Dieter Thomä, Christoph Henning u.a. (Hrsg.): Glück. Ein interdisziplinäres Handbuch
Rezensiert von Prof. Dr. Gregor Husi, 27.04.2012

Dieter Thomä, Christoph Henning, Olivia Mitscherlich (Hrsg.): Glück. Ein interdisziplinäres Handbuch. J. B. Metzler’sche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH (Stuttgart, Weimar) 2011. 466 Seiten. ISBN 978-3-476-02285-1. D: 49,95 EUR, A: 51,40 EUR, CH: 77,00 sFr.
Thema
Glück – ein Thema, das die Nachdenklichen schon seit alters beschäftigt. Es scheint, als verhielte es sich mit ihm wie mit der Zeit, zu der Augustinus einmal anmerkte, nur solange man ihn nicht frage, was sie sei, wisse er, was sie sei. In welchem Verhältnis wohl die Anzahl der Veröffentlichungen über Glück zum tatsächlichen Empfinden von Glück steht? Bei der Herausgabe eines Handbuchs über Glück jedenfalls gibt es mittlerweile viel zu tun. Der Metzler-Verlag, sehr erfahren in der Publikation von Handbüchern, hat sich an die Aufgabe gewagt, die unzähligen Aspekte von Glück aus vielen verschiedenen Disziplinen zusammenzustellen. Daraus ergibt sich ein ungemein facettenreiches Bild – ob es glücklich macht? Adorno merkte einmal an, wer sage, er sei glücklich, lüge. Was hat es damit auf sich?
Herausgeber und Herausgeberin
- Dieter Thomä ist Professor an der Universität St. Gallen.
- Christoph Henning ist Dr. phil. und Leiter eines Forschungsprojekts zur politischen Philosophie an der Universität St. Gallen.
- Olivia Mitscherlich-Schönherr ist Dr. phil. und Koordinatorin des Graduiertenkollegs «Lebensformen und Lebenswissen» an der Universität Potsdam.
Aufbau
Das Handbuch beginnt mit einer zehnseitigen Einleitung der Herausgeberschaft. Hier kommen wichtigste Aspekte des Themas ein erstes Mal zur Sprache.
Das erste Kapitel geht sodann der «Semantik des Glücks» in zehn Sprachen nach. Das führt über die gegenwärtigen zentraleuropäischen Sprachen hinaus in die Antike. Auch Russisch, Arabisch, Hebräisch, Persisch und Chinesisch werden auf ihre Glücksbedeutungen hin untersucht. Während die deutsche Sprache mit demselben Wort «Glück» sowohl das Zufallsglück als auch das Glücksempfinden bezeichnet, unterscheiden andere Sprachen zwischen luck und happiness, chance und bonheur, eutychia und eudaimonia, fortuna und beatitudo.
Die «Systematik des Glücksdenkens» ist Gegenstand des zweiten Kapitels. Glück wird zwischen Sinnlichkeit und Geist angesiedelt, bei Arbeit und Musse verortet sowie zu Moralität, Schönheit, Sinn, Zeit, Schicksal und Zufall, Liebe, Gesellschaft und Politik, Sport und schliesslich zu Utopie in Beziehung gesetzt.
Die nachfolgenden vier Kapitel orientieren sich nicht mehr primär semantisch und systematisch, sondern historisch. Sie sind aufgeteilt auf die Antike, das Mittelalter und die frühe Neuzeit, das 18. und 19. Jahrhundert sowie das 20. und beginnende 21. Jahrhundert. Hier wird Glück besonders vor dem Horizont der abendländischen Philosophietradition abgehandelt. Die Erörterungen setzen bei Platon ein, und einzelne Unterkapitel gelten immer wieder mal bestimmten Autoren, etwa den philosophischen «Riesen» Spinoza, Kant oder Nietzsche. Andere Unterkapitel widmen sich philosophischen Richtungen bzw. Schulen, Epochen, oder sie sind thematisch gehalten, so zum Beispiel, wenn es um «Kalkülisierung», um die mittelalterliche und frühneuzeitliche Alltagskultur oder revolutionäres Denken geht. Auch unterschiedliche literarische Gattungen werden untersucht. Je mehr man sich der Gegenwart nähert, desto mehr geraten sogar Ratgeberliteratur, Popmusik, Film und zeitgenössische Kunst in den Blick.
Das Problem geographisch-kultureller Auslassungen wird dabei insofern gelöst, als das nachfolgende Kapitel auf das «Glück in den Religionen» fokussiert. Religionen suchen das Glück mit Glückseligkeit noch zu überbieten. Auch hier musste sich die Herausgeberschaft eine gewisse Beschränkung auferlegen. Thematisiert werden Taoismus, Konfuzianismus, Hinduismus, Buddhismus, Judentum, Christentum und Islam.
Schliesslich eröffnet das letzte Kapitel Einblicke in dreizehn «aktuelle Debatten». Zum einen handelt es sich um disziplinäre Diskurse, nämlich aus Biotechnik, Neurowissenschaften, Psychopharmakologie, Sozialpsychologie, Wirtschaftswissenschaft, Organisationstheorie, Konsumsoziologie, Architektur, Pädagogik und Theologie. Zum anderen werden das Glück der Tiere besprochen sowie Forschungsresultate zum Glück als subjektivem Wohlbefinden präsentiert. In diesem letzten Kapitel gehen denn auch empirische Befunde in die Texte ein.
Der Anhang enthält sodann ein Literaturverzeichnis, ein Bildquellenverzeichnis, Angaben zu Autorinnen und Autoren sowie ein Personenregister. Ein Sachregister fehlt.
Inhalt
John Stuart Mill stellte einmal fest, dass man ohne Glück auskommen könne, sei nicht zu bezweifeln, denn es kämen «neunzehn Zwanzigstel der Menschheit ohne Glück» aus. Angesichts dessen fragen sich die Herausgeberin und Herausgeber in ihrer Einleitung, warum man sich überhaupt mit Glück befassen soll. Zumal: «Wer sich mit dem Glück befasst, spürt den Stachel bedrückender Lebensverhältnisse, bedrohlicher Zukunftsaussichten oder vernichtender Kriege» (S. 1). Und trotzdem würden, so schon Aristoteles zu Beginn seiner Nikomachischen Ethik, alle Menschen nach Glück streben. «Hartnäckig, geradezu unverwüstlich ist das Glück», heisst es deshalb in der Einleitung des Handbuchs (S. 1). Aristoteles blieb nicht verborgen, dass verschiedene Menschen unterschiedliche Vorstellungen von Glück haben, ja, dass sich sogar die Vorstellungen ein und desselben Menschen im Zeitverlauf je nach Lebensumständen verändern können. Der römische Philosoph Marcus Terentius Varro soll schon 288 Bestimmungen des Glücks gezählt haben. Paradoxerweise droht das Glück in dem Augenblick zu entgleiten, in dem man es zu bestimmen, bewusst zu erleben und festzuhalten versucht. Und dennoch: «Zum Glück gehört, dass man es zur Sprache bringt, dass man es mit der Sprache gewissermassen umgarnt, mit-teilt und mit anderen teilt» (S. 2). Ob und wie Glück sich im Zusammenspiel von äusseren Umständen und inneren Dispositionen ergibt, ist umstritten. Die einen setzen auf – bestimmte – äussere Einflüsse, die anderen dagegen auf eigene Haltungen und Wünsche. Viele verteilen den Einfluss gleichgewichtig auf beide Seiten, das Zusammenwirken sei das Entscheidende. «Das Glück wird Personen zuteil, die in einer Welt leben; demnach gilt es deren Eigenart zu beschreiben – also etwa ihre Geistigkeit und Sinnlichkeit, ihre Zeitlichkeit, ihre Sinnhaftigkeit –, zugleich geht es darum, die Personen in ihrem Kontext zu verorten, der von liebenden Beziehungen zu anderen bis zur politischen Ordnung reicht» (S. 8).
Glück hat seinen Platz im menschlichen Erleben. «Glück ist nichts Gegebenes, Greifbares, es wird eben – ‹erlebt›» (S. 4). Es ist befristet, kann sich auf kurze oder lange Fristen beziehen: Dem – episodischen – Glücksmoment steht das – holistische – Lebensglück, das Glück eines gelingenden Lebens, gegenüber. Die Zeitlichkeit verdoppelt sich gleichsam, indem zur Unterscheidung von Moment und Dauer jene von Vorher und Nachher hinzukommt. «Zum Glück gehört ein Drama, in dem Moment und Dauer, der Lebens-Wandel mit Veränderungen zum Besseren und Schlechteren aneinandergeraten» (S. 4).
Auch wenn Menschen nach Glück streben, so ist es ihnen nicht einfach möglich, es durch ihr Handeln zu erreichen. Eher wird ihnen Glück geschenkt. Das glückverfolgende menschliche Tun ist eher ein, wie Martin Seel es ausdrückt, Zutun. So vielseitig wie die Vorstellungen vom Glück sind allerdings auch die Vorstellungen von der Machbarkeit des Glücks. In unserer Zeit resultiert daraus schliesslich der Gedanke, jeder Mensch möge nach seiner eigenen Fasson glücklich werden. Die empirische Forschung untersucht nun die Quellen subjektiven Wohlbefindens. Mit dieser Individualisierung des Glücks vollzieht sich auf philosophischem Boden auch eine Abkehr vom Glück. Dies hat vor allem Kant zu verantworten, der Freiheit und nicht Glück als oberstes ethisches Kriterium einsetzt. Durch die Entmoralisierung der Glücksvorstellungen drängt sich aber die Frage nach dem Verhältnis von individuellem und kollektivem Glück, von Wohlbefinden des einzelnen Menschen und allgemeiner Wohlfahrt auf. Glück tritt denn in Erscheinung «als Linderung von Leid, sinnliche Erfahrung, Lust, Genuss, Freude, Selbstvergessenheit, Selbstbestimmung, Zufriedenheit, Frieden, Harmonie, Versöhnung, Wohlbefinden, Gemeinwohl, Wohlfahrt, Zufallsglück etc.» (S. 7).
Zum Schluss ihrer Einleitung tun die Herausgeberin und Herausgeber kund, dass sie schmerzhafte Entscheidungen bei der Auswahl der Inhalte hatten treffen müssen. Insbesondere ein «interkulturelles Handbuch» herauszugeben, sei eine grosse Verlockung gewesen. Das interkulturelle Moment kommt immerhin vor allem mit der Betrachtung zahlreicher Sprachen im Kapitel zur Semantik und mit der Darstellung einiger Weltreligionen zu seinem Recht.
Soweit die Einleitung. Die Inhalte des Handbuchs sind bis dahin angedeutet, referiert können sie natürlich nicht werden. Es sei aber ein Beispiel herausgegriffen: die Kritische Theorie der Frankfurter Schule. Spannend und spannungsvoll sind hier die Glücksvorstellungen, denn immerhin glaubte Adorno bekanntlich, es gäbe kein richtiges Leben im falschen, und das meinte ausdrücklich auch, es gäbe kein richtiges Bewusstsein im falschen Leben. Im Vergleich zu Adorno und Horkheimer waren Marcuse, Fromm und Benjamin dem Prinzip der Negativität weit weniger verhaftet. «Ich bekenne mich zur kritischen Theorie; das heisst, ich kann sagen, was falsch ist, aber ich kann nicht definieren, was richtig ist», heisst es über dieses Prinzip einmal bei Horkheimer. Auf Glücksvorstellungen stösst man allerdings bei allen Kritischen Theoretikern: ohne Angst verschieden sein, sinnliche Erfüllung, geschlechtliche Vereinigung, auf dem Wasser liegen und friedlich in den Himmel schauen, Umfangensein – Nachbild der Geborgenheit in der Mutter (Adorno); ungehinderte Entfaltung, freie Entwicklung der Individuen (Horkheimer); die produktive Verwirklichung seiner Möglichkeiten, Einssein mit der Welt, Bewahren der Integrität seines Selbst (Fromm); ohne Schrecken seiner selbst inne werden können, das Unerhörte, Niedagewesene (Benjamin); Selbstbestimmung, Erfahrung einer libidinösen Einheit (Marcuse). Solche Umschreibungen von Glück finden sich in den Texten der Frankfurter Schule. In dem Masse, wie das rechte Leben die Kritischen Theoretiker der nachfolgenden Generationen mehr beschäftigen wird als das gute Leben, verschwindet das Thema des Glücks immer mehr aus deren Reflexionen.
Zum Schluss sei aber noch das Geheimnis gelüftet, warum lüge, wer sage, glücklich zu sein, so die eingangs erwähnte Einschätzung Adornos. Schon Schiller stellt fest: «Spricht die Seele, so spricht ach! Schon die Seele nicht mehr». Darum geht es auch Adorno. Bloss Bruchstücke, nicht jedoch das ganze folgende Zitat aus seinen «Minima Moralia» finden sich im Handbuch: «Mit dem Glück ist es nicht anders als mit der Wahrheit: Man hat es nicht, sondern ist darin. Ja, Glück ist nichts anderes als das Umfangensein, Nachbild der Geborgenheit in der Mutter. Darum aber kann kein Glücklicher je wissen, dass er es ist. Um das Glück zu sehen, müsste er aus ihm heraustreten: er wäre wie ein Geborener. Wer sagt, er sei glücklich, lügt, indem er es beschwört, und sündigt so an dem Glück. Treue hält ihm bloss, der spricht: ich war glücklich. Das einzige Verhältnis des Bewusstseins zum Glück ist der Dank: das macht dessen unvergleichliche Würde aus». Wenn solche Zitate nicht glücklich machen! Doch halt!
Diskussion
Für das Handbuch konnten namhafte Beiträgerinnen und Beiträger gefunden werden. (Martin Seel hätte man gerne unter den Autoren gesehen.) Dass mehrere Autorinnen und Autoren für mehrere Beiträge verantwortlich zeichnen, gereicht der Publikation zum Vorteil. Die Beiträge sind dicht und kompetent verfasst. So besitzt das Handbuch noch eine überschaubare Grösse. Im Kapitel über aktuelle Debatten hätte man sich einen Text aus der Perspektive der Sexualwissenschaft gewünscht. Auch werden die Glücksmöglichkeiten am Rand der Gesellschaft und am Rand der Weltgesellschaft nicht ausgeleuchtet.
Fazit
Das Handbuch über Glück ist ein Glückshandbuch, ein Glücksfall. Es wäre von unschätzbarem Wert, wenn die angesprochenen interkulturellen Lücken in künftigen Publikationen geschlossen werden könnten. Die Handbuch-Lektüre verheisst jedenfalls viel …
Rezension von
Prof. Dr. Gregor Husi
Professor an der Hochschule Luzern (Schweiz). Ko-Autor von „Der Geist des Demokratismus – Modernisierung als Verwirklichung von Freiheit, Gleichheit und Sicherheit“. Aktuelle Publikation (zusammen mit Simone Villiger): „Sozialarbeit, Sozialpädagogik, Soziokulturelle Animation“ (http://interact.hslu.ch)
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Zitiervorschlag
Gregor Husi. Rezension vom 27.04.2012 zu:
Dieter Thomä, Christoph Henning, Olivia Mitscherlich (Hrsg.): Glück. Ein interdisziplinäres Handbuch. J. B. Metzler’sche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH
(Stuttgart, Weimar) 2011.
ISBN 978-3-476-02285-1.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/11960.php, Datum des Zugriffs 31.05.2023.
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