Günter Mey, Katja Mruck (Hrsg.): Grounded theory reader
Rezensiert von Prof. Dr. Christian Beck, 29.09.2011

Günter Mey, Katja Mruck (Hrsg.): Grounded theory reader. VS Verlag für Sozialwissenschaften (Wiesbaden) 2011. 468 Seiten. ISBN 978-3-531-17103-6. 39,95 EUR.
Thema
Die Grounded-Theory-Methodologie (GTM) ist einer der einflussreichsten Stile qualitativer Sozialforschung; der vorliegende Reader soll den aktuellen Stand überblicken und die Entwicklung und Perspektiven der GTM erfassen. Dazu präsentiert der Reader nicht nur eine breite Palette jetziger ExpertInnen, sondern greift auch zu auf Texte der Begründer: die Soziologen Barney Glaser und Anselm Strauss. Ebenso kommen deren direkte Schülerinnen mit ihren Varianten der GTM zu Wort. Gut die Hälfte der Beiträge erscheint erstmals in deutscher Übersetzung. Auch LeserInnen ohne einschlägige Vorkenntnis sollen angesprochen werden.
Herausgeber und Herausgeberin
Prof. Dr. Mey und Dr. Mruck leiten das Institut für Qualitative Forschung der Internationalen Akademie für innovative Pädagogik, Psychologie und Ökonomie gGmbH an der Freien Universität Berlin. Dort geben sie die Zeitschrift „Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research“ heraus: eine mehrsprachige, frei zugängliche Publikation im Internet.
Entstehungshintergrund
Die erste Auflage der Textsammlung erschien 2007 als Ergänzungsteil der Zeitschrift „Historical Social Research / Historische Sozialforschung“ (GESIS, Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften). Angesichts der Unübersichtlichkeit, die sich in der rund 40-jährigen Entwicklung der GTM herausgebildet hatte, sollte der Reader sowohl einen Einstieg in die GTM erleichtern als auch Forschenden und Lehrenden, die schon mit der GTM bekannt sind, weitere Anregung geben. In der nun zweiten Auflage haben Mey und Mruck neun Beiträge hinzugefügt und dafür sechs Beiträge herausgenommen; deshalb handele „es sich eher um eine Neuauflage“ (Vorwort, S. 9). Es sollte dadurch die „Bandbreite der verschiedenen Verständnisse von GTM“ berücksichtigt werden (ebd.).
Aufbau
Der Haupttext beginnt mit einer Einführung von Mey und Mruck, die 38 S. umfasst. Sodann gliedern sich die Beiträge in vier Teile:
- Der erste Teil stellt Interviews mit zentralen VertreterInnen der GTM vor,
- der zweite präsentiert deren Positionen anhand von Ausschnitten aus der Primärliteratur,
- der dritte Teil diskutiert einige aktuelle Kontroversen um die GTM und
- der vierte reflektiert wichtige Forschungsschritte aufgrund praktischer Erfahrung.
Jedem der Teile geht ein 1- bis 2-seitiges Editorial voran; es folgen zwischen drei und sechs Beiträge: Am umfangreichsten ist „Teil IV: Praxisreflexionen“ mit 146 S., am kürzesten „Teil III: Kontroversen“ mit 63 S. Der Band endet mit einem Personenregister (7 S.) und einem Sachregister (4 S.).
Inhalt
Die Einführung von Mey und Mruck gilt der Entwicklung, dem Stand und den Perspektiven der GTM. Im Zentrum stehen die wichtigsten Begriffe und ein Grundverständnis des Forschungsstils. Es soll dadurch ein Rahmen für das Lesen der Beiträge geschaffen werden. Dabei skizzieren Mey und Mruck schon verschiedene Spielarten der GTM, die nicht immer miteinander verträglich sind – Mey und Mruck heben jedoch grundlegende Gemeinsamkeiten hervor.
Der Interviewteil beginnt mit getrennten Interviews mit Glaser und Strauss – wobei auch deren methodologische Differenzen, die sich zunehmend herausbildeten, angesprochen werden (gemäß den eher positivistischen oder interaktionistischen Ursprüngen). Anschließend folgen drei Interviews mit wichtigen Vertreterinnen der zweiten Generation der GTM: Juliet Corbin, Kathy Charmaz und Adele Clarke. Alle drei neigen eher der straussschen Seite zu,
- wobei Corbin für ihre Co-Autorinnenschaft mit Strauss bekannt ist,
- Charmaz eine konstruktivistische Variante der GTM entwickelt hat und
- Clarke einen postmodernistischen Entwurf vertritt.
Mit Ausnahme des 1996 verstorbenen Strauss sind alle diese AutorInnen mit neueren Beiträgen im folgenden Teil „Positionen“ vertreten. Hier sind die Unterschiede zwischen den Varianten noch einmal stärker systematisiert zu erkennen.
Die am weitesten gegenüber der ursprünglichen GTM entwickelte Variante ist Clarkes „Situational Analysis“; dem 2005 veröffentlichten gleichnamigen Buch entstammt der hier erstmals ins Deutsche übersetzte Textausschnitt (eine vollständige Übersetzung des Buches soll im Dezember 2011 erscheinen). Ihren Ansatz versteht Clarke als eine Richtungsänderung, was sich vor allem an folgenden Merkmalen festmachen lässt:
- Ein zentrales Anliegen Clarkes ist es, Komplexität darzustellen. Sie löst sich dazu von der Fokussierung auf Prozesse menschlichen Handelns, durch die GTM-Studien oft gekennzeichnet sind; stattdessen versucht sie breit angelegte Situationen empirisch möglichst umfassend zu konstruieren, einschließlich des „Nicht-Menschlichen in unserer komplexen Situiertheit“ (S. 209).
- Clarke gebraucht dazu analytisch drei Arten von grafisch-textlichen „Landkarten“, Maps, die sie zur jeweiligen Situation erstellt: benannt als „Situations-Maps“, „Maps von sozialen Welten/Arenen“ und „Positions-Maps“ (S. 210 f.; ohne Hervorhebungen).
- Zentriert hat Clarke die Situationsanalyse um den Diskursbegriff, für den ihr Michel Foucault (der Philosoph, Sozialtheoretiker und Ideengeschichtler) der wichtigste Gewährsmann ist – das bedeutet eine ungewöhnliche Erweiterung der GTM.
Der Teil über Kontroversen setzt an der Streitigkeit zwischen Glaser und Strauss an. So handeln die Beiträge von deren sozialtheoretischen Positionen, von den unterschiedlichen Formen des Kodierens und den logischen Formen des Schließens: Induktion vs. Abduktion. Die Autoren (Udo Kelle, Jörg Strübing und Jo Reichertz) arbeiten nicht nur die Kontroversen heraus, sondern nehmen auch selbst dazu Stellung.
In den Praxisreflexionen, mit denen der Haupttext schließt, geht es um Fragen, von denen sich AnwenderInnen der GTM oft verunsichern lassen oder die ihnen unklar sind. Dies betrifft beispielsweise Prozeduren des Kodierens, die Bildung von Kategorien oder Auswertungen mithilfe des Computers. Im letzten Beitrag widmen sich die Herausgebenden zusammen mit Franz Breuer der „Frage der Subjektivität und Selbstreflexivität im Kontext von GTM-Studien“ (Editorial des vierten Teils, S. 302). Sie wollen „der irrigen Annahme einer GTM-Rezeptur entgegen[stehen] und fordern stattdessen (auf), Forschung als aktives Handeln von Akteuren zu begreifen und umzusetzen“ (Vorwort, S. 9; Hervorhebung im Original).
Diskussion
Den Herausgebenden ist es gelungen, die Vielfalt heutiger GTM abzubilden und dabei einen interessanten Reader zu gestalten. Weil sich fehlende Übersetzungen im deutschsprachigen Raum immer noch als Hindernis erweisen, die GTM in ihrer Breite zu rezipieren, bergen die hier vorgelegten Texte viele Anregungen.
Vor allem EinsteigerInnen (Studierenden sowie Lehrenden und Forschenden) ist die Einführung von Mey und Mruck sehr zu empfehlen. Mit einer Reihe von Beiträgen wird es jedoch schwieriger, denn sie sind in erster Veröffentlichung oft für ein Fachpublikum geschrieben worden – zumindest für LeserInnen mit Grundkenntnissen. Hier ist das Sachregister eine Hilfe, um sich verschiedene Themen quer über die Beiträge anzueignen.
Eine Grenze hat der Band allerdings darin, dass gerade im zweiten Teil, der Darstellung der Positionen, manches etwas abstrakt bleibt, weil der Reader keine beispielhaften Studien enthält – am besten könnten diese in Form jeweiliger Forschungsaufsätze präsentiert werden. Bei der Darstellung der „Situational Analysis“, der aktuell spannendsten Weiterentwicklung der GTM, ist dies am deutlichsten zu spüren (hier hilft es im Moment am meisten, Clarkes Buch im Original zu lesen).
Die Qualität der Beiträge ist durchweg gut. Das Lesen würde noch etwas erleichtert, wenn englischsprachige Zitate in den Beiträgen ebenfalls ins Deutsche übersetzt würden.
Fazit
Hier liegt eine Textsammlung vor, die in der deutschsprachigen Literatur zur Methodologie der Grounded Theory eine bedeutende Lücke schließt – ein Reader, der an Aktualität, Systematik und Zentralität kaum etwas zu wünschen übrig lässt.
Rezension von
Prof. Dr. Christian Beck
Pädagogische Forschung und Lehre
Website
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