Tobias Künkler: Lernen in Beziehung
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 29.09.2011
Tobias Künkler: Lernen in Beziehung. Zum Verhältnis von Subjektivität und Relationalität in Lernprozessen.
transcript
(Bielefeld) 2011.
608 Seiten.
ISBN 978-3-8376-1807-5.
39,80 EUR.
CH: 53,90 sFr.
Reihe: Pädagogik.
Alles, was sich verändert, lernt
Natürlich! Dass Lernen Verhaltensänderung sei, gehört in den Erziehungswissenschaften zu den unangefochtenen und indizierten Hauptwörtern der Zunft. Doch die Frage, wie der Mensch lernt, als Zögling und Educandus, als Individuum und Gemeinschaftswesen, als Subjekt und/oder Objekt, als theoretischer oder praktischer Zugang…, wird in den vorliegenden Lerntheorien selten relational, sondern überwiegend funktional beantwortet: Lernen für…, Lernen zum …, Lernen mit… Denkprozesse, wie sie für Theoriebildungen ablaufen, gründen auf und schöpfen aus Quellen, wie sie historisch, kulturell und intellektuell fließen. Im westlichen Sosein sind dies die Paradigmen des Behaviorismus, des Kognitivismus, des Konstruktivismus und neuerdings der Neurowissenschaften.
Entstehungshintergrund und Autor
Im abendländischen Denken ist mathêsis, Lernen, Auf- und Anbau auf bereits Bestehendem - „Jedes Lehren und jedes verständige Lernen entsteht aus vorangegangener Kenntnis“ (Aristoteles) - was ja im Gegensatz zur tabula rasa steht und schon gar zum „Nürnberger Trichter“. Die Kritik des römischen Philosophen Seneca, nicht Schul-, sondern Lebensweisheit zu lehren - Non vitae, sed scholae discimus - reiht sich ein in die Bemühungen, die Bedeutung des Lernens für die menschliche Entwicklung zu erkennen. Die lebensweltliche Bedeutung des Lernens wird in den von der Bildungskommission des Deutschen Bildungsrates 1969 vorgelegten Empfehlungen für die Entwicklung und Reform des Bildungswesens mit der Titelung „Begabung und Lernen“ verdeutlicht; und im Lehrbuch der Lern- und Gedächtnispsychologie (Klaus Foppa: Lernen, Gedächtnis, Verhalten, neunte Auflage, Köln 1975) wird der Anspruch postuliert, dass die Disziplin mehr will als nur Phänomene des Wissenserwerbs und der Kenntnisspeicherung zu erklären. Und mit der „Psychologie des Denkens“ wird darauf verwiesen, dass „Denken mehr ist als ein Erleben von Inhalten“ (Carl Friedrich Graumann, Hrsg., Denken, 5. Aufl., Köln 1971).
Mit dieser natürlich unzureichenden und subjektiv ausgewählten Aufzählung soll hingeführt werden zu einer (theoretischen) Bestandsaufnahme, wie in den Erziehungswissenschaften die genuine Habhaft „Lernen“ wahrgenommen und behandelt wird. Angesichts der qualitativen und quantitativen Veränderungen, wie sie sich in der immer interdependenter und entgrenzender entwickelnden Welt lokal und global vollziehen, greifen auch die wissenschaftlichen, praktischen und theoretischen Begrifflichkeiten und Konzeptionen des Lernens weit über die traditionellen Vorstellungen und Anforderungen hinaus: Es ist die Rede von der „Reflexivwerdung des Lernens“ und der „Gouvernementalisierung“, als Entgrenzung des individuellen und institutionellen Lernaktes hin zum lebenslangen Lernen. So ist es überraschend, dass gerade die Erziehungswissenschaften den Lerntheorien eine eher randständige Bedeutung widmen.
Soweit jedenfalls die Auffassung, wie sie von Thomas Künkler vertreten wird, der als Studienleiter und Dozent für Pädagogik und Soziologie am Marburger Bildungs- und Studienzentrum arbeitet und mit dem umfangreichen Buch seine Dissertationsschrift vorlegt. Er entwirft eine „Theorie des Lernens“, indem er danach fragt, was es bedeutet, voraussetzt und konstituiert, dass der Mensch als „Subjekt des Lernens“ gilt: „Die expliziten oder (und, J.S.) impliziten subjekttheoretischen Annahmen jeder Lerntheorie bestimmen auch, was jeweils überhaupt unter Lernen verstanden werden kann“.
Aufbau und Inhalt
Das Ziel der Arbeit, die „Formulierung einer alternativen Konzeption des Lernens“ vorzunehmen, geht der Autor an, indem er sich auf die Suche nach einem rationalen Verständnis des Lernens macht und dabei die traditionellen und gängigen Wege eines individualtheoretischen und dualistischen Verständnisses vom Lernen verlässt und in zwei Studien ( I + II), die auch als Kapitel mit Gliederungen verstanden werden können, aufzeigt, „dass und wie das implizite Subjektverständnis der Lerntheorien eine zentrale Wirkgröße dafür ist, was in den jeweiligen Lerntheorien überhaupt unter Lernen verstanden und untersucht werden kann und wie das Lernen dort konzipiert wird“. In der Studie II schließlich erarbeitet der Autor ein alternatives Subjektverständnis („relationale Subjektivität“) der Grundlage von und mit Entwürfen zur Erweiterung von ausgewählten Lernkonzepten, etwa dem Konzept des impliziten Wissens, von praxistheoretischen Perspektiven auf Lernen und Wissen, wie etwa der kybernetischen Lerntheorie Batesons, von leibphänomenologischen Betrachtungen, Bourdieus Praxeologie, u. a. Die dabei kategorisierten und klassifizierten Formen des Lernens - explizites Lernen, implizit-formatives Lernen, transformatives Lernen - können tatsächlich ein Gerüst bilden, um eine Theorie des relationalen Lernens zu konstituieren. Es sind drei Kategorien, die ein pädagogisches Verständnis vom Lernen anbieten: „Die Betonung und systematische Einbeziehung der inhaltlich-sachlichen Dimension des Lernens, die Thematisierung des menschlichen Lernens in seiner Besonderheit sowie die Gebundenheit des menschlichen Lernens an die Praktiken pädagogischer Bezugnahmen wie Erziehen und Lehren“.
Erstaunlicherweise wird zwar in der bildungs- und erziehungswissenschaftlichen Forschung viel über Lerntheorien und -konzeptionen verhandelt; doch den je spezifischen Subjektbeziehungen wird dabei wenig Beachtung gewidmet. Die behavioristischen, kognitivistischen, konstruktivistischen und neurowissenschaftlichen Theorien verweisen in ihren je spezifischen Annahmen und theoretischen wie praktischen Zugangsformen auf den Zusammenhang von Dualismus und Subjekt und konstituieren damit eine „falsche Oppositionalität von Anlage und Umwelt“. Denn „Entwicklung ist … ein Ineinander von Umwelterfahrungen und Dispositionen, das auch lerntheoretisch als Vorgang des Sich-Erlernens gedeutet werden kann“. Weil Lernen immer auch ein subjektbezogenes Lernen von Etwas ist, muss besonders auf die Unterscheidung von „Wissen-wie“ und einem „Wissen-was“ wichtig.
Aus der Betrachtung der sich bei den Lernparadigmen ergebenden Auffälligkeiten, Konstitutionen und Defiziten, die das Subjektverständnis von Lerntheorien verdeutlichen, entwickelt Tobias Künkler im zweiten Kapitel Ansätze einer relationalen Theorie des Lernens. Es geht um die „Verwindung (nicht der Überwindung, wie der Autor mit Bezug auf die Metapher vom „Tod des klassischen Subjekts“ rekurriert, JoS) der dualistischen und individual-theoretischen Bahnung des Lernens sowie zur Gewinnung eines relationalen Verständnis(ses) des Lernens“. Diese „Verschiebungen“ leitet er mit den theoretischen und philosophischen Überlegungen her, wie sie im Diskurs um das moderne Subjekt verhandelt werden, etwa in Nietzsches, Freuds und Heideggers Subjektkritiken, in der poststrukturalistischen Subjektkritik Foucaults und postkolonialen und poststrukturalistischen Gegenkonzepten zum westlichen, essentialistischen Subjektverständnis ( vgl. dazu u. a. auch den aktuellen Diskurs, wie er sich in diesem Zusammenhang aus den gesellschaftlichen und politischen Veränderungen zum „arabischen Frühling“ ergeben: Shadia Husseini de Araújo, Jenseits vom ‚Kampf der Kulturen‘. Imaginative Geographien des Eigenen und des Anderen in arabischen Printmedien, Bielefeld 2011, in: www.socialnet.de/rezensionen/12016.php).
Es sind die lebensweltlichen Erfahrungen des impliziten Wissens - dass wir, nach Polanyi, „mehr wissen als wir zu sagen wissen“ - die die körperliche und verkörperlichte Dimension des Lernens in den Blick bringt und eine Auseinandersetzung mit Lerntheorien lohnend machen und Perspektiven für den angestrebten Paradigmenwechsel aufzeigen. Denn neben den der Betrachtung der dualistischen Bezüge des Lernens bedarf es auch Nahschau, wie individualtheoretische Phänomene wirksam werden, etwa in der relationalen Soziologie Norbert Elias?, der intersubjektiven Genese des Selbst von George Herbert Mead und Lew S. Wygotzkis, in den Bildungstheorien, den Entwicklungs- und Kognitionspsychologien, in der Zweite-Person-Perspektive, wie sie von Martin Buber entwickelt wurde, aber auch in den zwischenmenschlichen Paradigmen, wie sie durch die relationale Wende in der Psychoanalyse vollzogen wurden und in den philosophischen und anthropologischen Konzepten für positive Selbstverhältnisse und anerkennungstheoretische Perspektiven deutlich werden: „Das Begehren nach Anerkennung ist nicht ein Bedürfnis nach Etwas, sondern nach einem Jemand“.
Die aus den Reflexionen, Analysen und Studien gewonnenen Zu- und Widersprüche gilt es nun, in einer „heuristischen Skizze einer relationalen Theorie des Lernens“ zu systematisieren und zu präzisieren. Dazu verweist der Autor erneut auf die Bedeutung von Relationalität und relationaler Subjektivität und zeigt die Bedeutung des „Denkens in Relationen“ auf. Diese prozesshafte, relationale Denkweise führt zu der aufregenden, durch Norbert Elias beeinflussten Erkenntnis: Durch diese Sicht von der radikalen Wandelbarkeit, durchläuft der Mensch nicht nur einen Wandlungsprozess, sondern ist Veränderung. Die Auswirkungen dieses Prozessbewusstseins auf das Denken vom Lernen ergeben sich nun dadurch, dass „die formierenden Momente des Lernens“ einer differenzierten Betrachtung bedürfen: „Ob und vor allem was gelernt wird, hängt entscheidend davon ab, was für bedeutsame Andere bedeutsam ist“. In einem relationalen Lernkonzept ist es somit erforderlich, eine Unterscheidung zwischen explizitem und implizitem Lernen einerseits und formativem und transformativem Lernverständnis vorzunehmen, was bedeutet, dass wir es beim relationalen Lernen mit drei unterschiedlichen Lernformen zu tun haben: dem explizitem Lernen, das formativ oder transformativ vom implizitem Lernen begleitet werden kann, dem implizit-formativem Lernen und dem transformativem Lernen.
Fazit
Der Hau-Ruck, der darin besteht, die in der bisherigen erziehungswissenschaftlichen, theoretischen Diskussion vorherrschende „dichotome Sichtweise von Individualem und Sozialem“ einer Revision zu unterziehen, stellt ohne Zweifel ein innovatives Vorhaben in der Theoriediskussion zum Lernen dar. Die in breit angelegten Analysen der wichtigsten, vorherrschenden Lerntheorien und -konzepten entwickelte heuristische Skizze einer relationalen Theorie des Lernens. Das Bon-mot - „Wir sind durch Andere, anderes und uns selbst bedingt, können und müssen uns zu Anderen, anderem und uns selbst … stets noch einmal bzw. immer wieder verhalten“ - macht eindeutig deutlich, dass ein Überdenkens des individualtheoretischen und dualistischen Verständnisses, das den traditionellen Lerntheorien zugrunde liegt, notwendig ist. Mit dem von Tobias Künkler herausgearbeitetem Vokabular, den Thesen und Fingerzeigen wird sich die Erziehungswissenschaft dezidiert auseinander setzen müssen, wie auch mit den Anforderungen für die weitere, erziehungswissenschaftliche Forschung!
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 29.09.2011 zu:
Tobias Künkler: Lernen in Beziehung. Zum Verhältnis von Subjektivität und Relationalität in Lernprozessen. transcript
(Bielefeld) 2011.
ISBN 978-3-8376-1807-5.
Reihe: Pädagogik.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/12017.php, Datum des Zugriffs 03.11.2024.
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