Mark Terkessidis: Interkultur
Rezensiert von Prof. Dr. Christian Spatscheck, 13.09.2011

Mark Terkessidis: Interkultur. Suhrkamp Verlag (Berlin) 2010. 220 Seiten. ISBN 978-3-518-12589-2. 13,00 EUR.
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Thema
Beim Thema Integration macht sich nicht nur bei Polemikern und Hardlinern eine gewisse Verunsicherung bemerkbar. Mark Terkessidis macht sich mit seinem Buch „Interkultur“ auf die Suche nach den Kulturen im „Zwischen“, und erhellt, warum dieses Vorhaben unsere Gesellschaft aktuell so polarisiert und provoziert.
Vom Ende der Einheit …
Eigentlich ist Migration eine Realität in Deutschland. Etwa ein Drittel der EinwohnerInnen hat einen „Migrationshintergrund“, bei den unter Sechsjährigen sogar die Hälfte. Dennoch wird Einwanderung weiterhin als „Störung im Normalablauf“ betrachtet. Die vermeintlich homogene „Kultur des Deutschseins“ erscheint durch „die Fremden“ provoziert und herausgefordert. Die zunehmende gesellschaftliche Heterogenität produziert Sorgen um Solidarität und Zusammenhalt (Robert Putnam). Und obwohl in anderen Zusammenhängen längst relativiert, erscheint die Norm des einheimischen, mittelständischen, heterosexuellen und nicht behinderten Mannes im Kontext von Migration erstaunlich stabil.
Doch das Bild bröckelt. Eine Bahnreise, ein Auftrag beim Handwerker, ein Gang durch deutsche Großstädte oder Einblicke in die Kulturlandschaft zeigen, dass die einst mit dem Deutschsein verbundenen Sekundärtugenden der Zuverlässigkeit, Pünktlichkeit, Pflichterfüllung und Ordnung oder auch eine „deutsche Tiefe“ der Kultur kaum mehr als verbindende Identitätskonzepte vorfindbar sind. Alltagserfahrungen dieser Art und auch ein fundierterer sozialwissenschaftlicher Blick führen zu berechtigten Zweifeln am Konzept der Integration und seiner ideellen Basis. Die Idee, dass sich Einwanderer in eine homogene „Leitkultur“ integrieren könnten, beginnt sich angesichts der „Parapolis“ des Nebeneinanders von zunehmend unterschiedlichen, mobilen und schnelllebigen Lebensstilen und -entwürfen zu verflüchtigen.
Umso paradoxer erscheint es, dass „Nichtdeutsche“ mit alltäglichem Rassismus und seinen Formen der „Verweisung“ („Geh doch zurück nach Hause“), der „Entgleichung“ („Du bist keiner von uns“), der Diskriminierung (Höherwertigkeit von „Eigengruppen“) und der rechtlichen Ausgrenzung konfrontiert sind. Terkessidis verdeutlicht, dass Rassismus hierbei mehr als offene Fremdenfeindlichkeit ist, sondern bereits dort beginnt, wo der „Apparat, der Menschen zu Fremden macht“, wirksam wird.
Gleichzeitig wird angemerkt, dass die überfällige politische Anerkennung Deutschlands als Einwanderungsland in seltsamer Eintracht mit Diskussionen über gescheiterte die Integration, das Ende des Multikulturalismus, Parallelgesellschaften und „nicht integrierbare“ Gruppen einherging. Trotz einer programmatischen Öffnung des Landes werden MigrantInnen im Alltag weiterhin dem Generalverdacht ausgesetzt, einen mangelnden individuellen und gruppenbezogenen Willen zur Integration mitzubringen.
Angesichts dieser Entwicklungen erscheint die normative Bindung an die Idee der Integration von „Fremden“ in „Vorstellungen eines wir“ weder inhaltlich noch strategisch länger sinnvoll. Das Projekt der „Wiederherstellung des Ganzen“ wirkt unangemessen überfrachtet mit Prämissen und Ansprüchen, die letztlich nicht einlösbar sind und zudem den Eingewanderten die Bewältigung dieser Dilemmata aufbürden.
… und vom Beginn der Vielheit
Vor diesem Hintergrund wagt Terkessidis einen gedanklichen Aufbruch zum „Umbau des Hauses“. Jenseits der Idee fest gefügter nationaler Identitäten entfaltet er das Konzept der „Interkultur“ als „Kulturen im Zwischen der Übergänge“. Statt vorgefertigter ethnischer Zuschreibungen begibt er sich mit dem Projekt Interkultur auf die Suche nach einem „Leben in einem uneindeutigen Zustand“ und einer zu gestaltenden „unklaren Zukunft“. Die dazu nötige „Politik der Vielheit“ müsste dem Maßstab gerecht werden, allen Personen im Gemeinwesen tatsächlich die gleichen Teilhabechancen zu eröffnen. „Barrierefreiheit“ müsste zum „Kern“ einer neuen Politik gemacht werden, die die Vielfalt einschränkende „charakteristische Muster“ effektiv abbauen kann. Terkessidis illustriert anhand der Beispiele von Diversity Mainstreaming, Anti-Diskriminierung und Affirmative Action, wie Menschen konkret befähigt werden können, Chancen und Potentiale auszuschöpfen, ohne mit bloßen Kompensationen abgespeist zu werden. Seine Betrachtungen verortet er in aktuellen Diskursen der Cultural Studies und Postcolonial Studies, etwa um das Konzept von Hybridität und der Kritik von Ethnizität (Homi K. Bhabha) oder dem Abschied vom simplifizierten Erklärungswert von Kultur und der Entdeckung von Kultur als Alltagskultur (Raymond Williams und Stuart Hall).
Um Veränderungen tatsächlich realisieren zu können, plädiert er dafür, zu allererst bei gesellschaftlichen Institutionen anzusetzen. Bloße moralische Appelle an Einzelne, sich für Toleranz und Vielfalt einzusetzen, scheinen ihm eher ein unnötig und ungeeignet, um nachhaltige Wirkungen zu erreichen. Von Institutionen als zentrale Instanzen der Vergesellschaftung hingegen erwartet er größere Wirkungen auf den sozialen Wandel. Konkret umgesetzt würde das Projekt Interkultur bedeuten, die Kultur von Institutionen zu verändern, strategische Personalentwicklung zu betreiben, den „materiellen Apparat“ der Ausstattung an die Bedürfnisse aller Zielgruppen anzupassen und die operativen Strategien auf kulturelle Barrierefreiheit, Anti-Diskriminierung und Diversity auszurichten. Bei solch weitreichenden Veränderungen müsste aber auch mit Vorbehalten jener gerechnet werden, die am Status quo des Bestehenden nur zu gerne festhalten wollen.
Eine zentrale Rolle schreibt Terkessidis den Kulturinstitutionen zu. MigrantInnen sollten in Kulturinstitutionen nicht mehr als „Sondergruppen“ betrachtet werden, die mit „Sonderthemen“ und „Sondertöpfen“ bedient werden oder als „Migrantenkünstler“ auf die fortlaufende Beschäftigung mit dem Thema Integration beschränkt werden. Vielmehr könnten über Literatur, Kunst, Musik, Film und Theater Orte geschaffen werden, an denen das „Selbstverständnis der Gesellschaft verhandelt“ wird und Kulturinstitutionen zum Motor des Wandels gemacht werden. Anhand anschaulicher und persönlicher Beispiele verdeutlicht er, wie diversitätsbewusste Kultureinrichtungen alle Bevölkerungsgruppen erreichen und selbstverständliche Teilhabe ermöglichen könnten.
Fazit
Das Buch vermag es, aufklärende Blicke und Analysen zur festgefahrenen Integrationsdebatte zu liefern. Es weist über überkommene Denkmuster hinaus und entfaltet konkrete Strategien des Wandels. Trotz leichter Redundanzen in der Argumentation verdeutlicht es den Widersinn der „Kultur der Einheit“ und die Möglichkeiten einer „Kultur der Vielheit“ in anschaulicher Weise. Mark Terkessidis entfaltet mit seinem Gang durch die zeitgenössischen Cultural Studies neue Denkmodelle zum Thema Migration, die für Kulturorganisationen genauso wie für Institutionen der Bildung, des Sozialwesens, der Gesundheitsversorgung sowie Verwaltungen bereichernde Anregungen für einen intelligenteren und sinnvolleren Umgang mit dem Thema Differenz liefern. Damit zeigt er auf, wie Integrationspolitik jenseits polemischer Assimilationsstrategien, Law and Order Parolen oder der These des „Scheiterns des Multikulturalismus“ zu einer neuen Politik für Vielheit und Chancengleichheit erweitert gedacht werden könnte.
Rezension von
Prof. Dr. Christian Spatscheck
Hochschule Bremen, Fakultät Gesellschaftswissenschaften, Lehrgebiet: Theorien und Methoden der Sozialen Arbeit
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ORCID: https://orcid.org/0000-0001-5835-9620
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