Florian von Rosenberg: Bildung und Habitustransformation
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 26.09.2011

Florian von Rosenberg: Bildung und Habitustransformation. Empirische Rekonstruktionen und bildungstheoretische Reflexionen.
transcript
(Bielefeld) 2011.
349 Seiten.
ISBN 978-3-8376-1619-4.
34,80 EUR.
CH: 47,90 sFr.
Reihe: Theorie Bilden - Band 21.
Habitus - Krise und/oder Prozess?
Die bildungstheoretische Debatte ist von Anfang an bestimmt von den Versuchen, Theorie und Praxis, Bildungsphilosophie und empirische Bildungsforschung in ihren Differenziertheiten zu erkennen, wie auch in ihren jeweiligen Konstruktionen ubiquitär und relational zu erfassen. Wenn Bildung als Transformationsprozess bei der Erkennung und Bewältigung von Selbst- und Weltverständnis (Marotzki) verstanden wird, differenziert sich auch die Benennung von Lern-, Wissens- und Bildungsverläufen. So wird die Suche nach vermittelnden Kategorien ( vgl. dazu: Thorsten Fuchs, Bildung und Biographie, 2011, in: socialnet Rezensionen, www.socialnet.de/rezensionen/11821.php), wie auch zu Anschlüssen im Findungsprozess von Theorie und Praxis, sowie einer „Theorie der Praxis“ (Bourdieu) zu einer Debatte um die Ambivalenz von Bildungsprozessen.
Entstehungshintergrund und Autor
Wenn Bildung die Transformation von Selbst- und Weltverhältnissen konstituiert, erfordert die Betrachtung des Lernbegriffs als Erlangung eines Wissenszuwachses eine differenzierte Zugangsweise. Dafür bietet sich eine Auseinandersetzung mit den verschiedenen bildungstheoretischen Ansätzen - Existentiell-phänomenologische (Marotzki), diskurstheoretische (Koller und Lüders), habitustheoretische (Alheit und Herzberg) und pragmatisch-wissenschaftssoziologische (Nohl) - an.
Florian von Rosenberg legt seine an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg eingereichte Dissertationsschrift vor. Es geht dabei darum, „einen philosophisch fundierten Bildungsbegriff empirisch anschlussfähig zu machen“ und damit „Bildungsphilosophie und empirische Bildungsforschung in ein fruchtbares Wechselverhältnis zu stellen“.
Aufbau und Inhalt
Neben der Einleitung gliedert der Autor seine Forschungsarbeit in sieben Kapitel und schließt sie mit einer Zusammenfassung ab.
Im Teil „Bildungstheoretische(r) Referenzrahmen“ diskutiert er, gewissermaßen als Versatzstücke und Anschlusstexte im Fokus von sprachlich-differenten und a-theoretisch und routiniert verlaufenden bildungstheoretischen Linien, ausgewähltes bildungstheoretische Referenztheorien, mit dem Ziel, eine praxeologische Bildungstheorie auf der Grundlage einer „Theorie der Praxis“ zu entwickeln. Dabei geht es darum, den für Theoriebildung und Forschung habhaften Bildungsbegriff in ein „Wechselverhältnis von theoretischer und empirischer Rekonstruktion“ zu bringen. Weil Welt(an)sicht individuelle und kollektive Anschauungen des Selbst und der Weltverhältnisse konstituiert, kommt dem Habitus „als Dispositionssystem, das die Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata der sozialen Akteure strukturiert“, eine besondere Aufmerksamkeit zu; und zwar insofern, als Bildung einen prozesshaften Verlauf nimmt und damit der Habitus eben auch als Prozess, als Transformation hin zum „sozialen Feld“ im Sinne der Bourdieuschen Feldtheorie zu verstehen ist. Die Unterscheidung ist deshalb von Bedeutung, weil der Habitus „Gesellschaft nur vermittelt und aus der Perspektive einer subjektiven und/oder kollektiven Aneignung in den Blick nimmt“, während die Einbeziehung des Feldes ermöglicht, „Welt und damit auch Gesellschaft durch die Einklammerung des Aneignungscharakters in ihrer Eigenlogik (zu) rekonstruieren“.
Im Kapitel „Zum methodologischen Verhältnis von Bildungstheorie und empirischer Bildungsforschung“ reflektiert Florian von Rosenberg den Stellenwert der Methodologie im Verhältnis Bildungstheorie und -forschung. Die rekonstruktive Sozialforschung bietet mit der dokumentarischen Methode die Möglichkeit an, Habitus- und Feldrekonstruktionen vorzunehmen und Wechselverhältnisse zu generieren.
Um den Perspektivenwechsel von der forschungstheoretischen Was- zu den Wie-Fragen empirisch zu begründen, hat der Autor 14 biographische Interviews von Personen aus dem akademischen Bildungsmilieu durchgeführt, um „Rekonstruktionen von Bildungsprozessen als Wandlungen des Habitus“ zu verdeutlichen. Drei biographische Erzählungen werden zur Fragestellung von ästhetischen Praktiken und Arbeitstechniken in diesem Kapitel analysiert. Die dabei zu Tage tretenden individuellen und im gesellschaftlichen Kontext verlaufenden Findungs- und Einstellungsprozesse verdeutlichen einen Wandel „von einem nonkonformen zu einem nonkonform-flexiblen Habitus“.
Dabei wird die Frage bedeutsam, „wie diese Wandlungsprozesse der Nonkonformität auch in soziale Wandlungsprozesse eingefasst sind“. Mit der These, „dass sich die rekonstruierten biographischen Wandlungsprozesse der nonkonformen Praxis in einen gesellschaftlichen Wandlungsprozess einfügen, in dem die nonkonformen Kritikformen an Normierungspraktiken zu einer Ausbildung von spezifischen Praxis- und Feldformen der Flexibilisierung führen“, wird die historische Entwicklung der Entstehung von Normierungspraktiken nachgezeichnet, um anhand der in den Interviews vorgefundenen Positionen von „Fremdzwang“, „Selbstzwang“ und „gouvernementaler Selbstführung“ die vorgefundenen Habitus- und Feldrekonstruktionen zu begründen.
Dass sich Transformationen des Habitus von den Wandlungen des Habitus in mehreren Ausprägungsformen und -phasen voneinander unterscheiden, zeigt Florian von Rosenberg anhand der spezifizierten Ergebnisse von drei weiteren Interviews auf. Er differenziert fünf Stadien von Transformationsprozessen heraus, die sich sowohl voneinander abgrenzen, als auch miteinander in einem Wechselverhältnis stehen.
Bezug nehmend auf Foucault benennt der Autor die in den biographischen Erzählungen vorgefundenen und auf das Verhältnis von Habitus- und Feldrekonstruktion klassifizierten bildungstheoretischen Strukturen als „Praxisformen der Technologien des Selbst“, gewissermaßen also Verhaltensweisen und (Denk- und Handlungs-)Tätigkeiten, „die den Einzelnen in einer spezifischen Technik des Selbstbezuges üben“, und, wie sich in den Analysen der Interviews zeigt, sich individuell, gesellschaftlich, kulturell und historisch verändern.
Fazit
Theoretische Formatierungen mit dem Anspruch, den philosophisch fundierten Bildungsbegriff empirisch anschlussfähig zu gestalten, sind angewiesen auf die Einbeziehung von historisch, kulturell und konkret entstandenen, gesellschaftlichen Strukturen; gleichzeitig aber dürfen sie sich ihnen nicht ausliefern - diese Janusköpfigkeit ist Anspruch und Dilemma zugleich, wenn es darum geht, den Prozess von Habitusbildung, -wandlung und -stabilisierung bildungstheoretisch und -empirisch zu reflektieren.
Florian von Rosenberg greift mit seiner Forschungsarbeit in den Diskurs ein, Bildungstheorie und empirische Bildungsforschung in ein produktives Wechselverhältnis zu bringen. Mit dem biographieorientierten Ansatz, auf der Grundlage von biographischen Erzählungen, filtert er Phasen der Habitusdifferenzierung heraus, mit denen er die vorgefundenen Defizite der Selbst- und Weltwahrnehmung in Bezug auf die Rekonstruktion der sozialen Welt füllt. Mit dem „Feld„- Begriff bringt er „makrosoziologische Kategorien… (ein), welche gesellschaftliche Eigenlogiken jenseits von Akteurskonstruktionen thematisieren können“.
Die Wissenschaftsreihe „Theorie Bilden“ wird vom Fachbereich Erziehungswissenschaften der Universität Hamburg mit dem Ziel herausgegeben, den Zusammenhang von Theorie und Bildung (wieder) stärker in das Bewusstsein und Forschungshandeln zu bringen. Dies darf auch die Forschungsarbeit von Florian von Rosenberg beanspruchen.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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