgesellschaft ablaufen müssen.

Fazit

Noch leistet Fereidooni mit seiner Untersuchung Pionierarbeit. Die deutsche Bildungsungleichheitsforschung im Kontext institutioneller Mechanismen steckt noch in den „Kinderschuhen“ (S.21). Langzeituntersuchungen sind kaum vorhanden. So wertvoll die Ergebnisse daher auch sein mögen, ohne praktische Umsetzung wird sich an der Bildungsmisere von ausländischen Kindern nichts ändern. Bleibt deshalb nur zu hoffen und abzuwarten, dass das mutige Buch mit seinen greifbaren Reformvorschlägen in der Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit gerade heute auf offene Ohren stößt.

Die deutsche Gesellschaft kann sich ihren bisherigen Habitus weder moralisch noch sozioökonomisch leisten. Angesichts abnehmender Bevölkerungszahlen bedeutet jedes gesellschaftlich verlorene Migrantenkind auch ein Stück verlorene deutsche Zukunft, jedes gewonnene Migrantenkind auch ein Stück Cem Özdemir und Mesut Özil. Während ein Scheitern im deutschen Bildungssystem den Weg in Devianz und Kriminalität eröffnen kann, kann gerade eine erfolgreiche Bildungskarriere bestehende Integrationsleistungen unterstützen oder erst initiieren helfen.

Rezension von
Dr. phil. Dipl.-Päd. Yalcin Yildiz
Migrationsforscher. Freiberufliche Tätigkeit in der Migrationssozialberatung und Ganzheitlichen Nachhilfe

Es gibt 18 Rezensionen von Yalcin Yildiz.

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Zitiervorschlag
Yalcin Yildiz. Rezension vom 14.10.2011 zu: Karim Fereidooni: Schule - Migration - Diskriminierung. Ursachen der Benachteiligung von Kindern mit Migrationshintergrund im deutschen Schulwesen. VS Verlag für Sozialwissenschaften (Wiesbaden) 2011. ISBN 978-3-531-17635-2. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/11913.php, Datum des Zugriffs 14.01.2025.


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