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Eva-Maria Thüne, Anne Betten (Hrsg.): Sprache und Migration. Linguistische Fallstudien

Rezensiert von Mahzad Hoodgarzadeh, 22.02.2012

Cover Eva-Maria Thüne, Anne Betten (Hrsg.): Sprache und Migration. Linguistische Fallstudien ISBN 978-88-548-4033-1

Eva-Maria Thüne, Anne Betten (Hrsg.): Sprache und Migration. Linguistische Fallstudien. ARACNE editrice S.r.l. (Roma) 2011. 332 Seiten. ISBN 978-88-548-4033-1. 14,00 EUR.

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Thema

Welchen Einfluss haben Sprache und Migration auf die Identität? In welchem Zusammenhang stehen das „Eigene“ und das „Fremde“ mit dem Identitätskonzept? Mannigfaltige Antworten lassen sich hierauf in diesem Sammelband finden, der eine Vielfalt an Migrationsformen und -geschichten widerspiegelt. So stehen in Deutschland und Österreich lebende Menschen u.a. mit deutschsprachigem-jüdischem, russlanddeutschem, italienischem oder vietnamesischem „Hintergrund“ im Fokus der einzelnen Beiträge.

Im Rahmen von linguistischen Fallstudien befassen sich die Autoren/-innen mit Hilfe narrativer Interviews und Sprachbiografien mit dem Themenkomplex Sprache, Migration und Identität. Auf die Frage hin, was Identität auszeichnet, wird in den Beiträgen auf die (generationsübergreifenden) Erzählungen von den o.g. Ein- und Zuwanderungsgruppen eingegangen. Dabei liegt das Augenmerk auf bilinguale und bikulturelle Identitäten sowie auf der „Sprachbewahrung des Deutschen im anderssprachigen Kontext“. Neben einer eher sprachbiografischen Ausrichtung, wird auch der Aspekt Sprachkompetenz in den Beiträgen thematisiert.

Entstehungshintergrund

Vom 4.- 6. Februar 2010 widmete sich die Arbeitsgruppe „Sprache und Migration“ im Rahmen der Tagung „Deutsche Sprachwissenschaften in Italien“ in Rom diesem komplexen Sachverhalt. Einige Beiträge wurden bei der o.g. Tagung diskutiert und sind nun im Sammelband der Herausgeberinnen Eva-Maria Thüne und Anne Betten nachzulesen.

Herausgeberinnen

Eva-Maria Thüne hat in Deutschland studiert und promoviert. Bereits in den 1980er Jahren lehrte sie in Italien, u.a. als DAAD-Lektorin an der Universität Pisa. Seit 1997 ist sie an der Universität Bologna tätig und seit 2001 Ordinaria. Sie befasst sich in ihrer Forschung mit Deutsch als Fremdsprache, Sprachenbiografien, Dialoganalyse, Soziolinguistik, linguistische Analyse literarischer Texte sowie Genderstudien (S. 329).

Anne Betten hat ebenfalls in Deutschland studiert und promoviert. 1983 habilitierte sie an der Universität Heidelberg. Als Professorin arbeitet sie international u.a. an der UC Los Angeles und in Salzburg. Seit 2000 hat Anne Betten wichtige Positionen im deutschen sowie in österreichischen Organisationen wahrgenommen, u.a. von 2000-2004 als Präsidentin der Österreichischen Gesellschaft für Germanistik. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Gesprochene Sprache, Gesprächsanalyse, Stilistik, Historische Syntax, Sprache in der Literatur sowie Sprache in der Emigration (S. 327).

In ihrem Vorwort gehen die Herausgeberinnen auf den aktuellen Stand des wissenschaftlichen Diskurses ein. Wie im Vorwort üblich wird darin die thematische Ausrichtung sowie die Inhalte der einzelnen Beiträge skizziert.

Die Vielfalt an Migrationsgeschichten spiegelt sich ebenfalls in den Biografien der zehn Autoren/-innen wieder. In unterschiedlichen europäischen Ländern haben die Autoren/-innen studiert, empirisch geforscht und sie arbeiten überwiegend im universitären Bereich. Die Herausgeberinnen ermöglichen sowohl dem wissenschaftlichen Nachwuchs als auch Experten/innen ihre Forschungsergebnisse zu präsentieren.

Aufbau

Nach dem Vorwort folgen Transkriptionskonventionen nach DIDA, GAT und nach HIAT (benutzte Zeichen), da die Autoren/-innen in den einzelnen Beiträgen ihr transkribiertes Datenmaterial vorstellen und anhand dessen ihre Forschungsergebnisse begründen. Nach den zehn Beiträgen folgt ein Autoren/-innenverzeichnis.

Der Sammelband ist in zwei wesentliche Teile aufgeteilt.

  1. Der erste Teil befasst sich generationsübergreifend mit jüdischen Menschen – den (E-)Migranten. Thematisiert wird deren deutsche Sprachbewahrung (s.u. Inhalt).
  2. Der zweite Teil befasst sich mit heterogenen Zielgruppen – den (Im-)Migranten und (Re-)Migranten – u.a. aus Italien, Vietnam und den Philippinen stammende Menschen, die in Deutschland oder Österreich leben (s.u. Inhalt).

Alle Beiträge beginnen mit einem englischsprachigen Abstract und zeichnen sich durch eine klar nachvollziehbare Struktur aus. Die Autoren/-innen beschreiben und begründen präzise ihre empirische Herangehensweise sowie ihre jeweiligen Zielgruppen.

In allen Interviews, die in den Beiträgen diskutiert und ausgewertet werden, steht nicht nur im Vordergrund was erzählt, sondern vor allem auch wie etwas erzählt und dargestellt wird.

Der erste Teil

Johannes Schwitalla und Anne Betten befassen sich mit der ersten und zweiten Generation von deutschsprachigen Juden (S.10). Im historischen Kontext des Nationalsozialismus wird die Sprachbewahrung des Deutschen dieser Zeitzeugen fokussiert. Auf eine sehr spannende Weise werden von Johannes Schwitalla Fluchterlebnisse der o.g. Zielgruppe in verschiedenen Erzählformen dargestellt (z.B. knapper Bericht, Ausführlicher Bericht ohne szenische Darstellung). Der Beitrag von Anne Betten befasst sich mit der „Flucht der ersten Generation nach Palästina/Israel“. Die deutsche Sprache wird aus Sicht der Befragten als eine „verhasste Sprache“, die die „Sprache der Mörder“ ist, vorgestellt. Die Komplexität des Loyalitätskonfliktes, der Identitätskrise, der Identitätsgefühle und -zuschreibungen etc. (S. 56) wird auf der Grundlage von vielen (zu klärenden) Zusammenhängen diskutiert. Als ob diese Palette an verzwickten komplexen Zusammenhängen nicht ausreichend genug wäre, wird der komplexe Zusammenhang von Sprache und Ort thematisiert.

Der zweite Teil

Der Umgang mit Metaphern in politischen Talkshows – im Zuwanderungsdiskurs – steht im Fokus des Beitrags von Martin Wichmann. Bevor der Autor sein Datenmaterial ausführlich vorstellt, befasst er sich mit der Metapherntheorie (S.113) sowie der aktuellen Metapherndiskussion (S. 116). Wie dies auf die gegenwärtige Zuwanderungsdiskussion übertragen werden kann, wird von dem Autor in einer empirischen Feinarbeit dargestellt. Nina Berend stellt die Ergebnisse der Langzeitstudie – „Migrationslinguistik – Migration und Mehrsprachigkeit, migrationsbasierte Varietäten des Deutschen“ vor. Die Zielgruppe sind russlanddeutsche (Re-)Migranten in Deutschland. Die durch die Migration entstandenen Sprachvarietäten der Zielgruppe stehen im Interessensfokus der Autorin. Beginnend mit einem knappen und ausreichenden historischen Rückblick – von dem Zerfall der ehemaligen Sowjetunion bis zur Gegenwart – sowie einem Überblick über den aktuellen Forschungsstand, wird die Zielgruppe sowie deren sprachlichen Besonderheiten vorgestellt. Schwerpunkt des Beitrags ist die „Problematik […], dass bei den Zuwanderern keine Klarheit über die Familiensprache bestand – bzw. darüber, welche Sprache diese Funktion erfüllen sollte“ (S. 93). Katharina König befasst sich in ihrem Beitrag mit der Frage „welche sprachlichen Strategien der Selbstthematisierung und Selbstdarstellung die GesprächspartnerInnen [in diesem Fall Frauen aus Vietnam] in narrativen Interviews anwenden: Wie kann Identität im Rahmen einer linguistischen Analyse von narrativen Rekonstruktionen von Migrations- und Mehrsprachigkeitserlebnissen konzeptualisiert und gefüllt werden?“ (S. 145). Eine komplexe Fragestellung, deren Beantwortung sich die Autorin schrittweise nähert. Zunächst befasst sie sich mit „Sprachbiographien und Identität“ (S.145) sowie mit „Germanistischer Migrationslinguistik – VietnamesInnen in Deutschland“ (S. 147), bevor sie ihre Forschungsvorhaben und ihre zentralen Ergebnisse vorstellt und diskutiert. An einem Fallbeispiel einer in Österreich lebenden philippinischen Immigrantin befasst sich Michaela Metz mit der Nichtanerkennung von ausländischen akademischen Abschlüssen – in diesem Fall einem philippinischen Abschluss – sowie der Motivation, die deutsche Sprache zu lernen und mit dem neuen Sozialisationsumfeld (S. 168). Der Beitrag von Marianna Menegus hat es sich zur Aufgabe gemacht, „einen Einblick in die Untersuchung […] linguistische[r] Phänomene zu verschaffen, die auf der Basis der mündlichen Textherstellung entstehen“ (S.196). Diese Phänomene beziehen sich primär auf die Formulierungen der Sprecher/-innen (S. 195 f.). Solch eine Formulierung zeigt sich – wie der Beitrag darlegt – beispielsweise in einem Mutter-Tochter Interview, und zwar in Form des Code-Switchings in den Sprachen Deutsch und Italienisch (S. 215). Die Autorin weist darauf hin, dass in jeder Sprache eine andere „Strukturierung der Botschaften“ nachweisbar ist. Zurückzuführen ist dies auf eine sog. „Perspektivierung“ und die verfügbaren „Kompetenzen in zwei Kulturen“ (S. 223).

Was das Sprachrepertoire auszeichnet wird in dem Beitrag von Eva-Maria Thüne vorgestellt. Hierbei geht die Autorin auf die Aspekte der Zwei- und Mehrsprachigkeit (S. 228) sowie auf Sprachbiografien (S. 229) ein. Sie stellt zwei Interviewabschnitte mit „italienischsprachigen Migrantinnen“ in Deutschland vor. Ihr Interessensfokus richtet sich auf die Rekonstruktion der „Erfahrungen beim Fremdsprachenerwerb“ (S.230). Der Zusammenhang von Aussprache und Identität werden auf empirischer Grundlage diskutiert. Ein wissenschaftlicher Ratgeber für werdende mehrsprachige Eltern ist der Beitrag von Judith Purkarthofer. Die Autorin richtet ihren Forschungsfokus auf die „erwarteten sprachlichen Interaktionsräumen ungeborener Kinder bzw. ihrer Familien“ (S.262). Welche möglichen Einflussfaktoren vorhanden sein können, wird am Beispiel von drei mehrsprachigen Paaren mit unterschiedlichen Migrationsgeschichten und Sprachbiografien dargestellt. Dass nicht nur gesprochene Sprachen zur Identität gehören, sondern auch die „nicht (mehr) gelebt empfunden“ (Erst-)Sprachen, wird in dem Beitrag von Jan Mossakowski empirisch dargestellt (S. 293 f.). „Anhand zweier sprachbiographischer Gespräche mit SprecherInnen des Burgenlandkroatischen soll […] der Frage nachgegangen werden, in welcher Weise das Motiv der verlorenen oder verdrängten (Erst-)Sprache ein Dreh- und Angelpunkt in der Konstruktion der eigenen sprachlichen Identität darstellt […]“ (S. 294). In seinem theoretischen Diskurs geht der Autor pointiert auf die Definitionen von häufig verwendeten Begriffen ein, wie z.B. Sprachbiografie, (Sprach-)Identität etc., sowie auf den Zusammenhang von Macht und Sprache.

Diskussion

Dass es sich hierbei um einen lesenswerten Sammelband handelt steht außer Frage. Jedoch fehlt die Auseinandersetzung mit zeitgenössischen gesellschaftskritischen Fragen, die sich damit auseinandersetzen, in welcher Gesellschaft wir (gegenwärtig und zukünftig) leben und welche Bedeutung Sprache, Biografie und Identität darin haben (sollen). Warum ist beispielsweise gerade die Diskussion zu philippinischen Immigranten/-innen in Österreich relevant? Beruht dies auf dem spezifischen Interesse einer Wissenschaftlerin oder wird damit ein gesellschaftlicher Kontext betrachtet, zu dem bislang in Österreich und Deutschland noch keine ausreichenden Erkenntnisse vorliegen? Die Tatsache, dass Sprache und Biografie im Kontext von Migration sowohl individuell als auch gesellschaftlich konnotiert ist, kann die Leserschaft so nur erahnen. Erforderlich wären in diesem Zusammenhang neben der empirischen eine thematische Verortung sowie das Aufzeigen einer Verbindungslinie zwischen den einzelnen Beiträgen.

Fazit

Im derzeitigen wissenschaftlichen Diskurs werden zahlreiche Forschungsmethoden angewandt, die sich mit dem Zusammenhang von Migration, Sprache und Identität befassen. Hier lässt sich dieses Buch ebenfalls einreihen, jedoch mit einer wesentlichen Besonderheit: Die Autoren/-innen, die mit narrativen Interviews ihre Daten erhoben haben, beweisen, dass mit dieser Interviewform vielfältige Datenerhebungen möglich sind. So können beispielsweise innerhalb einer Familie mehrere Generationen mit einem unterschiedlichen Forschungsanliegen befragt werden, was wiederum zu unterschiedlichen Methoden der Datenauswertung führt. Wie der Titel des Buches bereits verrät, handelt es sich um linguistische Fallstudien. Dennoch können sich die Beiträge interdisziplinär positionieren, da Migration, Identitätskonstrukte etc. u.a. auch soziologische Themen sind. Alle Beiträge dienen als eine hervorragende Basis, um über das vielschichtige Themenfeld von Migration, Sprache und Identität (im universitären sowie im bildungspolitischen Bereich) zu diskutieren. Der Sammelband ist aus empirischer, linguistischer sowie soziologischer Perspektive eine Bereicherung für den internationalen wissenschaftlichen Diskurs.

Rezension von
Mahzad Hoodgarzadeh

Es gibt 1 Rezension von Mahzad Hoodgarzadeh.

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Zitiervorschlag
Mahzad Hoodgarzadeh. Rezension vom 22.02.2012 zu: Eva-Maria Thüne, Anne Betten (Hrsg.): Sprache und Migration. Linguistische Fallstudien. ARACNE editrice S.r.l. (Roma) 2011. ISBN 978-88-548-4033-1. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/11994.php, Datum des Zugriffs 19.01.2025.


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