Michael Borg-Laufs, Katja Dittrich (Hrsg.): Psychische Grundbedürfnisse in Kindheit und Jugend
Rezensiert von Anne-Laura Weißleder, Prof. Dr. phil. habil. Silke Birgitta Gahleitner, 19.09.2011

Michael Borg-Laufs, Katja Dittrich (Hrsg.): Psychische Grundbedürfnisse in Kindheit und Jugend. Perspektiven für soziale Arbeit und Psychotherapie.
dgvt-Verlag
(Tübingen) 2010.
323 Seiten.
ISBN 978-3-87159-915-6.
24,80 EUR.
Reihe: KiJu - Band 15.
Thema
In den letzten Jahren gab es auf dem Feld der psychischen Grundbedürfnisse produktive Weiterentwicklungen. Das von Michael Borg-Laufs und Katja Dittrich herausgegebene Werk zu psychischen Grundbedürfnissen in Kindheit und Jugend stützt sich auf das von Klaus Grawe entwickelte Modell der vier Grundbedürfnisse nach Lustgewinn/Unlustvermeidung, Orientierung und Kontrolle, Selbstwertschutz und Selbstwerterhöhung sowie Bindung. Das Buch zeigt vor allem die Bedeutung der psychischen Grundbedürfnisse in der sozialen Arbeit auf. Die AutorInnen aus unterschiedlichen Praxisfeldern beschreiben die jeweilige Rolle, die die Beachtung psychischer Grundbedürfnisse in ihrer Arbeit mit der Klientel spielen.
Aufbau und Inhalt
Die HerausgeberInnen Michael Borg-Laufs und Katja Dittrich stellen in ihrem einleitenden Aufsatz „Die Befriedigung psychischer Grundbedürfnisse als Ziel psychosozialer Arbeit“ die vier psychischen Grundbedürfnisse vor und diskutieren deren zentrale Bedeutung in psychosozialen Berufen wie der Sozialen Arbeit - als für ein „glückliches Leben in psychischer Gesundheit“ (S. 14) unverzichtbar. Mit dieser Publikation wird erstmals auf die Relevanz des Konzepts psychischer Grundbedürfnisse als Zielorientierung Sozialer Arbeit aufmerksam gemacht, da viele sozialarbeiterische Interventionen Einfluss auf die Befriedigung der Grundbedürfnisse nehmen.
Michael Borg-Laufs und Anna Spancken stellen anhand einer Studie zu psychotherapeutisch behandelten Kindern und einer Vergleichsgruppe den Zusammenhang zwischen der erfüllten Grundbedürfnissen und psychischer Gesundheit bei Kindern dar. Der von ihnen verwendete „Fragebogen zur Befriedigung psychischer Grundbedürfnisse bei Kindern und Jugendlichen“ liegt in einer Fremd- und einer Selbstbeurteilungsversion vor und umfasst Items zur Erfassung zentraler Aspekte der Grundbedürfnisse sowie Annäherungs- oder Vermeidungstendenzen. Die Ergebnisse zeigen relevante Unterschiede im Status der Befriedigung psychischer Grundbedürfnisse bei gesunden und psychisch kranken Kindern insbesondere hinsichtlich des Bedürfnisses nach Bindung in der Selbstbeurteilung und allen Fremdbeurteilungsskalen.
Esther Wagner schließt mit einer Untersuchung zum Zusammenhang von aggressivem Verhalten bei Jugendlichen und mangelnder Befriedigung der Grundbedürfnisse an. In ihrem Beitrag „Zur Befriedigung psychischer Grundbedürfnisse bei aggressiven Jugendlichen“ stellt sie anhand einer Stichprobe von 17 Jugendlichen zwischen 12 und 15 Jahren fest, dass aggressive Jugendliche „beträchtliche Defizite“ (S. 56) bei der Befriedigung der Grundbedürfnisse aufweisen. Hieraus leitet die Autorin einen Handlungsbedarf für sozialarbeiterische wie auch psychotherapeutische Arbeit ab.
In ihrem Artikel „Psychische Grundbedürfnisse und ihre Bedeutung für die Entstehung kindlicher Angststörungen“ setzt Sandra Behr sich theoretisch mit dem Zusammenhang von Befriedigung der Grundbedürfnisse und der Entwicklung von Angststörungen im Kindesalter auseinander. Sie bezieht die vier Grundbedürfnisse auf die Entstehung von Angststörungen und folgert, „dass ein innerpsychischer Zustand der Konsistenz den wichtigsten Schutzfaktor für die Entstehung kindlicher Angststörungen darstellt“ (S. 82). Der Sozialen Arbeit empfiehlt sie daher eine Fokussierung auf diese Befriedigung der Grundbedürfnisse, im direkten Kontakt mit den Kindern wie auch im Einwirken auf die Erziehungskompetenz der Eltern.
In „Kindeswohlgefährdung und psychische Grundbedürfnisse“ erklären Katja Dittrich und Michael Borg-Laufs den Begriff der Kindeswohlgefährdung und deren mögliche Auswirkungen auf die zukünftige Befriedigung der Grundbedürfnisse. Angesichts der Folgen von Vernachlässigung für die psychischen Grundbedürfnisse von Kindern halten die AutorInnen es daher für notwendig, sie für eine Feststellung von Kindeswohlgefährdung neben den physischen Grundbedürfnissen zu berücksichtigen. Sie fordern daher, die von ihnen entwickelten vier Grundbedürfnisse in die Diagnostik zur Kindeswohlgefährdung aufzunehmen.
Catharina dos Santos geht in ihrem Beitrag „Zur psychosozialen Situation von Flüchtlingskindern psychisch kranker Eltern“ der Frage nach, wie Flüchtlingskinder von Kriegsüberlebenden ihre Situation in Deutschland wahrnehmen. Nach einer Einführung in die theoretischen Grundlagen der Resilienz- und Vulnerabilitätsforschung sowie der Traumaforschung stellt sie ihre Studie vor, für die qualitative Verfahren und den GBKJ-Bogen genutzt wurden. Veranschaulichende Zitate der Befragten zu deren Wahrnehmung der Flucht, der aufenthaltsrechtlichen Situation und der psychischen Erkrankung des Elternteils werden hinsichtlich der Schutzfaktoren beleuchtet. Die Auswertung der „unerwarteten Ergebnisse“ (S. 126) aus dem GBKJ-Bogen zeigt, dass der Selbsteinschätzung folgend die „Grundbedürfnisse der Teilnehmerinnen im Vergleich mit Normwerten einer repräsentativen Stichprobe von gesunden Kindern überdurchschnittlich gut befriedigt“ (S. 127) sind. Diese Ergebnisse werden den Interviews und Fremdeinschätzungen zufolge allerdings deutlich relativiert, denn alle Befragten leiden bis heute noch unter den Folgen von Krieg und Flucht.
In ihrem Artikel „Verletzte Grundbedürfnisse - Interpretation eines Amoklaufs jenseits der Frage nach dem Computerspielkonsum“ deklinieren Michael Borg-Laufs und Katja Dittrich die Verletzung der Grundbedürfnisse am Fallbeispiel des 18-jährigen Amokläufers Bastian B. aus Emsdetten im Jahr 2006 durch. Sie verfolgen die These, dass Gründe für „school shooting“ nicht etwa allein im Spielen gewalttätiger Computerspiele lägen, sondern vor allem im „Zusammenhang zwischen psychischer Störung und verletzten oder nicht befriedigten Grundbedürfnissen“ (S. 134). Anhand des Abschiedsbriefes von Bastian B. deuten die Autoren den Amoklauf als einen gewaltsamen „Lösungsversuch“ (S. 144) des Täters, in seiner Verzweiflung verstanden zu werden. Abschließend entwerfen Borg-Laufs und Dittrich mögliche Interventionen an diesem Fallbeispiel.
Die Autoren Estera Krajewski, Katja Dittrich und Michael Borg-Laufs erörtern in ihrem Aufsatz „Psychische Grundbedürfnisse in der offenen Jugendarbeit“ die Möglichkeiten der offenen Jugendarbeit, die Grundbedürfnisse zu befriedigen. Nach der Darstellung von Rahmenbedingungen und Aufgabenbereichen offener Jugendarbeit erläutern sie Methoden und damit verknüpfte Möglichkeiten bei der Beachtung psychischer Grundbedürfnisse. Die AutorInnen ziehen den Schluss, „dass die offene Jugendarbeit mit ihren spezifischen Charakterzügen nicht dazu in der Lage ist, grundlegend negative Vorerfahrungen im Bereich der psychischen Grundbedürfnisse auszugleichen“ (S.191), sehr wohl aber Gelegenheiten bietet, die Befriedigung zu verbessern.
Ob die Angebote der Schulsozialarbeit eine Bedürfnisbefriedigung unterstützen, prüft Jeanette Rohleder in „Die Befriedigung der psychischen Grundbedürfnisse als Gegenstand der Schulsozialarbeit“. Nach der Erläuterung von Zielen, Zielgruppen und Aufgaben der Schulsozialarbeit geht die Autorin auf Methoden, methodisches Handeln und Handlungsprinzipien der Schulsozialarbeit ein und differenziert dabei Gruppenangebote und ganztägige Angebote. Die verschiedenen Methoden werden hinsichtlich der psychischen Grundbedürfnisse ausgewertet. Rohleder resümiert, dass Schulschwierigkeiten auch durch Nichtbefriedigung psychischer Grundbedürfnisse begründet werden können. Um die Schule als Ort der Förderung der Grundbedürfnisse nutzen zu können, regt die Autorin eine enge Zusammenarbeit von Lehrern, Schulsozialarbeitern und der Jugendhilfe an.
Julia van der Linden erklärt in ihrem Aufsatz „Traumata bei Frauen durch sexuellen Missbrauch in der Kindheit - Ressourcenorientierte Beratung in der Sozialen Arbeit“ zunächst ausführlich die Begriffe Trauma und sexueller Missbrauch sowie Auswirkungen des Erlebens von sexuellem Missbrauch. Daraufhin wendet sie das Konzept der psychischen Grundbedürfnisse auf Missbraucherfahrungen in der Kindheit an und analysiert, welchen Einfluss sie im Prozess der Traumatisierung nehmen können. Die Autorin beleuchtet Ressourcenorientierte Beratung als Handlungskonzept der Sozialen Arbeit in der Arbeit mit sexuell missbrauchten Frauen, indem sie systemische Beratung, Ressourcenaktivierung und ressourcenorientierte Beratung aus sozialökologischer Perspektive vorstellt. Nach einer Diskussion dieser Konzepte bezogen auf die Arbeit mit sexuell missbrauchten Frauen zieht die Autorin das Fazit, dass durch sexuellen Missbrauch mehrere psychische Grundbedürfnisse missachtet werden und die ressourcenorientierte Beratung eine hilfreiche Intervention der Sozialen Arbeit darstellt.
„Grundbedürfnisorientierte Psychotherapie mit einem dreijährigen Mädchen - Ein Fallbeispiel“ stellt Jenny Schwab vor. Bei dem Fallbeispiel handelt es sich um ein Mädchen, das mit höchster Wahrscheinlichkeit sexuell missbraucht wurde und von ihrer Mutter in die Therapie gebracht wird. Nach Problemdarstellung und -analyse des Fallbeispiels formuliert die Autorin nach Hypothesen zur Problemgenese die Zielanalyse der Therapie, mit Veränderungsvoraussetzungen sowie Therapiezielen, die unter „Berücksichtigung der Grundbedürfnisse nach Grawe als besonders zielführend“ (S. 263) erachtet und für das Mädchen sowie dessen Mutter einzeln aufgeführt werden. Auf der Grundlage der Ziele werden ein Therapieplan zur Methodik und ein Therapieverlauf entwickelt, ebenfalls mit Differenzierung zwischen dem Mädchen und der Mutter. Abschließend werden Therapie und Therapieverlauf von der Autorin kritisch reflektiert.
Auch Eva Maxion betont in ihrem Artikel „Die Störung des Sozialverhaltens als Folge der Verletzung psychischer Grundbedürfnisse: Ein Fallbericht“, dass die Bedeutung von psychischen Grundbedürfnissen berücksichtigt werden sollte. Nach einer kurzen Beschreibung der Problemstellung geht die sehr ausführliche Problemanalyse neben Symptomatik und psychischem Befund auch auf die psychischen Grundbedürfnisse ein. In der Zielanalyse formuliert die Autorin Veränderungsvoraussetzungen wie auch Therapieziele und stellt den Therapieplan und -verlauf vor, den sie danach bewertet, ob es dem zehnjährigen Klienten ermöglicht werden konnte, seine psychischen Grundbedürfnisse zu befriedigen.
Fazit
Das Buch „Psychische Grundbedürfnisse in Kindheit und Jugend“ legt nicht nur erstmals eine spezifische Konzeption psychischer Grundbedürfnisse für Fachkräfte der Sozialen Arbeit vor, es ist auch empfehlenswert für alle, die mit Klientel dieser Altersgruppe arbeiten. Das Konzept der Grundbedürfnisse ist ein hilfreiches Konstrukt zur Förderung einer gesunden Entwicklung und im Sinne eines ressourcenorientierten Fokus auf ein breites Spektrum an Unterstützungsmöglichkeiten. Mithilfe des Konzepts lassen sich nicht nur bereits entstandene Störungen verstehen, sondern durch Beachtung der Befriedigung der Grundbedürfnisse kann die Entwicklung von Störungen präventiv vermindert, verhindert oder gelindert werden. Die Aufsätze des Buches zeigen die Bandbreite der Anwendungsmöglichkeiten in den verschiedenen Praxisfeldern auf und machen so deutlich, dass das Konzept der psychischen Grundbedürfnisse ein wichtiger Bestandteil in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen einnehmen sollte. Wünschenswert wären weitere Publikationen zum Thema, die das Konzept psychischer Grundbedürfnisse noch stärker interdisziplinär mit anderen Grundbedürfniskonzepten aus Soziologie oder Systemtheorie verknüpfen und die in diesem Buch erfolgreich gestartete Erkenntniskette weiter verfolgen und in die Soziale Arbeit implementieren.
Rezension von
Anne-Laura Weißleder
Prof. Dr. phil. habil. Silke Birgitta Gahleitner
Professorin für Klinische Psychologie und Sozialarbeit für den Arbeitsbereich Psychosoziale Diagnostik und Intervention an der Alice Salomon Hochschule Berlin
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