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Jürgen Nowak: Homo Socialis. Politische Theorie Sozialer Arbeit

Rezensiert von Prof. Dr. Günter J. Friesenhahn, 31.08.2011

Cover Jürgen Nowak: Homo Socialis. Politische Theorie Sozialer Arbeit ISBN 978-3-89918-200-2

Jürgen Nowak: Homo Socialis. Politische Theorie Sozialer Arbeit. Verlag Hans Jacobs (Lage) 2011. 165 Seiten. ISBN 978-3-89918-200-2. 19,90 EUR.

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Thema

Es gehört zu den Standards der deutschen Diskurse um Theorien der Sozialen Arbeit / Wissenschaft der Sozialen Arbeit zuerst einmal festzustellen, dass die Beschäftigung mit Theorien ein „schwieriges Geschäft“ (H. Thiersch) sei, dass der Begriff Theorie eher Diffusion als Klarheit auslöse (Th. Rauschenbach/I.Züchner), dass Theorien der Sozialen Arbeit im Hinblick auf ihre Wissenschaftlichkeit oft in Frage gestellt werden (E.Engelke) bzw. die Möglichkeit der Eindeutigkeit einer Theorie der Sozialen Arbeit bezweifelt werden muss (H.Kleve). Dabei gibt es doch offensichtlich keinen Mangel an Theorieangeboten (W. Thole).

Weitgehend einig ist man sich in der Diskussion, dass Kriterien angegeben werden müssen, warum etwas als Theorie gelten soll und dass man sich über den Gegenstand der Theorie verständigen, Begriffe klären sowie Methoden- und Forschungsfragen integrieren muss und dabei die Adressaten/innen in ihrer Lebenswelt nicht aus dem Blick verliert.

Vor diesem Hintergrund platziert Jürgen Nowak, mittlerweile pensionierter Professor an der Alice Salomon Hochschule, Berlin, seine „Politische Theorie der Sozialen Arbeit“. Aus seiner Sicht fehlt es nach wie vor 1. an einer eigenständigen, disziplinär abgrenzbaren Theorie und 2. an einer „originären Legitimationsgrundlage“ (S. 7).

Die Forderung nach der Eigenständigkeit einer Sozialarbeitswissenschaft begründet er mit der philosophisch-anthropologischen Bestimmung des Menschen als soziales Wesen. Dafür verwendet der Autor den Begriff „Homo socialis“. Ein zweiter Baustein für die theoretische Grundlegung ist für ihn die Existenz des Sozialstaates (S.8), wobei er Soziale Arbeit als „angewandte Sozialpolitik“ versteht. „Die rechtlichen Grundlagen und die Sozialpolitik sind eng mit der Sozialen Arbeit verbunden, d.h. ohne sie lässt sich auch keine Theorie der Sozialen Arbeit entwerfen“ (S. 121).

Aufbau und Inhalt

Nowak beklagt in Kapitel 1 die Fragmentierung und die A-Politisierung in der Ausbildung bzw. des Berufes Sozialarbeiter/in und den Mangel an gesamtgesellschaftlicher Komplexität in der Theoriebildung durch die Wissenschaftler/innen.

Es gebe keine ganzheitlichen Ansätze, die den Menschen und die Gesellschaft als Einheit analysiere. Diese Aussage verblüfft, wenn man berücksichtigt, dass u.a. Kleve (2000) in seinen Fragmenten einer Wissenschaftstheorie der Sozialen Arbeit explizit von (differentialistischer) Ganzheitlichkeit spricht und wenn man sich ferner in Erinnerung ruft, dass das “ Life Model“ von Germain/Gittermann (1988) als Klassiker der Person-Umwelt-Perspektive gelten kann. Aus Nowaks Sicht geht es bei den Theorien der Sozialen Arbeit nur noch um den Klienten, und dies meist als Einzelfall. Bei dieser Schelte muss offen bleiben, ob z.B. die Beiträge in Ulrich Pfeifer-Schaub „Globalisierung und Soziale Arbeit“ ( 2005), in denen Soziale Arbeit konkret in einen kritisch-gesellschaftspolitischen Kontext gestellt werden oder die Beiträge in Bütow/Chasse/Hirt „Soziale Arbeit nach dem Sozialpädagogischen Jahrhundert“ (2008), in denen die Positionsbestimmungen Sozialer Arbeit im Post-Wohlfahrtsstaat den Fokus theoretischer Überlegungen bilden oder/und die Festschrift für Hans-Uwe Otto, mit dem Titel „Soziale Arbeit in Gesellschaft“, herausgegeben von der Bielfelder Arbeitsgruppe 8 (2008), aus der Sicht von Nowak nicht als Beiträge zu einer Theorie der Sozialen Arbeit gezählt werden können. Nowak bemängelt - so sein erstes bemerkenswertes Fazit - die „völlige Politikabstinenz“ (S. 20) der bisherigen Theorieansätze.

In den Kapitel 2 (Homo socialis als anthropologischer Ausgangspunkt) erläutert er anhand vielfältiger epochen- und disziplinüberschreitender Verweise, dass der Mensch auf „die Unterstützung seiner Mitmenschen angewiesen ist“ (S.53). Daraus ergebe sich „eine eigenständige originäre Begründung für die Möglichkeit der Entstehung der Sozialen Arbeit: Sowohl als Berufsgruppe und als auch für die Wissenschaft“ (ebd.). Darüber hinaus gehörten aber auch das Auftreten sozialer Probleme und die gesellschaftliche Normierung im Entscheidungsprozess „zur endgültigen Legitimation“.
Dagegen ist kaum etwas einzuwenden, vor allem, da Staub-Bernasconi (z.B.1994) seit den 90er Jahren den Gegenstand der Theorie der Sozialen Arbeit mit der Bearbeitung Sozialer Probleme identifiziert.

In Kapitel 3 (Figurationsanalyse) werden zwei Figurationstypen der deutschen Gesellschaft herausgearbeitet: a) die Gesellschaft der Individuen und b) die gesellschaftliche Systemwelt, die er in Marktwirtschaft, Staat und Zivilgesellschaft

unterteilt. Dabei verdichtet der Autor seine Sicht auf das Soziale, wobei er sich im Wesentlichen auf soziologische Analysen von gestern und heute bezieht.

Mit Blick auf eine (politische) Theorie der Sozialen Arbeit fördert diese Vorgehensweise Ungewöhnliches und Überraschendes zu Tage. Norbert Elias gehört bis jetzt eben nicht zu den oft zitierten Referenzautoren im Kontext der Theorien Sozialer Arbeit

In den Kapiteln 4 (Soziale Probleme) und 5 (Sozialstaat als gesellschaftspolitische Antwort) blitzt Nowaks Verortung in der Soziologie und der Ökonomie auf, wenn er beispielsweise als Begründung einer Politischen Theorie der Sozialen Arbeit anführt: „Der Kern jeder kritischen Soziologie ist die Analyse der sozialen Ungleichheit zwischen den Menschen, denn daraus ergeben sich bestimmte gesellschaftliche Strukturen“ (S. 78). Als Antwort auf die Sozialen Probleme habe sich der Sozialstaat (S. 107) entwickelt, er erinnert daran, dass das Sozialstaatsprinzip eine objektive Verfassungsnorm sei, aber keine subjektiven Rechte des Bürgers begründe. Anders als Vertreterinnen der Sozialarbeits-Zunft (z.B. Dollinger/Raithel 2006) verzichtet Nowak auf eine Auseinandersetzung mit der oft kritisierten „aktivierenden Sozialen Arbeit“ und den Folgen der festgestellten De-Professionalisierung, die der Effizienzdruck bewirkt (z.B. Seite 201). Stattdessen verweist er auf die wachsende Zahl von Beschäftigen im Sozialsektor und vertritt die These, „dass ‚Soziales‘ eine eigenständige Produktivkraft ist, die ihre eigene ‚soziale Produktivität‘ in unser Gesellschaft hat“ (S. 118).

In Kapitel 6 (Figuration Sozialer Arbeit) stellt er sich bewusst gegen eine systemtheoretische Sichtweise, Soziale Arbeit könne als ein geschlossenes System in sich gesehen werden. Als figurative Elemente Sozialer Arbeit zählt er das Recht, die Sozialpolitik und das gesamte politische System. „Soziale Arbeit bewegt sich in der staatlichen und zivilgesellschaftlichen (Teil)Figuration, aber auf Grund der Prozesse der Ökonomisierung und Verbetriebswirtschaftlichung auch schon in der Figuration Markt“ (S. 121). Anschließend erwähnt er die Bedeutung des Subsidiaritätsprinzips, den organisatorischen Pluralismus der Sozialen Arbeit, die Vielfalt der Arbeitsfelder, die, so sein Fazit, gemeinsam die Figuration Sozialer Arbeit bilden (S. 131).

Das Buch endet normativ mit dem Appell, Sozialarbeiter/-innen sollten sich außerhalb ihres unmittelbaren Berufsfeldes in Parteien, Gewerkschaften und NGOs engagieren, „um mitzuhelfen, diese deutsche Gesellschaft machtpolitisch zugunsten der ressourcenarmen Bevölkerung zu ändern.“ ( S. 147) Machtanalysen und Menschenrechte sowie aggressive Gemeinwesenarbeit und soziale Bewegungen bilden die Eckpunkte der Politischen Theorie der Sozialen Arbeit als Handlungswissenschaft (S. 143), resümiert er in Kapitel 7.

Diskussion und Fazit

Nowaks Buch ist ein selbstbewusster Versuch, die bisherigen Theorien der Sozialen Arbeit als unzureichend zu klassifizieren. Sieht man sich sein Literaturverzeichnis an, wird deutlich, dass er sich bei seiner Argumentation nicht in erster Linie mit den einschlägigen Theorieproduzenten Sozialer Arbeit auseinander setzt. Dafür erfährt man viel über die Ansichten der soziologischen Klassiker und der modernen Zeitdiagnose. Ungeklärt bleibt bis zum Ende, was denn eine systematische Theorie und vor allem eine politische Theorie auszeichnet. Sein Verständnis von Sozialer Arbeit dreht sich um Soziale Probleme und soziale Ungleichheit - das ist legitim, wobei die sozialpädagogische Traditionslinie der Sozialen Arbeit und damit die Diskussion um Lernen und Bildung, um Lebensbewältigung in einem umfassenderen Sinn (L. Böhnisch) verloren geht.

Sein Plädoyer für eine politische Soziale Arbeit (S. 132ff) ist wissenschafts-systematisch nicht einfach einzuordnen.

Gilt dies für die theoretische Fundierung Sozialer Arbeit, als Handlungsaufforderung an die aus seiner Sicht a-politischen Sozialarbeiter/innen; ist dies ein Plädoyer für die Disziplin und/oder für die Profession?

Nowak versucht gar nicht erst den Eindruck zu erwecken, als wolle er seinen Hut in den Ring der Sozialarbeitswissenschafts-Arena werfen, um in den Diskurs-Clinch zu gehen. Er provoziert bewusst und er scheint den Ausspruch, dem man Peter Ustinov zuschreibt, im Hinterkopf gehabt zu haben: „Wir alten Männer sind gefährlich, weil wir keine Angst mehr vor der Zukunft haben. Wir können sagen, was wir denken, wer will uns denn dafür bestrafen.“

Bleibt abzuwarten, ob jemand in der Sozialen Arbeit die Provokation, diese Art der Herausforderung, annimmt.

Zusätzliche Literatur

  • Bütow, B. u.a. (Hrsg.) (2008): Soziale Arbeit nach dem Sozialpädagogischen Jahrhundert. Wiesbaden: Barbara Budrich Verlag
  • Dollinger, B./Raithel, J.(Hrsg.)( 2006): Aktivierende Sozialpädagogik. Einkritisches Glossar. Wiesbaden: VS Verlag
  • Germain, C.B./Gittermain A.(1983) Praktische Sozialarbeit . Das „Life Model“ der sozialen Arbeit. Stuttgart: Enke Verlag
  • Kleve, H. (2000): Die Sozialarbeit ohne Eigenschaften. Fragmente einer postmodernen Professions- – und Wissenschaftstheorie Sozialer Arbeit. Freiburg: Lambertus
  • Pfeifer-Schaup, U. (Hrsg.) ( 2005): Globalisierung und Soziale Arbeit. Hamburg: VSA-Verlag
  • Seite, M. (2010): Schwarzbuch Soziale Arbeit . Wiesbaden: VS Verlag
  • Staub-Bernasconi, S. (1994): Soziale Probleme – Soziale Berufe – Soziale Praxis. In Heiner, Maja u.a. (Hrsg.):Methodisches Handeln in der Sozialen Arbeit. Freiburg: Lambertus Verlag, S. 11-101
  • Thole, W. (Hrsg.) 2010: Grundriss Soziale Arbeit. 3 Aufl. Wiesbaden: VS Verlag

Rezension von
Prof. Dr. Günter J. Friesenhahn
Professor für European Community Education Studies im Fachbereich Sozialwesen der Fachhochschule Koblenz

Es gibt 2 Rezensionen von Günter J. Friesenhahn.

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Zitiervorschlag
Günter J. Friesenhahn. Rezension vom 31.08.2011 zu: Jürgen Nowak: Homo Socialis. Politische Theorie Sozialer Arbeit. Verlag Hans Jacobs (Lage) 2011. ISBN 978-3-89918-200-2. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/11989.php, Datum des Zugriffs 11.12.2024.


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