Dario Deloie: Soziale Psychotherapie als Klinische Sozialarbeit
Rezensiert von Dr. phil. Gernot Hahn, 10.01.2012
Dario Deloie: Soziale Psychotherapie als Klinische Sozialarbeit. Traditionslinien – Theoretische Grundlagen – Methoden. Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG (Gießen) 2011. 250 Seiten. ISBN 978-3-8379-2126-7. D: 24,90 EUR, A: 25,60 EUR, CH: 37,90 sFr.
Thema
Soziale Arbeit und Psychotherapie sind in Deutschland in der Vergangenheit als getrennte Bereiche gedacht und praktiziert worden, bzw. übernahmen die angewandten Sozialwissenschaften schlicht psychotherapeutische Paradigmen und Methoden, dann unter Verlust der handlungswissenschaftlichen Bezugspunkte der Disziplin und Profession Sozialer Arbeit. Unter Bezugnahme auf das US-amerikanische Modell des „Clinical Social Work“ entstand in den vergangenen 15 Jahren in Deutschland eine sich als behandelnd verstehende Klinische Sozialarbeit, wobei es auch hier zum Teil zu einer Integration psychotherapeutischer Methodik, bzw. deren Weiterentwicklung gekommen ist. Angewandt auf soziale Probleme entstand so ein sozialtherapeutischer Ansatz Klinischer Sozialarbeit. Im vorliegenden Band erfolgt eine weitere Bezugnahme auf die amerikanische Tradition des Clinical Social Work, die Soziale Psychotherapie, wodurch der Autor die Lücke zwischen ärztlicher und psychologischer Psychotherapie geschlossen sieht.
Autor
Dario Deloie ist Fachsozialarbeiter für Klinische Sozialarbeit (ZKS) mit abgeschlossener Weiterbildung in Integrativer Therapie/Gestalttherapie. Nach Tätigkeit in einer sozialpsychiatrischen Einrichtung leitet er derzeit als Suchttherapeut eine Entwöhnungsstation für alkohol- und medikamentenabhängige Menschen. Die vorliegende Arbeit wurde als Masterthesis von der Hochschule Koblenz angenommen.
Aufbau und Inhalt
„Soziale Psychotherapie als Klinische Sozialarbeit“ ist in drei Abschnitte unterteilt.
- Teil eins beschäftigt sich mit dem historischen Hintergrund Sozialer Psychotherapie,
- Teil zwei definiert die wissenschaftlichen Grundlagen Klinischer Sozialarbeit.
- Der dritte Abschnitt bezieht sich auf „Soziale Psychotherapie als Wissenschaft“ und führt unterschiedliche psychotherapeutische Konzepte und Referenztheorien mit einer sozialen Perspektive zusammen.
Deloie greift im ersten Abschnitt zunächst die amerikanischen Wurzeln Klinischer Sozialarbeit auf. Er bezieht sich auf die Pionierinnen des Clinical Social Work, u. a. Mary Richmond und deren grundlegende Arbeiten zu „Social Diagnosis“ und „Social Therapy“ und der in der amerikanischen Sozialarbeit gewachsenen Tradition Sozialer Arbeit, welche Psychotherapie als methodischen Baustein Klinischer Sozialarbeit aufgegriffen und weiter entwickelt hat. Zentraler Aspekt dieser Tradition ist die soziale Perspektive individueller Problemlagen, also das Verständnis psychischer Probleme und Störungen in ihrer sozialen Verwurzelung, bezogen auf Entwicklung und Symptomatik. Der daraus entwickelte Behandlungsansatz fokussiert, stärker als traditionelle Psychotherapie, auf eine psycho-soziale Diagnostik und Behandlungsplanung, das Modell amerikanischen Caseworks und der „Social Therapy“. Als weiteren bedeutsame Aspekte benennt Deloie die „Functional School“, welche stärker auf die gegenwärtigen Gegebenheiten, anstatt auf historische Momente biografischer Zusammenhänge verwies und auf Problemlösungsansätze in der therapeutischen Sozialarbeit („Problem-Solving-Approach“), wodurch eine Synthese ich-psychologischer und lerntheoretischer Erkenntnisse und eine Dimensionierung der Problemlösung als kognitivem und emotionalem Prozess erreicht wurden. Als weiteren wichtigen Aspekt Klinischer Sozialarbeit benennt Deloie abschließend ein verhaltenstherapeutisches Paradigma. d. h. das Verständnis konkreten Verhaltens in einer bestimmten Umgebung („Person-in-Environment“-Perspektive), die Bedeutsamkeit des Modell-Lernens und das Verhältnis von Verhalten und innerem Erleben. Die unterschiedlichen Quellen einer therapeutischen, d. h. behandelnden Klinischen Sozialarbeit in der amerikanischen Tradition fasst Deloie abschließend in einer „Synopse des amerikanischen Casework“ zusammen, wodurch ein hervorragender Überblick über die verschiedenen psychotherapeutischen Bezugnahmen und deren Verarbeitung im Social Casework gewonnen wird.
Als zweiten Entwicklungsstrang beschreibt Deloie die Geschichte der Deutschen Klinischen Sozialarbeit von ihren Anfängen bei Alice Salomon (Soziale Diagnose und Therapie), die Tradition der Psychoanalytischen Sozialarbeit (wodurch die biografische Dimension psychischer und sozialer Probleme in den Vordergrund gerückt wurden), die Rezeption der zuvor beschriebenen amerikanischen Einzelfallhilfe im Nachkriegsdeutschland, die Phase der „Therapeutisierung Sozialer Arbeit“ ab den 1970er Jahren (wodurch eine Rezeption psychotherapeutischer Konzepte, allerdings ohne Rückkoppelung an Sozialarbeitswissenschaftliche Grundlagen erfolgte), die Ausbildung spezieller Sozial-Therapeutischer Arbeitsfelder (wie Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie) bis hin zur Entwicklung moderner Klinisch-Sozialarbeiterischer Konzepte, Theoriebildung und Ausbildungsmöglichkeiten (mit einer stärkeren Betonung des Gesundheitsbezugs, das sozio-bio-somatische Modell von Gesundheit und Krankheit und Ressourcenorientierung, sowie Sozialarbeitsforschung). Auch dieses Kapitel endet mit einer Synopse therapeutischer Sozialarbeit, bezogen auf die deutschen Entwicklungslinien und -traditionen.
Abschließend formuliert Deloie den zentralen Aspekt Sozialer Therapie/Klinischer Sozialarbeit: das Verständnis individueller Problemlagen als soziales Phänomen, d. h. die Verwurzelung und Verwobenheit psychischer und sozialer Prozesse, welche in psycho-sozialer Diagnostik benannt und in der Behandlungsplanung (mit individueller und sozial-struktureller Zielsetzung) entsprechend aufgegriffen werden müssen.
Teil zwei des Bandes beschäftigt sich mit „Klinischer Sozialarbeit als Basis Sozialer Psychotherapie“ als innovative Fachsozialarbeit. Dem Autor geht es hier um die methodische Konzeptionalisierung Klinischer Sozialarbeit, die er als eigenständigen Beitrag gesundheitsbezogener Disziplinen, neben Medizin und Klinischer Psychologie auffasst. Bausteine Klinischer Sozialarbeit sind für Deloie Soziale, bzw. Psychosoziale Beratung, die von Autoren wie Ansen, Pauls, Schaub oder Crefeld formuliert wurde. Deloie hebt weiter auf den gesellschaftlichen Bezug Klinischer Sozialarbeit ab, ihre sozial-politische Verankerung, indem die Disziplin als „Spezialdisziplin für soziale Ungleichheit und Benachteiligungen“ (77) innerhalb des Sozial- und Krankenversorgungssystems gerichtet ist. Eine auf die soziale Dimension ausgerichtete Klinische Sozialarbeit ist (hier bezieht sich Deloie auf die Arbeiten Heinz-Alex Schaubs) durch einen niederschwelligen Ansatz, Familienorientierung, Care-, Case- und Disease-Management, Beratung, Ressourcenorientierung, das Salutogenesekonzept, multidisziplinäres Denken und Handeln, sowie Gesundheitspädagogik und -förderung charakterisiert. Deloie formuliert, dass ein spezialisiertes Psychosoziales Beratungsangebot innerhalb der Klinischen Sozialarbeit als „Psychotherapie im weiteren Sinne“ bezeichnet werden könne, sozusagen als „Psychotherapy plus“, wie auch Dorfman formuliert. Als weitere zentrale Interventionsstrategie nennt Deloie die Sozialtherapie, bzw. Soziotherapie, die er mit Bezug auf Ortmann, bzw. Pauls (der auch den Begriff der Psycho-Sozialen Behandlung verwendet) als eigenes handlungswissenschaftliches Paradigma mit eigenem Verstehensmodell von sozialen Problemlagen, eigenen Handlungsmodellen und ausgewiesener methodischer Kompetenz in Diagnostik, Intervention und Evaluation definiert. Gegenstand einer solchen Sozialen Therapie sind demnach „soziale Problemlagen die … auch [als] ‚Störungen in der sozialen Dimension biopsychosozial zu verstehender Gesundheit? zu [be]nennen ist“ (80). Entsprechend dieser Konzeption zielen die Interventionen Klinischer Sozialarbeit auf Veränderungen im Klientensystem und in den Umgebungsfaktoren. Auch der zweite Abschnitt fasst die einzelnen konzeptionellen Ansätze und Theoriestränge Klinischer Sozialarbeit in einer Synopsis zusammen.
Im dritten Teil unternimmt Deloie den Versuch der Konzeptualisierung einer Sozialen Psychotherapie, wozu er zunächst unterschiedliche Psychotherapieansätze (u. a. Petzold und Strotzka) und bezugswissenschaftliche Zugänge (Psychodynamik, verhaltenstherapeutische, humanistische und systemtherapeutische Ansätze, sowie schulenübergreifende Überlegungen zu Wirkfaktoren in der Psychotherapie) referiert. Aus Sicht der Klinischen Sozialarbeit kritisiert er die (gesetzlichen) Rahmenbedingungen als zu stark an einem individuumzentrierten, pathogenetischen Paradigma orientiert, wodurch weitergehende (soziale) Dimensionen der Psychotherapie, etwa Persönlichkeitsentwicklung, Gesundheitsförderung oder Gesellschaftskritik ausgeschlossen werden würden.
In Bezugnahme auf die referierten Psychotherapiekonzepte, die vorgestellten Entwicklungslinien Sozialer Arbeit und als Ableitung aus seiner Kritik an den etablierten psychologischen und medizinisch-pychotherapeutischen Therapieformen formuliert Deloie schließlich seinen „Versuch einer Definition Sozialer Psychotherapie“ (105) aus Sicht der Klinischen Sozialarbeit. Hauptmerkmale dieser Definition sind ein wissenschaftlich-psychotherapeutisches Rahmenkonzept, die Zentrierung auf die therapeutische Beziehung mit der Zielsetzung der Behandlung psychosozialer Leidenszustände und Fokussierung auf entwicklungs- und gesundheitsfördernde, sowie präventive Aufgaben. Kennzeichen sind neben Einzel-, Familien- und Gruppenhandlung die Netzwerktherapie und die Perspektive der „Person-in-Environment“. Grundlage Sozialer Psychotherapie ist die in einschlägigen Studiengängen gelehrte Klinische Sozialarbeit mit ihren spezifischen Paradigmen und ethischen Grundsätzen. Soziale Psychotherapie zielt demnach insbesondere auf Menschen mit multiplen psychosozialen Notlagen.
Zwei weitere Kapitel des dritten Abschnitts befassen sich mit den Paradigmen und der praktisch-methodische Seite (Praxeologie) Sozialer Psychotherapie. Deloie zeigt in diesen Abschnitten, wie die in den bisherigen Kapiteln zusammengefassten theoretischen Bezüge in einer Sozial-Therapeutischen Praxis umgesetzt werden können. Seine Überlegungen zum Gesundheits- und Krankheitsbegriff, zur Resilienzorientierung und -förderung, zur Analyse und Förderung sozialer Netzwerke und sozialer Unterstützung fasst er in einem trifokalen Behandlungsansatz (der aus den Arbeiten von Rauchfleisch entwickelt wird) zusammen. Als Behandlungsbereiche werden hier die intrapersonelle, interpersonelle/psychosoziale und die sozio-ökonomische Ebene benannt. Deloie konkretisiert seine „Praxeologie“ abschließend in mehreren Fallvignetten, welche das zuvor theoretisch Formulierte in praktischen Zusammenhängen erfahrbar macht. Der Abschnitt endet mit einem „Plädoyer für eine Soziale Psychotherapie als heilende und inklusionsfördernde Profession“
(219). Hier fordert er abschließend zweierlei: 1. die Professionalisierung Sozialer Arbeit, welche u. a. durch die Ausbildung einer Fachsozialarbeit, hier die Klinische Sozialarbeit, gekennzeichnet ist. Die Soziale Psychotherapie ordnet er zum einen als Klinische Sozialarbeit dem Gesamtkontext Sozialer Arbeit zu. Andererseits sieht er deren „grundsätzliche Paradigmen“ durch die „eigenständige Profession des Psychotherapeuten“ (222) überschritten, da Psychotherapie als eigenständige Profession und Wissenschaft konzeptionalisiert sind. 2. Die Öffnung der gesetzlichen Psychotherapie für Angehörige Sozialer Berufe, wodurch die notwendige Inklusion „sozialer Behandlungsmittel“ zu erreichen sei, was vor dem Hintergrund zunehmender psycho-sozialer und sozio-ökonomischer Problemlagen unumgänglich sei.
Zielgruppe
Der Band richtet sich an Lehrende und praktisch Tätige in allen Bereichen Sozialer Arbeit, insbesondere der Klinischen Sozialarbeit. Die gründliche Quellenarbeit ermöglicht Auszubildenden in den einschlägigen Masterprogrammen, sowie in therapeutischen Weiterbildungsmaßnahmen eine umfassende, dabei problemlose Orientierung bzgl. sozialtherapeutischer Paradigmen, Theorien und Methoden.
Diskussion
Dario Deloie hat sich in seiner Masterarbeit auf die Suche nach den umfassenden Quellen Sozialer Therapie gemacht und führt unterschiedliche Ansätze unter dem Rahmenkonzept Klinischer Sozialarbeit zusammen. Damit erfüllt der Band die wichtige Integrationsaufgabe, sozial-therapeutisches Arbeiten dem Kontext Sozialer Arbeit zuzuordnen. Diese Integrationsarbeit ist für die Identitätsbildung Klinischer Sozialarbeit von großer Bedeutung, weil dadurch die Erosion sozialarbeiterischer Profession und Disziplin verhindert wird. Durch die Fokussierung auf einen eigenen Gestand Sozialer Therapie – das Soziale – gelingt die Konstruktion einer sozialarbeiterischen Psychotherapie. Der Band ist damit ein Grundlagenwerk für die „Soziale Psychotherapie als Klinische Sozialarbeit“. Bei seinen umfassenden Quellenstudien ist Deloie die Benennung der sozialarbeiterischen Bezüge zu psychologischen, psychotherapeutischen und weiteren theoretischen Bezügen von großer Wichtigkeit. Die Darstellung der Entwicklungslinien innerhalb der Sozialen Arbeit ist ebenfalls umfassend. Schmerzlich ist der Verzicht auf die Darstellung der deutschen Entwicklungslinie Sozialer Therapie der 1980er und 90er Jahre, welche u. a. von Autoren wie Gaertner und Schwendter vertreten wird. Soziale Therapie schließt in diesem Kontext die Problemebene der helfenden (therapeutischen) Beziehung und der Rahmenbedingungen in Gesellschaft und (Therapie)Institutionen mit ein, wodurch die sozialpolitische Relevanz Sozialer Therapie (überhaupt) erst benennbar und bearbeitbar wird. Diese Chance einer umfassenden Konzeption Sozialer Psychotherapie wurde hier vergeben.
Deloie hat seine Qualifikationsarbeit bereits 2009 abgeschlossen, entsprechend weist der Band eine Aktualitätslücke bezüglich der verwendeten Literatur von gut zwei Jahren auf.
Insgesamt ist dem Autor eine gründliche Darstellung der sozialarbeitswissenschaftlichen Grundlagen und der psychotherapeutischen Bezugsgrößen gelungen. Der Band definiert keinen neuen Ansatz einer Fachsozialarbeit, führt allerdings die teilweise noch losen Enden Klinischer Sozialarbeit zusammen. Auch wenn als wissenschaftliche Arbeit verfasst, ist ein Lesebuch zur Theorie und Praxeologie Klinischer Sozialarbeit entstanden, das – neben der Fülle relevanter Bezugspunkte in Theorie und Methodik- auch von der Erfahrung des Autors als sozial-psychotherapeutischem Praktiker lebt.
Fazit
Deloie legt mit „Soziale Psychotherapie als Klinische Sozialarbeit“ ein umfassendes Grundlagenwerk zu den Entwicklungslinien, theoretischen Grundlagen und zur Methodik Sozialer Therapie vor. Als Grundlagenbuch, das sich neben seiner Fülle an Bezugsquellen durch eine sehr gute Lesbarkeit ausweist, ist dem Band, auch in den Ausbildungsgängen Klinischer Sozialarbeit eine große Leserschaft zu wünschen.
Rezension von
Dr. phil. Gernot Hahn
Diplom Sozialpädagoge (Univ.), Diplom Sozialtherapeut
Leiter der Forensischen Ambulanz der Klinik für Forensische Psychiatrie Erlangen
Website
Mailformular
Es gibt 177 Rezensionen von Gernot Hahn.
Lesen Sie weitere Rezensionen zum gleichen Titel: Rezension 11685
Zitiervorschlag
Gernot Hahn. Rezension vom 10.01.2012 zu:
Dario Deloie: Soziale Psychotherapie als Klinische Sozialarbeit. Traditionslinien – Theoretische Grundlagen – Methoden. Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG
(Gießen) 2011.
ISBN 978-3-8379-2126-7.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/11961.php, Datum des Zugriffs 13.09.2024.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.