Detlef Garz: Sozialpsychologische Entwicklungstheorien
Rezensiert von Dr. Oliver Reis, 13.04.2008
Detlef Garz: Sozialpsychologische Entwicklungstheorien.
VS Verlag für Sozialwissenschaften
(Wiesbaden) 2006.
3., erweiterte Auflage.
188 Seiten.
ISBN 978-3-531-23158-7.
22,90 EUR.
3. Auflage.
Thema
Das Buch zeichnet die große Linie der strukturgenetischen, sozialpsychologischen Entwicklungstheorien nach. Damit wird ein enger, aber sehr wirkungsvoller Theoriestrang der Sozialpsychologie ausgewählt, denn es geht nur um solche Theorien, die die Entwicklung menschlicher Individuen in erkennbaren Strukturstufen und in der Auseinandersetzung von Individuum und Umwelt rekonstruieren. Dies geschieht entlang der großen Männer – und einer Frau – über 100 Jahre hinweg von Baldwin bis heute. "Entwicklung" wird hier in einem ganzheitlichen Sinne über die verschiedenen Dimensionen menschlicher Erfahrung (Moral, Kunst, Religion) hinweg verstanden. Durch die Darstellung der an bestimmten Forschergrößen klassisch gewordenen Theorien verfolgt Garz kein Forschungsanliegen, vielmehr legt er ein Lehrbuch vor, bzw. neu auf, das den Stand der Debatte zu den Theorien zusammenfasst und genau dadurch auch die Entwicklung des Theoriestranges selbst offenlegt. Es ist deshalb auch legitim, dass Garz den Hauptkorpus des Buches seit der ersten Auflage 1989 nicht merklich überarbeitet hat, sondern in dieser nun vorliegenden 3. Auflage vor allem die Diskussionslinien der gleichen Theorien in einem angehängten Kapitel bis in die Gegenwart hinein verlängert.
Aufbau
Garz bearbeitet in dem Buch nicht eine These stringent und analog durch die Kapitel. Vielmehr liegt dem Buch eine Netzstruktur zugrunde, in der die Kapitel untereinander sehr stark aufeinander bezogen sind, hin und wieder wird ein wichtiger Exkurs eingeschoben und werden Kapitel eingefügt, die später noch einmal wichtig werden. Insofern sind real ganz verschiedene Lesegänge durch das Buch beschreibbar. Liest man das Buch unter der Perspektive der sich langsam herausbildenden Entwicklungslogik moralischer Urteile, ist ein anderer Weg durch das ganze Buch möglich, als wenn ich die Ausdifferenzierung des Entwicklungsbegriffs in der Interaktion von Individuum und Umwelt bei der Darstellung fokussiere. Auch wenn die analoge Darstellung entlang der numerischen Reihenfolge der Kapitel dieser Komplexität und Vernetzung nicht gerecht werden kann, folge ich bei der inhaltlichen Darstellung dieser Reihenfolge, um nicht schon eine Vorentscheidung zu treffen. In der analogen Perspektive sind nach der Einleitung drei Ebenen zu unterscheiden: Grundlegung des Forschungsfeldes, Exploration der Volltypen von Entwicklungstheorien und schließlich darauf aufbauende kreative Ausdifferenzierung.
Inhalt
- Die kurze Einleitung (S. 9-14) zu Beginn wirft einen angemessenen Meta-Blick auf das Anliegen des Buches und begründet die Auswahlentscheidungen, die für ein Buch dieser angenehmen Länge notwendig sind.
- Im zweiten Kapitel (S. 15-39) stellt Garz die Theorie von James Mark Baldwin als Grundlage des Theorie-Strangs vor. Dies gilt für seinen Entwicklungsbegriff (Parameter der Umwelt-Individuum-Interaktion), seinen Entwicklungsmechanismus (Habitusbildung und Akkommodation), für seine Theorie zur Entwicklung des Selbst (Stufenkonzept von dem projektiven über das subjektive zum ejektiven Selbst), für seine Entwicklung der logischen Urteile (Stufen der genetischen Logik vom prälogischen bis zum hyperlogischen Modus der Intelligenz) sowie für seine ganzheitliche Entwicklungsperspektive, welche Moral, Ästhetik und Religion umfasst. Gerade weil Baldwin oft in entsprechenden Lehrwerken übergangen wird und Garz im weiteren Verlauf immer wieder an diese Grundlage anknüpft, ist es gut, dass er ihm so viel Raum gibt.
- Im dritten Kapitel (S. 40-50) wird der symbolische Interaktionismus von George Herbert Mead ausgearbeitet, dessen Entwicklungskonzept von "Me" und "I" in großer Nähe zu Baldwins Entwicklung des sozialen Selbst steht. Von Mead hat die Entwicklungspsychologie vor allem die Bedeutung der Perspektivübernahme und der Reaktion des Subjekts auf die internalisierten Rollen für die Ausbildung des Selbst gelernt. Weniger bekannt, aber nicht weniger wichtig – zum Beispiel für die Theoriebildung Kohlbergs –, sind die Überlegungen Meads zur Entwicklung moralischer Urteile, die über eine zunehmende Vergesellschaftung in den Rollenansprüchen anderer verläuft.
- Mit dem vierten Kapitel (S. 51-87) zu Jean Piaget bearbeitet Garz nach Baldwin seinen zweiten Protagonisten. Da dessen Entwicklungstheorien an soziologische Arbeiten von Emile Durkheim zur Frage anknüpfen, wie Moralität als Regelverhalten in der Balance von sozialen Ansprüchen und Autonomie entsteht, ist der Exkurs zu Durkheim sehr sinnvoll (S. 55-59). Von da aus wird Piagets Entwicklung einer empirischen Theorie zum moralischen Urteil beim Kind gut verständlich. Der "frühe Piaget" untersucht die Regelpraxis und hebt davon die Stufen des Regelbewusstseins ab: intuitives Regelbewusstsein, ehrfurchtsvoller Umgang mit heiligen Regeln [Phase der Heteronomie], Regeln als Konventionen [Phase der Autonomie] (S. 61-68). An diese Ergebnisse wird später Kohlberg anschließen. Der "späte Piaget" verändert noch einmal seinen Fokus und versucht eine formale, mathematisierte Beschreibung der kognitiven Entwicklung von der senso-motorischen bis zur formal-operatorischen Stufe und legt dabei die Grundlagen für einen genetischen Strukturalismus, der nach den Strukturen fragt, die den beobachtbaren Interaktionen zugrunde liegen (S. 68-82). In diesen Zusammenhang gehört auch seine Äquilibrationstheorie als Mechanismus der Entwicklung, die die Konstruktion neuer Schemata in drei Stadien erklärt (vgl. S. 83-87).
- Im fünften Kapitel (S. 88-115) zu Lawrence Kohlberg lässt Garz sehr geschickt die bisherigen Erkenntnisse über Entwicklung zusammenfließen. Garz verknüpft dabei die Darstellung der Stufen moralischer Entwicklung (von der präkonventionellen über die konventionellen bis zur postkonventionellen Ebene) mit der der Forschungstheorie. Das ist deshalb so sinnvoll, weil Kohlberg viel stärker als seine Vorgänger durch methodologische Anfragen gezwungen ist, den zirkulären Zusammenhang von Forschungsmethode und Stufentheorie zu klären. Da Garz selbst zu dieser spezifischen Form der hermeneutisch-rekonstruktiven Forschung steht, ist er hier besonders gefordert. Da die zunehmende Fähigkeit zur Rollenübernahme ein entscheidendes "Movement" der Entwicklung darstellt, ist der Exkurs zu Robert L. Selman und seinen Niveaus der sozialen Perspektivenübernahme absolut sinnvoll (S. 95-101).
- Mit dem sechsten Kapitel zur Fürsorge-Moral von Carol Gilligan (S. 116-130) nimmt Garz einerseits deren Kritik an Kohlbergs Forschungsparadigma zur moralischen Entwicklung auf, andererseits nutzt er deren methodologische Neuausrichtung und eigene Stufentheorie als sinnvolle Ausdifferenzierung, um die menschliche Entwicklung – hier im Bereich der Moral – besser zu verstehen. Die beiden Theorien zur Entwicklung einer "Stimme der Gerechtigkeit" und zur "Stimme der Fürsorge" beschreiben empirische, sozial-konstituierte Typen moralischer Entwicklung (S. 128).
- Wie von Baldwin, Piaget und Kohlberg her auch eine Entwicklung religiöser Urteile empirisch rekonstruiert werden kann, zeigt das siebte Kapitel (S. 131-143) an der Theorie von Fritz Oser und Paul Gmünder. Diese beschreiben religionsphilosophisch bedeutsame Relationen zwischen dem Menschen und dem "Ultimat" – die Macht, die das Leben bestimmt – als (religions-)psychologischen Entwicklungsstufen. Als Zielpunkt wird eine Ich-Identität in Intersubjektivität angenommen, die die Autonomie und die Theonomie der Religion als Haltung realisiert. Die Stufen gewinnen Oser/Gmünder mithilfe von Dilemma-Situationen, die die Befragten dazu zwingen, ein Konstrukt in Dimensionen wie Heiliges/Profanes, Tanszendenz/Immanenz, Freiheit/Abhängigkeit und Vertrauen/Angst zu entfalten, das in sich konsistent ist. Dann können Oser/Gmünder diese Konstrukte als Stufen auffassen, die in einer fortschreitenden Perspektive auf den Zielpunkt hin angeordnet sind. So kommen sie zu fünf empirisch feststellbaren und einer sechsten (Ziel-)Stufe ohne empirische Relevanz. Wichtig ist, dass diese Stufenfolge selbst nicht die Wahrheit des Ultimaten untersucht. Es geht schlicht darum, in welchen Strukturen Menschen die Relation zu einem Ultimaten ausformen - und das ist offenbar eine universale Fähigkeit, die zur Entwicklung des Menschen gehört.
- Auf der Grundlage von Baldwin nimmt Garz mit seinem weiten Entwicklungsbegriff im achten Kapitel (S. 144-163) die Theorie von Michael J. Parsons zu den ästhetischen Urteilen auf. Dieser geht von einer ästhetischen Theorie aus, die Kunst als Ausdruck des Selbst versteht, der öffentlich zugänglich und in Urteilen über die Expressivität objektivierbar ist. So ist es auch hier möglich, kunstphilosophische Ansätze auf Kunstpsychologie zu beziehen und zu untersuchen, wie Menschen die Expressivität von Bildern begründen. In diesen Urteilen lassen sich Dimensionen unterscheiden, die sozial-konstituierte Strukturen der Urteilsbegründung ausbilden. Nach Parsons schreitet die Entwicklung von dem Vergnügen an Farben und Gegenständen über die Suche nach Schönheit und Realismus, dem Erfassen der Expressivität später von Form und Stil, bis hin zum autonomen Urteil fort.
- Der Ausklang im neunten Kapitel (S. 164-167) macht auf die Bedeutung der Entwicklungstheorien für Erziehung und Unterricht aufmerksam, da sie den alten moraltheoretischen Imperativ "Das Sollen setzt das Können voraus!" mit Leben erfüllen. Denn nun können Lernforderungen mithilfe der Theorien darauf hin überprüft werden, ob die Lernenden überhaupt die Möglichkeit haben, die notwendigen Schritte zu tun.
Im abschließenden Nachwort zur dritten Auflage (S. 168-176) zeigt Garz, welche kritischen Diskussionen und Weiterentwicklungen sich um die von ihm vorgestellten Theorien entwickelt haben. Dies betrifft den harten Theorie-Kern – wie die Unumkehrbarkeit der Entwicklung, die Zielstufen, die die unteren Stufen zwangsläufig abwerten, die Forschungsmethoden, die Aufrechterhaltung nicht-empirischer Stufen –, aber auch den Theorie-Rand, wenn die Theorien in ihrem eigenen zeitgenössischen Kontext oder in ihren philosophischen Annahmen gesehen werden. Das Buch endet folgerichtig damit, die Entwicklungstheorien aus dem stark technologischen/kybernetischen Forschungsparadigma zu lösen und sie in eine Forschungsrichtung der biographischen Entwicklung einzuspeisen. Das würde den Inhalt von Entwicklung verändern, da nun kulturelle und kontextuelle Faktoren an Relevanz gewinnen, aber auch die Methodologie und Methodik, ohne die Erkenntnisse der Theorien aufzuheben.
Zielgruppe
Garz selbst hat "an Anfänger und 'fortgeschrittene Anfänger' gedacht, die sich mit sozialisations- und entwicklungstheoretischen Fragen" (S. 7) beschäftigen. Das sind primär Lernende in pädagogischen und psychologischen Arbeitsfeldern. Für diese Zielgruppe stellt das Buch die wesentlichen Entwicklungstheorien vor und zwar so, dass einerseits relevantes Handlungswissen erworben werden kann und andererseits ein Forschungsfeld erschlossen wird. Das macht das Buch z.B. in der Lehrerbildung, für ein erziehungswissenschaftliches Studium oder in der Erzieherausbildung zu einem Standardwerk. Für diese Zielgruppe ist das Buch didaktisch gut konzipiert. Über diese enge Zielgruppe hinaus ist es für alle im Wissenschafts- und Bildungsbereich interessant, die sich schnell einen gesicherten Forschungsstand zu einer der Theorien verschaffen wollen und sich nicht durch die Primärliteratur arbeiten möchten. Sie bekommen hier eine Darstellung geliefert von jemandem, der mit großer Wertschätzung und Verbundenheit diesen Theorien begegnet, ohne die nötige wissenschaftliche Distanz zu verlieren.
Fazit
Detlef Garz bringt durch seine Veröffentlichungen und durch seine akademische Biographie die nötige fachliche Expertise für ein solches Lehrbuch mit. Mit der ganzen Erfahrung als wissenschaftlichem Schreiber und Lehrendem ist es ihm schon 1989 gelungen ein sehr gut lesbares, einführendes Lehrbuch zu schreiben, das die Theorien angemessen in ihrer Komplexität auf das Wesentliche reduziert und die Akteure als Forschungspersonen fassbar macht. Der Abstand der Jahre macht das Buch nicht überflüssig, vielmehr hat er die Texte noch "klassischer" werden lassen. Die Theorien werden heute als Wissensbestände in vielen Ausbildungs- und Studiengängen mitgeführt. Das Nachwort zur dritten Auflage bindet die Theorien sinnvoll in die heutigen Fragen der Entwicklungspsychologie ein. Insofern bietet das Buch eine sinnvolle Lerngrundlage für dieses Gebiet der Entwicklungspsychologie und wird es seinem eigenen Anspruch absolut gerecht!
Rezension von
Dr. Oliver Reis
Wissenschaftlicher Assistent an der Technischen Universität Dortmund, Institut für Katholische Theologie
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Zitiervorschlag
Oliver Reis. Rezension vom 13.04.2008 zu:
Detlef Garz: Sozialpsychologische Entwicklungstheorien. VS Verlag für Sozialwissenschaften
(Wiesbaden) 2006. 3., erweiterte Auflage.
ISBN 978-3-531-23158-7.
3. Auflage.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/120.php, Datum des Zugriffs 03.11.2024.
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