Elisabeth Höwler: Biografie und Demenz (herausforderndes Verhalten)
Rezensiert von Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind, 16.02.2012
Elisabeth Höwler: Biografie und Demenz. Grundlagen und Konsequenzen im Umgang mit herausforderndem Verhalten. Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2011. 237 Seiten. ISBN 978-3-17-021947-2. 29,90 EUR.
Thema
Demenzen sind hirnorganische Erkrankungen, die meist mit einem ständig fortschreitenden Abbau der geistigen und körperlichen Fähigkeiten verbunden sind. Der Bezugsrahmen für die Erklärung dieser pathologischen Prozesse besteht aus der Neurobiologie und der Medizin u. a. mit ihrer Teildisziplin Neurologie. Es muss hierbei jedoch angeführt werden, dass sowohl die Hirn- als auch die Demenzforschung noch nicht das Niveau allgemein verbindlicher Erkenntnisse in vielen Bereichen erreicht haben. Diese Unbestimmtheit in der Gegenstandserfassung geistiger Prozesse zeigt sich u. a. in der Vielzahl an Hypothesen und Erklärungsansätzen. Das fehlende Wissen wiederum bietet Raum für mannigfaltige Spekulationen und Phantastereien, wie an den unzähligen Modellen und Konzepten der psychologischen und sozialen Beeinflussung deutlich abzulesen ist. Ideenkonstrukte meist ohne Beleg ihrer Effektivität und Effizienz halten nun seit ca. 20 Jahren auch Einzug in die Demenzpflege und dominieren die fachliche Diskussion. In Deutschland sind in der Demenzpflege gegenwärtig noch die so genannten „personenzentrierten“ Modelle (u. a. Validation, Tom Kitwood und Erwin Böhm) tonangebend, die strikt eine biologisch-neurologische Fundierung der Demenz ablehnen. Die Autorin der vorliegenden Untersuchung ist eine Vertreterin dieser „personzentrierten“ Umgangsformen (siehe Rezension www.socialnet.de/rezensionen/4373.php).
Autorin
Die Autorin ist eine Diplom-Pädagogin, Pflegewissenschaftlerin (MScN) und Fachbuchautorin aus Dresden. Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um ihre Dissertation in Pflegewissenschaften an der Philosophisch-theologischen Hochschule Vallendar aus dem Jahr 2010 mit dem Titel „Entstehung von herausforderndem Verhalten bei Menschen mit Formen der Multi-Infarkt-Demenz und seniler Demenz vom Alzheimer-Typ in der Langzeitversorgung auf biografischer Ebene“.
Aufbau und Inhalt
Die Untersuchung ist in zwölf Kapitel untergliedert. In den ersten beiden Kapiteln („Monodisziplinäre Begriffsklärungen und Forschungsstand“ und „Einflussfaktoren auf herausfordernden Verhalten“) wird der theoretische Rahmen der Studie dargestellt. Die folgenden sechs Kapitel („Durchführung der Untersuchung“, „Biografisch-narrative Interviews“, „Verhaltensbeobachtungen“, „Cohen-Mansfield-Agitation-Inventory“, „Divergenzen zwischen den Demenztypen“ und „Zusammenfassung der Ergebnisse“) beschreiben die einzelnen Aspekte der Erhebung, während die vier anschließenden Kapitel („Erklärungsansatz zur Genese der Phänomens“, „Diskussion“, „Konsequenzen aus den Forschungsergebnissen“ und „Präventive Empfehlungen“) die eingehende Interpretation der Ergebnisse enthalten.
Die Autorin geht bezüglich der demenzspezifischen Verhaltensweisen wie u. a. ständige Unruhe, Bewegungsdrang und störende Lautäußerungen (so genanntes „herausforderndes Verhalten“) von der Annahme aus, dass diese Krankheitssymptome sich gegenwärtig noch nicht neurobiologisch erklären lassen. Daher plädiert sie für ein Konzept eines „multidimensionalen Menschenbildes“, das auf der Interdisziplinarität naturwissenschaftlicher und sozialpflegerischer Wissensbestände basiert. Gemäß dieser Prämisse konstruiert Höwler ein Rahmenkonzept von Einflussfaktoren, das neben neurobiologischen auch psychologische und soziale Wirkmechanismen zulässt.
Die Untersuchung wurde von Mitte März bis Ende November 2009 in sieben Pflegeheimen in Sachsen bei 26 demenzkranken Bewohnern durchgeführt und bestand erstens aus der Erstellung von biografisch-narrativen Interviews über die ersten drei Lebensjahrzehnte und zweitens aus Verhaltensbeobachtungen bei den Pflegehandlungen. Das Ergebnis dieser Untersuchung bestand aus einem „multifaktoriellen Phänomen“ der so genannten „herausfordernden Verhaltensweisen“ mit den Schwerpunkten
- biografische Deutung („unbewältigte schmerzliche Daseinsthemen der ersten drei Lebensjahrzehnte“: „Leben als Suche, als emotionale Unordnung und als Kampf“)
- die Heimsituation (Verlust vertrauter Lebensrhythmen, der Kontrolle über den persönlichen Raum und das Erleben der sozialen Isolation)
- das Verhalten der Pflegenden („personale Detraktionen“, bedrohlich wirkende Pflegehandlungen)
Im abschließenden Teil werden diese Resultate eingehend diskutiert unter den Aspekten der Forschungsfragen und der theoretischen Orientierungsansätze. Es folgen Ausführungen über die Konsequenzen für die Pflege und Empfehlungen für die Prävention.
Diskussion
Die vorliegende Studie wird den Anforderungen an eine wissenschaftliche Arbeit auf dem Niveau einer Dissertation nicht gerecht. Diese Einschätzung wird mit folgenden Argumenten belegt:
- Es fehlt ein dem Gegenstandsbereich angemessener Bezugsrahmen für die Erfassung des Stressverhaltens der Demenzkranken, der letztlich nur auf den Erkenntnissen der Neurowissenschaften und der Verhaltensbiologie entfaltet werden kann. Die von der Autorin angeführten Konzepte und theoretischen Konstrukte bilden keinen Erklärungszusammenhang für die Analyse und Interpretation der demenzspezifischen Verhaltensweisen, denn es fehlt die für eine empirische Erfassung erforderliche Konsistenz und Stringenz.
- Die Erfassung eines Gegenstandsbereiches im empirischen Kontext mit der Maßgabe der Ermittlung von Kausalzusammenhängen vollzieht sich hierarchisch im Sinne eines reduktionistischen Vorgehens. Die Autorin hingegen plädiert für ein gleichwertiges Nebeneinander der unterschiedlichen Wissensebenen in Gestalt von Handlungs- und Naturwissenschaften, ohne jedoch die hierbei auftretende wissenschaftstheoretisch unhaltbare Vermengung verschiedener Abstraktionsebenen der Seinserfassung erkannt und erklärt zu haben.
- Es fehlt die angemessene Auswertung der einschlägigen Fachliteratur. Ohne die Darstellung des Standes der Forschung im Bereich der Demenzpflege kann kein Referenzrahmen zur Interpretation der Forschungsergebnisse gebildet werden. Die vorliegenden Ergebnisse verbleiben somit auf dem Niveau bloßer Rohdaten ohne Erkenntnisgewinn.
- Die Einschätzungen der Autorin bezüglich der Verhaltensweisen sind äußerst spekulativ und eklektizistisch zugleich, wenn u. a. von „unerfüllten Lebenszielen“, „ungelebtem Leben“ und „Leibgedächtnis“ die Rede ist.
Fazit
Die vorliegende Untersuchung vermag aufgrund der fehlenden wissenschaftlichen Fundierung keinen Beitrag zur Vertiefung des Wissens über demenzspezifische Verhaltensweisen zu vermitteln.
Rezension von
Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind
Gerontologische Beratung Haan
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Zitiervorschlag
Sven Lind. Rezension vom 16.02.2012 zu:
Elisabeth Höwler: Biografie und Demenz. Grundlagen und Konsequenzen im Umgang mit herausforderndem Verhalten. Kohlhammer Verlag
(Stuttgart) 2011.
ISBN 978-3-17-021947-2.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/11940.php, Datum des Zugriffs 11.09.2024.
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