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Simone Danz: Behinderung. Ein Begriff voller Hindernisse

Rezensiert von Benjamin Haas, 12.09.2011

Cover Simone Danz: Behinderung. Ein Begriff voller Hindernisse ISBN 978-3-940087-83-6

Simone Danz: Behinderung. Ein Begriff voller Hindernisse. Fachhochschulverlag (Frankfurt am Main) 2011. 96 Seiten. ISBN 978-3-940087-83-6. 12,00 EUR.

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Thema

Eine gleichberechtigte Teilhabe Behinderter am gesellschaftlichen Leben ist Ziel der in 2009 verabschiedeten UN-Behindertenkonvention. Dass dies auch einer veränderten Bewusstseinsbildung im Umgang mit Behinderung und somit einer kulturwissenschaftlich inspirierten Analyse der Kategorie ‚Behinderung‘ bedarf, verdeutlicht Simone Danz in der vorliegenden Arbeit. Demnach ist es notwendig, neben der Rolle von Behinderung als Ordnungskategorie in wissenschaftlichen Diskursen auch die zugrunde liegenden kulturellen und symbolischen Bedeutungen nachzuzeichnen. So wird in der vorliegenden Arbeit der institutionelle und symbolische Bedeutungsgehalt der Kategorie ‚Behinderung‘ untersucht. Dabei richtet die Autorin zunächst den Blick auf die Funktion der Kategorie im behindertenpädagogischen Feld, bevor sie aus einer poststrukturalistisch-psychoanalytischen Perspektive zugrunde liegende Ordnungsmuster freilegt.

Autorin

Simone Danz studierte Erziehungswissenschaften an der Johann Wolfgang Goethe Universität in Frankfurt am Main und Hochschul- und Wissenschaftsmanagement an der Hochschule Bremen. Die hier vorgestellte Arbeit ist eine überarbeitete Fassung ihrer Diplomarbeit aus dem Jahre 2000, welche nun im Fachhochschulverlag veröffentlicht wurde. Derzeit arbeitet sie als Abteilungsleiterin im Bereich Qualitätsmanagement-Entwicklung-Planung an der Fachhochschule Frankfurt am Main. In ihrem Promotionsvorhaben mit dem Arbeitstitel/Thema ‚Vollständigkeit und Mangel. Das Subjekt in der Sonderpädagogik‘ beschäftigt sie sich mit der Fragestellung, ob ‚Normalität‘ nicht allein über die gesellschaftliche Zuweisung und Kontrolle produziert wird, sondern auch in der Funktionsweise des wahrnehmenden und denkenden Subjektes zu suchen sein könnte.

Aufbau

Den inhaltlichen Ausführungen gehen ein Vorwort von Vera Moser und ein anschauliches Schaubild (S. 7) zur gewählten Vorgehensweise voraus. Es folgt eine umfassende Einleitung in das Thema der Publikation. Hierbei wird sowohl auf die Umsetzung der UN-Behindertenkonvention Bezug genommen, als auch der Frage nach den Ursachen für negative Konnotationen bestimmter Begriffe nachgegangen.

Die Arbeit ist unterteilt in vier Kapitel, in welchen der Bedeutungsgehalt von Behinderung auf einer jeweils tieferen Ebene erschlossen wird. Im ersten Kapitel werden ordnende und definierende Funktionen innerhalb der Behindertenpädagogik dargestellt. Darauf folgt eine Betrachtung von Ordnungskategorien und dichotomen Zuschreibungen. Im dritten Kapitel werden Bedeutungsstrukturen als Grundlage der Kategorisierung erläutert, bevor abschließend nach Ursachen von negativen Konnotationen gesucht wird.

Inhalte

Im ersten Kapitel stellt die Autorin in kurzen Zügen die Begriffsgeschichte der Kategorie ‚Behinderung‘ im behindertenpädagogischen Diskurs dar. Hierbei liefert sie, nicht zuletzt mittels einer anschaulichen Tabelle (S. 25), einen Überblick über verschiedene Erklärungsansätze der Behindertenpädagogik. Ausgehend von der Kritik an individuumszentrierten Betrachtungsweisen stellt Danz verschiedene Ersetzungsversuche des Begriffes Behinderung vor und zeigt, dass den ursprünglichen Begriffen anfangs keine diskriminierende Bedeutung anhaftete. Es wird dargelegt, dass die Kategorie ‚Behinderung‘ im behindertenpädagogischen Kontext in erster Linie als Ordnungsinstrument und Sammelbegriff für „als abweichend empfundene menschliche Merkmale“ (S. 29) zu begreifen ist und dadurch besondere Erziehungsmethoden legitimiert.

Welche Ordnungskriterien als relevant erscheinen und auf welche Weise sie eine Reduktion von Komplexität leisten, ist Inhalt des zweiten Abschnittes. In Anlehnung an die Strukturierungsschemata der kognitiven Entwicklung nach Piaget, wird die Funktion von normativem, dichotomem Denken dargestellt. Danz hebt hierbei besonders das Problem der sozialen Konstruiertheit von Normalität hervor und zeigt, dass diese „durch die Handlungsmöglichkeiten in einer bestimmten gesellschaftlichen Situation bestimmt“ (S. 42) werden. Im Zuge dessen sind Bewertungen bzw. die mit den Handlungsmöglichkeiten verbundenen Werturteile stets auf das sprachliche System angewiesen.

Wie über unterschiedliche Begriffsbildungen Bedeutungen erzeugt werden, zeigt Danz im dritten Kapitel ausgehend von einer neostrukturalistischen Sichtweise. Hierbei geht sie neben dem Zusammenspiel von Bedeutungsstrukturen und Macht im Anschluss an Foucaults ‚Diskursanalyse‘ und dem Wechselspiel von Bedeutungsstrukturen und Sprache mittels Derridas ‚Methode der Dekonstruktion‘ auf die Relevanz des Unbewussten nach Lacan ein. So dient der Behinderungsbegriff der Reduzierung von Komplexität, zeigt aber auch Kennzeichen „der kollektiven Denk-Ordnung unserer Gesellschaft“ (S. 54). Folglich kann eine Abschaffung des Behinderungsbegriffs allein das Problem der Kategorisierung und der Erschaffung von Bedeutungen nicht lösen. Danz unterstreicht stattdessen, dass negative Konnotationen im individuellen Feld des Unbewussten bzw. im strukturellen Feld der Bedeutungen entstehen und von dort aus auf Gesellschaft und ihre Institutionen wirken.

Im vierten Kapitel ‚Vollständigkeit und Mangel‘ wendet sich die Autorin folgerichtig der Subjekt-Struktur des Menschen zu. Sie erläutert wodurch der negative Beigeschmack von Behinderung erzeugt wird und mit welchen gesellschaftlichen Sinnstrukturen dieser verbunden ist. Ausgehend von Lacans ‚Theorie des Unbewussten‘ und Rendtorffs Analyse von Geschlecht als binärer Kategorie, zeigt sie, dass die Ablehnung von Behinderung in ihrer Objektivation in der Regel durch eine ‚Verleugnung des Mangels‘ (S. 77) gekennzeichnet ist. Gleichzeitig werden dichotome Zuschreibungen im diskursiven Prozess mit Bezug auf ein anzustrebendes Ideal permanent erzeugt und bestätigt. Nach Auffassung Danz liegt darin ein noch zu wenig Beachtung findender Aspekt von Behinderung, die als schwerwiegende Kränkung des Menschen auf der Suche nach Vollständigkeit und somit als ‚menschliche Unvollkommenheit‘ zu verstehen ist. Behinderte Menschen dienen demnach als „eine Stütze für das Phantasma der Vollständigkeit, da sie dem nicht behinderten Gegenüber die Vollständigkeit zuweisen“ (S. 77). Daraus resultiert, dass die symbolische Ordnung und institutionalisierte Abwehr vor allem dann Hand in Hand gehen, wenn die institutionalisierte Besonderung eine Entlastung für die individuelle Bewältigung darstellt.

Im ihrem Fazit macht Danz deutlich, dass Behinderung unter anderem durch Mechanismen, die auf das Spiegelstadium nach Lacan zurückgehen, immer auf den Mangel verweist und man in der Begegnung mit dem behinderten Gegenüber seiner Nicht-Vollständigkeit erinnert wird. So hat der Autorin zu Folge „das Abrücken vom Begriff ‚Behinderung‘ allein keine Auswirkungen auf die darunter liegenden Bedeutungsstrukturen“ (S. 89), zumindest solange Ausgrenzung von Behinderung einen Teil unseres Denkens darstellt. Daher sollte die Behindertenpädagogik der sozialwissenschaftlichen Analyse ihres Gegenstandes im Allgemeinen und des symbolischen Repräsentationssystems ihrer Kategorien im Besonderen eine stärkere Beachtung schenken.

Diskussion

Mit ihrer Arbeit zeigt Simone Danz in prägnanter Weise eine notwendige Richtung für die Behindertenpädagogik auf. So scheint es erstrebenswert den Fokus der Behindertenpädagogik durch sozialwissenschaftliche Methoden über den institutionellen Kontext hinaus auf kulturwissenschaftliche Bedeutungen zu richten und den Behinderungsbegriff wissenschaftstheoretisch, individualtheoretisch und gesellschaftstheoretisch zu analysieren. Diese Perspektive für das behindertenpädagogische Feld fruchtbar zu machen, gebietet sich nicht zuletzt durch den erforderlichen Bewusstseinswandel im Umgang mit Behinderung im Sinne der UN-Konvention, sondern auch durch die kulturwissenschaftlich inspirierten Disability Studies.

Fazit

Aufgrund der knappen und äußerst übersichtlichen Darstellung sowie der stringenten Argumentation eignet sich die vorliegende Arbeit besonders für den Einstieg in das Gebiet der Behindertenpädagogik. Durch die Verweise auf die Bedeutung psychologischer und poststrukturalistischer Theorien ist sie aber auch für diejenigen mit einem Interesse an den Disability Studies zu empfehlen.

Rezension von
Benjamin Haas
Lektor für den Bereich Inklusion im Jugendalter an der Universität Bremen

Es gibt 4 Rezensionen von Benjamin Haas.

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ISSN 2190-9245