Markus Wiencke: Kulturen der Gesundheit
Rezensiert von Prof.Dr. Charlotte Uzarewicz, 22.11.2011

Markus Wiencke: Kulturen der Gesundheit. Sinnerleben im Umgang mit psychischem Kranksein. Eine Anthropologie der Gesundheitsförderung. transcript (Bielefeld) 2011. 392 Seiten. ISBN 978-3-8376-1690-3. 32,80 EUR.
Autor und Entstehungshintergrund
Das Buch ist eine veränderte Fassung der Dissertation von M. Wiencke am Fachbereich Erziehungswissenschaften und Psychologie der Freien Universität Berlin und baut auf seiner empirischen Studie, die er im Rahmen der Diplomarbeit begonnen hat, auf.
Aufbau
Die übersichtliche Gliederung des Inhaltsverzeichnisses erleichtert die Orientierung und gibt einen guten Überblick über den Aufbau der Arbeit. Im Sinne einer wissenschaftlichen Qualifikationsarbeit werden zu Beginn Fragestellungen, Kontexte und Vorgehensweisen erläutert, sodann die theoretische Basis für die empirische Untersuchung ausführlich beschrieben. Diese stellt die Grundlage für den Hauptteil dar, die Analyse und Interpretation der empirischen Erhebungen, die an drei verschiedenen Orten und in drei unterschiedlichen Settings durchgeführt worden ist: in Brasilien der Candomblé- und Umbanda-Tempel, in Chile die Gemeindepsychiatrie für die Mapuche und in Deutschland eine psychosomatische Klinik. Der Schluss fasst sehr kurz die wichtigsten Eckpfeiler zusammen und rundet so das Bild ab.
Das Vorwort von Manfred Zumseil stellt bereits eine affirmative Rezension des Buches dar, so dass der Leser schnell einen Einblick in Gegenstand, Methode und Ergebnis erhält. Dies macht neugierig, weil sofort die Frage nach der Begründung der Auswahl der theoretischen Grundlagen entsteht.
Inhalt
Der Autor erläutert in der Einleitung ausführlich die Gründe für die Auswahl der Theorien sowie seine Vorgehensweise. Die Methoden sind ausführlich und klar dargelegt. Wie der Titel schon sagt, geht es ihm um Kulturen der Gesundheit; es ist ein zwischen Ethnologie und Psychologie verortetes interdisziplinäres Werk, welches auch die Soziologie bzw. Sozialpsychologie als theoretische Bezugsdisziplin einbindet. Das zentrale Konzept der Schizophrenie wird kritisch und feinsinnig dargelegt – nicht als biopathologisches, sondern als sozio-historisches und kulturelles Konstrukt unter Bezugnahme hauptsächlich auf Simmels Kritik an der Moderne. Die Begründungszusammenhänge sind durch ergänzende Beschreibungen eigener Erfahrungen im beruflich-therapeutischen Kontext gut geerdet.
Kapitel zwei ist den theoretischen Grundlagen gewidmet, welche nach einem bestimmten Schema bearbeitet werden: Zunächst wird eine Theorie dargelegt, dann unter zu Hilfenahme neuerer Ansätze kritisiert und die zentralen Konzepte unter der Perspektive des Autors weitergeführt. Sodann werden Reichweiten und Grenzen aufgezeigt. Diese liefern die Begründung für die Einführung weiterer theoretischer Ansätze. Begleitet werden die theoretischen Ausführungen durch das Versprechen, die erhobenen Daten in dem jeweiligen Kontext „analytisch aufzubrechen“. In solchem Duktus erfährt der Leser die zentralen Aspekte von Recovery, Empowerment, Setting, Performance und Mimesis sowie Sinn und Bedeutung. Intention des Autors ist es, bei den Erklärungsversuchen zum Phänomen Schizophrenie den Dualismus von Selbst und Kontext zu überwinden. So werden der Embodimentansatz von Csordas unter Bezugnahme auf Merleau-Ponty, die Ritualtheorie nach Gebauer, Wulf und Zirfas und auch das Habituskonzept von Bourdieu ergänzend hinzugezogen. Der Embodimentansatz kann m.E. die Phänomene leiblicher Ergriffenheit, wie sie später in den Ritualen beschrieben werden, nicht erklären; das Konzept der Inkorporierung bleibt seltsam oberflächlich. Begriffe wie Sinn und Bedeutung, Subjektivität und Objektivität lassen Wiencke auch in der Stressforschung nach geeigneten Ansätzen suchen, so dass die Grundlagen der Gesundheitsförderung (Antonovsky), besonders das Konzept des SOC aufgenommen werden, um der Frage nachzugehen: „Was kann an Sinnstiftung gesundheitsfördernd sein?“ Letztlich wird dazu noch Meaning Making eingeführt, was sich aber in Verbindung mit dem Settingansatz als Meaning Making Setting etwas tautologisch liest. Diese vielfältige, umfassende und detailgetreue theoretische Grundlegung gibt dem geneigten und informierten Leser einen schnellen Überblick über den aktuellen Stand dieser Theorien. Anzumerken bleibt, dass sich der Autor mit dieser Auswahl klar im klassischen Konstruktivismus verortet, wie er auch eine seiner zentralen Annahmen selbst beschreibt (S. 49). Die Fragestellungen dieser Arbeit sind am Ende des zweiten Kapitels übersichtlich aufgeführt, die theoretische Hinführung umfassend.
Kapitel drei gibt einen guten Einblick in die gewählte Methodik und den Forschungsprozess der klassisch ethnologischen Feldforschung. Die Begründung, warum ein qualitativer Ansatz im Geiste der Grounded Theory gewählt wurde und kein quanitativer ist sehr ausführlich. Dies ist sicherlich dem Duktus einer Qualifikationsarbeit geschuldet und bietet sich für Leser, die eine solche noch vor sich haben, als eine gute Strukturierungshilfe an. Die sehr wertvollen Reflexionen der eigenen Rolle als Feldforscher lesen sich wie tagebuchähnliche Aufzeichnungen. Es wird sehr deutlich, dass und wie die eigene Involviertheit eine wesentliche Voraussetzung für den Feldzugang ist.
In Kapitel vier nimmt der Autor den Leser an die Hand und führt ihn in die verschiedenen Forschungsfelder ein: in Brasilien in den Candomblé-/Umbanda Tempel, in Deutschland in eine psychosomatische Klinik sowie in Chile in eine Gemeindepsychiatrie. Als Leser taucht man schnell ein in die beschriebenen Situationen, Bedingungen und Settings und kann sich so ein gutes Bild von der Forschung machen. Die Beschreibung der Kontextfaktoren, der kulturellen theoretischen Konzepte dienen als Vorbereitung, um auch ohne ethnologisches Vorwissen z.B. die Candomblé-Kulte zu verstehen. Die Differenzierung zwischen psychischen Störungen und spirituellen Krisen ist dabei sehr hilfreich und verweist bereits auf Lücken im westlich-medizinischen Diagnose-Klassifikationssystem (ICD-10). So gilt es, neben den medizinischen auch die sozialen Diagnosen zu berücksichtigen. Man bekommt nicht nur einen Einblick in die Forschungssettings, sondern auch ein Gefühl für die Lebenssituationen der Menschen vor Ort. Das ist dem Autor sehr gut gelungen und zeugt von Authentizität.
Kapitel fünf ist wohl das zentrale Kapitel, in dem die Erhebungen analysiert und ausgewertet werden. Durch die thematisch gegliederte Abfolge seiner ethnographischen Beschreibungen der drei Untersuchungseinheiten, werden die Unterschiede, aber vor allem auch die Parallelen der Krankheitsvorstellungen und der Therapiekonzepte sehr deutlich. Das Konzept „geteiltes Sinnerleben“ wird nun empirisch analysiert und ´durchbuchstabiert´. Die vorher dargelegten Theorien bilden dabei die Interpretationsfolie. Die Ebenen des geteilten Sinnerlebens lassen sich nach Wiencke gliedern in
- „soziales Geschehen“ mit den Unterteilungen „geordnet“, „flexibel“, „partizipativ“
- „Bedeutsamkeit“ mit den Unterteilungen „sinnliches Erleben“, „sakrale Dimension“
- „Alltagsnähe“ mit den Unterteilungen „Angehen von Defiziten“, „kontextübergreifend“.
Zur besseren Nachvollziehbarkeit sind die vielen Zitate der befragten Personen überaus wertvoll und machen das Buch ´lebendig´.
Bei den Interpretationen wird mir deutlich, wie hilfreich es gewesen wäre, hätte der Autor die Neue Phänomenologie oder die klassische phänomenologische Psychopathologie gekannt. Das Konzept der Mimensis (S. 164) bietet nicht den Verstehenshorizont wie das der leiblichen Kommunikation, der Bewegungssuggestionen oder der synästhetischen Charaktere. Solche Konzepte lassen Phänomene, die bei Ritualen, Besessenheit, Einfahren von Geistern, kollektiven Ergriffenheiten in Erscheinung treten, viel leichter erklären und auch verstehen. Es geht ja letztlich um die pathische Seite der Existenz, die mit handlungsorientierten oder handlungsbasierten Theorien kaum begreifbar ist (vgl. S. 192 f.). Ebenso bietet die leibliche Kommunikation einen hervorragenden Hintergrund zum Verstehen der kollektiven Akte des Tanzes, die Wiencke mit „Aufhebung der Differenz“ bezeichnet (S. 192, 196, 197). Auch die Situationstheorie von Schmitz kann die Geschehnisse im „kollektiven Raum (S. 202/203) erhellen.
In Kapitel sechs werden abschließend die individuellen gegen die sozialen Konstruktionen von Gesundheit gestellt. Der individuumorientierte Ansatz psychischer Gesundheit von Grawe, der fünf Wirkfaktoren in der Therapie unterscheidet, dient als analytische Grundlage, um zu verdeutlichen, inwiefern die Erkenntnisse, die ja auf der sozialen Eingebundenheit von Diagnosen beruhen, von diesem individualistischen Konstrukt abweichen. Das liest sich merkwürdig paradox. Auf jeden Fall wird daran deutlich, welche theoretischen und auch lebenspraktischen Differenzen es zwischen klassischer Psychologie bzw. Pschopathologie (die ja nichts anderes kennt, als die individualisierte Diagnoseklassifikation des ICD-10) und der medizinethnologischen Grundannahmen der kulturellen Eingebundenheit eines jeden Medizinsystems gibt. Unter zu Hilfenahme des Begriffs der sozialen Gesundheit der WHO versucht Wiencke hier noch einmal diese Grundannahme zu verifizieren, was ihm mit seiner vergleichenden Studie durchaus gelungen ist.
Diskussion
Grundsätzlich ist es bemerkenswert, dass in diesem interdisziplinären Werk die Ethnologie in die Psychologie eingeführt wird; und nicht, wie es früher üblich war, die westlich entwickelte Psychologie unreflektiert auf den Rest der Welt zu übertragen. Damit wird der eurozentrische Bias der klassischen Psychologie relativiert. So schreibt Wiencke auch im Schlusswort, dass seine Arbeit im Gegensatz zur Mainstreampsychologie steht (S. 270), was mir zu denken gibt, sind doch die transkulturelle Psychiatrie und die Medizinethnologie spätestens seit den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts anerkannte Disziplinen. Für diese Mainstreampsychologie stellt diese Arbeit mit Sicherheit eine große Innovation dar. Für die angewandten Kulturwissenschaften ist diese Arbeit eine umfassende und tiefgehende empirische Bestätigung der bekannten Theorien.
Der Autor ist jederzeit präsent, nicht nur durch die Ich-Form des Schreibstils, sondern auch durch einzelne eingestreute persönliche Positionierungen, die als solche klar erkennbar werden. Die Regieanweisungen jeweils zum Kapitelende und -anfang sind redundant.
Da die zugrunde gelegten Theorien konstruktivistisch sind, sind es auch teilweise die Interpretationen (S. 150, Fußnote 8, S. 155). Daher verstehe ich den Untertitel nicht ganz: „Eine Anthropologie …“. Nach meinem Verständnis ist das Buch eher im Sinne eines Sozialkonstruktivismus geschrieben. In diesem Zusammenhang und vor dem Hintergrund seiner wirklich intensiven und extensiven Theorieaufarbeitung finde ich es verwunderlich, dass ihm die Leibphänomenologie von Schmitz entgangen ist. Er grenzt sich gegen einen Leibbegriff ab (S. 52 Fußnote 19), der aber eher aus der klassischen Phänomenologie stammt und mit der Neuen Phänomenologie nichts gemein hat. Warum greift er beim Raumverständnis, welches in seinem Kontext über den geometrischen Raum hinausgeht, auf Löw und die Soziologie zurück, wo doch die Neue Ästhetik (Atmosphärenkonzept) und die Humangeografie Aktuelleres zum Verhältnis von Mensch und Raum geschrieben haben? (S. 38: Setting als Raum eines sozialen Netzwerkes). Für die Überwindung des Dualismus zwischen Selbst und Kontext bieten die Konzepte des Gefühlsraumes, des Leibraumes, der leiblichen Kommunikation der Atmosphären als Gefühle etc. (Schmitz, Böhme, Fromm, Hasse) sicherlich interessante Hinweise, die einer Anthropologie näher kommen, als jeglicher Konstruktivismus. Vielleicht wäre eine Sekundäranalyse der Daten auf einer neophänomenologischen Basis durchaus interessant.
Fazit
Wienckes Werk ist eine umfassende empirische Studie, die weit über das übliche Dissertationsniveau hinausreicht und für die Psychologie sowohl theoretisch, wie auch methodisch eine Bereicherung sein wird. Durch die Präsenz des Autors – nicht nur im Feld, sondern auch im Buch – wird der Benefit von tatsächlichem interdisziplinärem Denken lebendig veranschaulicht. Es ist methodisch-systematisch vorbildlich, inhaltlich sehr umfassend und auf jeden Fall Disziplingrenzen sprengend.
Rezension von
Prof.Dr. Charlotte Uzarewicz
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