Ada Borkenhagen, Elmar Brähler (Hrsg.): Intimmodifikationen. Spielarten und ihre psychosozialen Bedeutungen
Rezensiert von Matthias Meitzler, 13.09.2011

Ada Borkenhagen, Elmar Brähler (Hrsg.): Intimmodifikationen.
Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG
(Gießen) 2010.
219 Seiten.
ISBN 978-3-8379-2058-1.
D: 19,90 EUR,
A: 20,50 EUR.
Beiträge zur Sexualforschung ; Bd. 95.
Thema
Körpermodifikationen sind kein neuzeitliches Produkt der westlichen Welt, sondern in nahezu allen Kulturen und Epochen aufzufinden. Doch vor allem in jüngerer Zeit lässt sich in den Industriegesellschaften ein Wandel hinsichtlich ihrer sozialen Bewertung und Verbreitung konstatieren. Ihre Erscheinungsformen und Anwendungsgebiete weisen eine inzwischen unüberschaubare Vielfalt auf. Besonders hoher Beliebtheit erfreuen sich Piercings und Tätowierungen. Waren sie noch vor einigen Jahren ein (meist negativ behaftetes) Stigma von Randgruppen, so werden derartige Formen des Körperschmucks inzwischen zunehmend sozial akzeptiert und in den unterschiedlichsten Gesellschaftsschichten verwendet. Nicht zuletzt bei jüngeren Menschen sind sie zu einer weit verbreiteten Modeerscheinung geworden - deren Ende bislang nicht in Sicht ist. Gerade in einer Gesellschaft, die sich durch ein hohes Maß an Individualisierung auszeichnet, ist der Körper ein bedeutungsvolles Medium, um diese Wertschätzung auszudrücken.
Dass Körpermodifikationen dafür beliebte Mittel sind, zeigt sich nicht nur anhand der auf den ersten Blick sichtbaren Körperstellen, sondern auch am Beispiel jener Körperregionen, die der Öffentlichkeit für gewöhnlich verborgen bleiben. Gemeint ist insbesondere der Genitalbereich. Im Unterschied zu Ohrringen oder Nasenpiercings zeichnet sich „Intimschmuck“ dadurch aus, dass er nur von verhältnismäßig wenigen Menschen gesehen wird. Dieses Faktum provoziert die rhetorische Frage, wie sehr im Intimbereich lokalisierte Tätowierungen, Metallstäbe bzw. -ringe und dergleichen insgesamt zur sichtbaren Individualität ihres Trägers beitragen können - oder nicht vielmehr andere Funktionen erfüllen (sollen). Auch wenn es Intimmodifikationen, ähnlich wie Körpermodifikationen im Allgemeinen, schon lange Zeit vorher gegeben hat, wird dem Thema erst seit Mitte der 1990er Jahre verstärkte Aufmerksamkeit gewidmet. Nach einer Fülle von einschlägigen Publikationen sucht man bislang vergeblich. Es kann als Anspruch des Buches verstanden werden, die bis dato entstandene Lücke schließen zu helfen.
Herausgeberin und Herausgeber
Ada Borkenhagen arbeitet als psychologische Psychotherapeutin und Psychoanalytikerin in eigener Praxis und ist Inhaberin der Dorothea-von-Erxleben-Gastprofessur der Universität Magdeburg. Elmar Brähler ist Professor für Medizinische Psychologie und Soziologie an der Universität Leipzig.
Entstehungshintergrund
Bereits 2008 ist von beiden ein Schwerpunktheft der Zeitschrift psychosozial (Nr. 112) zum Thema Intimmodifikationen erschienen. Bei dem zwei Jahre später in der Reihe „Beiträge zur Sexualforschung“ (Bd. 95) des Psychosozial-Verlags vorgelegten Sammelband handelt es sich um eine Weiterführung des Forschungsinteresses.
Aufbau
Der von einem interdisziplinären Autorenteam (neben der Psychologie stammen die Verfasser etwa aus den Bereichen der Ethnologie, Medizin, Politikwissenschaften, Soziologie etc.) zusammengestellte Band umfasst knapp 200 Seiten. Einem kurzen Vorwort der Herausgeber, welches in das Thema einführt und die unterschiedlichen Beiträge vorstellt, folgen elf Texte.
Inhalt
Aglaja Stirn und Patrick Weigand befassen sich mit dem weiblichen Intimpiercing. Der Leser erhält Einblicke in dessen Geschichte, Verbreitung und Anwendungsgebiete. Dominieren in Naturvölkern vor allem religiöse Motive und sind Piercings dort oft Auskunftsgeber über den sozialen Status ihres Trägers, so führe hierzulande vielmehr der „Wunsch nach Ausdruck einer spezifischen Form der Individualisierung“ (14) zu dieser Körpermodifikation. Neben psychologischen werden auch pathologische Aspekte und gesundheitliche Risiken beleuchtet. In ihrer Schlussbemerkung lassen die Autoren auch betroffene Personen zu Wort kommen.
Mit dem Gegenstück - nämlich der Modifikation des männlichen Genitales - setzt sich Erich Kasten auseinander. Neben unterschiedlichen Ausdrucksformen wie der Penisvergrößerung oder zahlreichen Varianten von Genitalpiercings (darunter auch das so genannte „Playpiercing“) werden mögliche Motive hierzu untersucht, die unter anderem in der Attraktivitätssteigerung und der Erhöhung des sexuellen Lustempfindens gesehen werden.
Zu den Spielarten der „Bodymodification“ gehört auch das Entfernen von Behaarung. Schließlich ist auch sie Teil des Körpers. In ihrem eigenen Beitrag widmen sich die beiden Herausgeber Ada Borkenhagen und Elmar Brähler daher dem aktuellen Trend zur Voll- bzw. Teilintimrasur, der sich besonders bei jungen Erwachsenen beobachten lässt. Wie in den anderen Texten auch, werden die Beweggründe untersucht - und mit der Infantilisierung (Abwehr der Sexualität) und der Visualisierung (Ausweitung der Sexualität resp. Sichtbarmachung des Intimbereichs) zwei konkurrierende psychosoziale Ansätze geboten. Beide, so konstatieren die Autoren, sind nur vor dem Hintergrund eines allgemeinen Intimideals, das sich im ständigen Wandel befindet, zu verstehen, und die „Intimmode der Schamhaarrasur ist nicht primär aus der individuellen Biografie eines Menschen zu erklären, sondern vorrangig aus dem gesellschaftlichen Kontext“ (79).
Simone Preiß beschäftigt sich mit dem zunehmenden Wunsch nach operativen Genitalkorrekturen im Allgemeinen und Schamlippenverkleinerungen im Besonderen. Letztere seien vor allem ästhetisch motiviert, erfolgen aber auch aufgrund funktionaler Beeinträchtigungen. Unterstützt durch Schaubilder beschreibt die Autorin verschiedene Operationstechniken und zeigt jeweilige Vorzüge und Risiken auf.
Auch der Text von Ada Borkenhagen, der den bezeichnenden Titel „Designervagina“ trägt, setzt sich mit der kosmetischen Genitalchirurgie - vor dem Hintergrund des sozial konstruierten Bildes von Weiblichkeit - auseinander.
Der Beitrag von Verina Wild und Rachel Neuhaus Bühler thematisiert die zunehmende ethische Problematik der chirurgischen Hymenrekonstruktion. Zunächst wird mit dem Mythos aufgeräumt, dass Jungfräulichkeit durch das Blut des zerrissenen Hymens bewiesen werden könne. Komme es doch tatsächlich bei nicht einmal der Hälfte aller Frauen während des ersten Geschlechtsverkehrs zu Blutungen. Die Methoden der Operation werden erklärt und mögliche Motive, etwa das Ideal der Jungfräulichkeit, ergründet. Neben der Tatsache, dass die Hymenorrhaphie keinen ersichtlichen medizinischen Nutzen hat und mögliche Risiken bestehen, werden einige ethische Fragen aufgeworfen, die den Leser zu eigenen Reflexionen anregen: „Macht sich die handelnde Ärztin mit der Rekonstruktion des Hymens möglicherweise zur Komplizin patriarchaler Machtstrukturen? […] Handelt es sich bei dem Wunsch nach einer Hymenrekonstruktion überhaupt um eine ,autonome‘ Patientenentscheidung? Wie wird eine solche definiert?“ (121). Eine Analyse von Onlineforen verdeutlicht die Unsicherheit und mitunter Verzweiflung vieler junger Frauen. Dabei scheint Risikoabwägung oftmals nicht im Vordergrund zu stehen. Stattdessen gehe es um die Frage, wie schnell der Eingriff vorgenommen werden könne und ob er finanzierbar sei. In ihrem Ausblick fordern die beiden Autorinnen unter anderem mehr „empirische Forschung, die sensibel vorgeht und die der individuellen Lage der Frauen respektvoll begegnet“ (129).
Mit der über 2000-jährigen Tradition der weiblichen Beschneidung, ihrer Verbreitung, ihren Hintergründen und Folgen sowie dem gegenwärtigen Trend zur Medikalisierung befassen sich Isabell Utz-Billing und Heribert Kentenich.
Die weibliche Genitalverstümmlung ist auch Thema im Beitrag von Anne Cordes. Exemplarisch am westafrikanischen Staat Benin beleuchtet sie dort unternommene Aufklärungskampagnen - und Gründe für deren Scheitern.
Daniela Dorneles de Andrade, Elena Jirovsky und Sara Paloni betonen in ihrem Text, dass zwischen der „female genital mutilation“ (FGM) und der weiblichen Genitalchirurgie Welten liegen. Dennoch würden beide oft miteinander verglichen werden. „Vor allem in feministischen Kontexten werden beide Phänomene als Repräsentation und Ausdruck der Reproduktion asymmetrischer Geschlechterverhältnisse thematisiert“ (173). Ihre zentrale Gemeinsamkeit sei der Eingriff am „gesunden“ Körper. Die Autorinnen zeigen einerseits Problematiken eines Vergleiches auf: Während in der Regel Kinder unfreiwillig der FGM (im Rahmen eines Initiationsrituals) unterzogen werden und diese Maßnahme primär der Lusthinderung diene, entscheiden sich Erwachsene freiwillig zu genitalchirurgischen Eingriffen, mit dem Ziel der Luststeigerung und sexuellen Attraktivität. Andererseits werden Argumente für eine gemeinsame Diskussion gefunden. So spielen etwa in beiden Fällen gesellschaftliche Zwänge eine Rolle: Im Fall der FGM bestimmt durch das nähere soziale Umfeld - und hinter dem Entschluss zu genitalchirurgischen Maßnahmen verbergen sich oft medial transportierte Schönheitsideale.
Der Text von Matthias Franz, der sich unter psychoanalytischer Diktion dem Thema der männlichen Genitalbeschneidung widmet, schließt den Sammelband ab.
Diskussion
Recht schnell wird dem Leser deutlich, dass trotz gestiegener gesellschaftlicher Akzeptanz und Kommerzialisierung keineswegs jede Form der Intimmodifikation auf breites Verständnis stößt; die Übergänge zwischen Verschönerung und Verstümmelung sind durchaus fließend. Nichtsdestotrotz sind (und darauf weisen die Herausgeber bereits im Vorwort eindringlich hin) essenzielle Unterschiede zwischen den bewusst intendierten ästhetischen Intimmodifikationen und den in der Regel religiös motivierten und oft gegen den Willen des betroffenen Subjekts durchgeführten Genitalverstümmelungen zu beachten. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass beides in einem Buch thematisiert wird und unter dem Oberbegriff der Intimmodifikation firmiert.
Sofern der Leser mit den unterschiedlichen Spielarten von Intimmodifikationen noch wenig vertraut ist, erwartet ihn eine hohe Informationsdichte, wodurch sich das Buch über weite Strecken wie eine spannende Abenteuerreise in ein wenig bekanntes Gebiet liest. Einige Schilderungen wirken allerdings - aufgrund des phasenweise dominierenden medizinischen Fachjargons - etwas langatmig. Schaubilder, Fotos und Tabellen dienen indes zur Illustration des Beschriebenen. Manche der Darstellungen muten skurril und „schwer verdaulich“ an; sie dürften bei einigen Rezipienten Abscheu und Unverständnis, bei anderen möglicherweise Neugier und Faszination hervorrufen.
Der Blick ist nicht nur auf die westliche Welt gerichtet, sondern auch auf autochthone Völker, in denen spezifische Formen der Intimmodifikation mit einer dem westlichen Verständnis nach andersartigen, „befremdlichen“ kulturellen Bedeutung aufgeladen sind. Ohne eingehende Reflexionen der gesellschaftlichen Rahmungen lassen sich Intimmodifikationen, das macht der Band deutlich, schwer begreifen.
Auffallend viel Raum wird dem Thema der weiblichen Genitalverstümmelung gegeben. Auch generell wird das weibliche Genital schwerpunktmäßig in den Fokus genommen (lediglich zwei Texte widmen sich explizit der männlichen Intimmodifikation). In seiner Gesamtheit wirkt das Buch somit thematisch unausgeglichen. Weil sich die meisten Beiträge trotz unterschiedlicher Herangehensweisen inhaltlich nicht klar voneinander abgrenzen lassen, treten häufig Redundanzen auf. Diese Problematik wird jedoch dadurch abgefedert, dass die Texte unabhängig voneinander gelesen werden können und nicht zwingend aufeinander aufbauen.
Fazit
Der Sammelband von Ada Borkenhagen und Elmar Brähler stellt die Mannigfaltigkeit der Intimmodifikationen nicht nur vor, sondern nimmt zugleich deren religiösen, kulturellen, medizinischen und vor allem sozialpsychologischen Hintergründe unter die Lupe. Summa summarum erhält der Leser durchaus gelungene, wissenschaftlich fundierte Darstellungen und Analysen eines bislang noch wenig erforschten Phänomens.
Rezension von
Matthias Meitzler
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