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Harry Bergeest, Jens Boenisch et al.: Körperbehindertenpädagogik

Rezensiert von Prof. Dr. Carsten Rensinghoff, 07.10.2011

Cover Harry Bergeest, Jens Boenisch et al.: Körperbehindertenpädagogik ISBN 978-3-8252-3478-2

Harry Bergeest, Jens Boenisch, Volker Daut: Körperbehindertenpädagogik. Studium und Praxis im Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung. Julius Klinkhardt Verlagsbuchhandlung (Bad Heilbrunn) 2011. 4., vollst. überarbeitete und ergänzte Auflage. 368 Seiten. ISBN 978-3-8252-3478-2. D: 21,90 EUR, A: 22,60 EUR, CH: 33,90 sFr.
Reihe: UTB - 3478.

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Autoren

Harry Bergeest (Jg. 1944) ist Professor für Körperbehindertenpädagogik (a.D.) am Institut für Rehabilitationspädagogik der Universität Halle-Wittenberg. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in der Sensorischen Integration und motorischen Behinderung, der pädagogische Förderung bei Spina Bifida und Epilepsie, dem Krankenhausunterricht und in der konstruktivistisch fundierten Erziehung von Kindern mit Körperbehinderung.

Jens Boenisch (Jg. 1964) ist Professor für Menschen mit Beeinträchtigungen der körperlichen und motorischen Entwicklung. Er ist Leiter des Forschungs- und Beratungszentrums für Unterstützte Kommunikation an der Universität zu Köln. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in der Sprachentwicklung unterstützt kommunizierender Kinder, den elektronischen Kommunikationshilfen, der Inklusion und dem Lernverhalten von Kindern mit Körperbehinderung.

Volker Daut (Jg. 1954) ist Akademischer Direktor in der Fachrichtung Körperbehindertenpädagogik am Institut für Sonderpädagogik der Julius-Maximilians-Universität Würzburg. Schwerpunktmäßig widmet er sich der Lebenssituation von Kindern mit neuromuskulären und progredienten Erkrankungen und der Didaktik im Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung.

Entstehungshintergrund

Aufgrund der rasanten Weiterentwicklung des Faches wurde diese Publikation notwendig. „Zudem werden neue didaktische Konzepte entwickelt (und – CR) […] didaktische[…] Konsequenzen der Inklusionsbewegung (erarbeitet, eine – CR) Sexualpädagogik für Menschen mit körperlicher Behinderung vor(gelegt und – CR) eine Überarbeitung der sprachlichen Gestaltung“ (S. 8) durchgeführt.

Aufbau

Das Buch ist nach einem Vorwort zur 4. Auflage in 6 Kapitel aufgeteilt:

  1. Kulturauftrag Körperbehindertenpädagogik
  2. Personengruppen und Förderbedürfnisse
  3. Entwicklungsbedingungen
  4. Pädagogische Förderung
  5. Zusammenarbeit mit den Eltern
  6. Professionalisierung und Selbstreflexion von Körperbehindertenpädagogen

Abgeschlossen wird die Publikation von einem umfangreichen Literaturverzeichnis.

Inhalte

Da Körperbehinderungen und chronische Krankheiten Dispositionen menschlicher Variabilität sind, scheint es sich bei der Körperbehindertenpädagogik um eine spezielle Kultur zu handeln, die dann einen eigenen Kulturauftrag hat. Nun gut: Diese besondere Pädagogik „setzt sich mit den gleichen Phänomenen auseinander wie die Allgemeine Pädagogik, muss sich jedoch in größerer Differenzierung der Lebens- und Lernproblematik der Kinder und deren sozialem Umfeld widmen, ganzheitliche Entwicklungsprozesse einbeziehen, entsprechende Interventionsmethoden bereitstellen und sich auf eine Kultur hilfreicher Beziehungsgestaltung besinnen“ (S. 12).

In diesem Kulturkapitel werden theoretische Grundpositionen diskutiert zu:

  • Körperbehinderung;
  • Körperbehindertenpädagogik;
  • Rehabilitation;
  • Menschenbild;
  • Sinnfragen.

In der Folge widmet sich das Kapitel der Körperbehindertenpädagogik als Wissenschaft, die über vier Ebenen der Theoriebildung verfügt, als da wären:

  1. die Ebene der situationsunmittelbaren Theorie;
  2. die Ebene der Alltagstheorie;
  3. die Ebene der wissenschaftlichen Theorie
  4. die Ebene der Metatheorie

Hierauf folgend werden die traditionellen wissenschaftstheoretischen Positionen besprochen, wie die geisteswissenschaftlichen Theorien, der Empirismus und kritische Rationalismus und die kritische Theorie. Bevor sich die Autoren den historischen Determinanten widmen, werden die ökologisch-systemische und die konstruktivistischen Theoriebildungen dargestellt.

Die nun folgenden historischen Determinanten betrachten die anthropologischen Leitlinien und eine historische Rekonstruktion, beginnend mit der Frühgeschichte bis zum Ende des 20. Jahrhunderts.

„Körperbehinderung ist ein Sammelbegriff „für die vielfältigen Erscheinungsformen und Schweregrade von Beeinträchtigungen, die sich aus Schädigungen des Stütz- und Bewegungsdapparates und aus anderen inneren und äußeren Schädigungen des Körpers und seiner Organe ergeben„“ (S. 51). Dies ist ein Hinweis darauf, dass im Folgenden die Personengruppe und deren Förderbedürfnisse in den Fokus geraten. Es ist die Personengruppe, die aus der Perspektive Körperfunktion, Aktivität und Partizipation betrachtet wird. Zu dieser Personengruppe zählen:

  1. Kinder mit cerebralen Bewegungsstörungen;
  2. Körperbehinderte Kinder mit komplexen Kommunikationsstörungen (Dysarthrie – Kinder ohne Lautsprache);
  3. Kinder mit Spina Bifida;
  4. Kinder mit Hydrocephalus;
  5. Kinder mit komplexen Behinderungen (Schwerstbehinderung);
  6. Epilepsiekranke Kinder;
  7. Chronisch kranke Kinder (Asthma, Neurodermitis, Rheuma, Diabetes, Niereninsuffizienz, Hämophilie, Zöliakie, Herzfehler);
  8. Progredient erkrankte Kinder (neuromuskuläre Erkrankungen, Mukoviszidose, Krebserkrankungen, HIV-Infektion, Multiple Sklerose);
  9. Kinder mit körperlichen Fehlbildungen (Kleinwuchs, Gliedmaßénfehlbildungen, Fehlbildung des Gesichts, Glasknochenkrankheit);
  10. Traumatisierte Kinder (Unfallfolgen, Schädel-Hirntrauma, Querschnittlähmung, Verbrennungen, Misshandlung/Missbrauch);
  11. Kinder im Autismus-Spektrum;
  12. Kinder mit Entwicklungsstörungen und AD(H)s.

Diese dermaßen behinderten Menschen finden spezielle Entwicklungsbedingungen vor und „Entwicklungsförderung ist das Leitkonzept sonderpädagogischer Praxis“ (S. 147). Dafür ist die Kenntnis der Entwicklungsbedingungen unersetzlich. Letztgenannte werden besprochen im Rahmen:

  1. der Bedingungen der kognitiven Entwicklung;
  2. der Bedingungen der Sozialisation und Identitätsfindung;
  3. der Bedingungen der psychosexuellen Entwicklung.

Bei Kenntnis der Behinderung und der daraus resultierenden Entwicklungsbedingung kann die pädagogische Förderung eingeleitet und durchgeführt werden. Die pädagogische Förderung geschieht als sonderpädagogische Förderung und Inklusion. „Die Integrations- und Inklusionsdiskussionen wurden und werden bis heute z.T. sehr konträr und dogmatisch geführt […]. Selbst die Heranziehung ökonomischer Argumente […], aber auch empirische Belege zu Erfolg oder fehlender Effektivität gemeinsamer Beschulung […] überlagern immer wieder die landespolitische Grundsatzentscheidung für oder gegen mehr Integrationsschulen, die letztlich ein normatives Legitimationsproblem darstellt und keine empirisch oder ökonomisch begründbare Entscheidung ist“ (S. 185 f.).

So folgt der Förderdiagnostik eine vorschulische Förderung und eine schulische Förderung. Da sich die Förderung von Kindern mit Körperbehinderung an wissenschaftlich begründeten Theorien der pädagogischen Praxis orientieren muss, wird sich dieser nun angenommen. Sie „speisen sich zurzeit aus historisch gewachsenen Erkenntnissen von Ebenen der Didaktik, neuen Entwicklungen seit 2006, des neuen Entwurfs einer unterstützten Didaktik und didaktischen Konsequenzen für den Unterricht insbesondere im Rahmen der Inklusion“ (S. 237).

Eine Didaktik der Lernbereiche ist eine Didaktik , die sich in der Körperbehindertenschule am einzelnen Kind orientiert. Hiernach werden innerhalb dieser Lernbereiche spezifische Förderdimensionen wirksam, welche der Bewältigung ihrer Lebenssituation und spezifischen Lebensgestaltung dienlich sind.

Schließlich erhält auch die nachschulische/außerschulische Förderung ihren Abschnitt, der sich mit den Themen:

  1. Ausbildung und Beruf;
  2. Wohnen;
  3. Mobilität;
  4. Freizeit;
  5. Pflege;
  6. Selbsthilfe;
  7. Recht;
  8. Durchsetzung/Selbstbehauptung

befasst.

Die Zusammenarbeit mit den Eltern wird aus dem Blickwinkel Behinderungsverarbeitung und Elternberatung betrachtet.

Die Besprechung der Professionalisierung und Selbstreflexion von Körperbehindertenpädagogen geschieht über das Betrachten der Professionalisierung zwischen Notwendigkeit und Paradoxie – u. a. „die Heterogenität der Personengruppe körperbehinderter und chronisch kranker Kinder und die individuellen Entwicklungserschwernisse der Kinder entziehen sich jeder schematischen Intervention. […] Die […] Unschärfe bzgl. Personenkreis und Aufgabenspektrum im Berufsfeld des Körperbehindertenpädagogen erschwert den Prozess der Professionalisierung als (sonder-)pädagogische Disziplin“ (S. 326 f.) –, der Kennzeichen körperbehindertenspezifischer Professionalität, der Selbstreflexion, der sozialen Integration und der körperlichen Integration.

Diskussion

Interessanter- und lobenswerterweise widmen sich die Autoren im dritten Kapitel der Sexualität körperbehinderter Menschen. Üblicherweise wird dieses Thema, gerade bei Behinderten, verschwiegen und ist mit Ekel behaftet. Man spricht nicht darüber, will keine falschen Hoffnungen beim Behinderten aufkommen lassen und verschwendet für dieses Thema keine Gedanken. Ein Grund für die Befassung mit dieser Thematik könnte bei den Autoren selbst liegen. Wenn man sich nämlich die Geburtsjahrgänge der Autoren ansieht, so dürfte Sexualität in deren Leben auch noch eine große Rolle spielen. Und dann ist der Transfer zu körperbehinderten Menschen nur gerechtfertigt und klug.

Kritisch ist, dass sich das Buch dann doch mehr mit den kindlichen Aspekten befasst. So richtig überzeugen kann mich der Abschnitt zur nachschulischen Förderung dann auch nicht, weil die Hinführung dorthin aus der sonderschulischen Perspektive gelegt wird. So erfolgt die Vorbereitung auf die Arbeitswelt in der Arbeitslehre an den Schulen. Positiv ist aber auch hier, dass die Autoren nun auch körperbehinderte Abiturienten erkennen. Für diese halten sie dann auch Informationen bereit.

Das Thema Peer Support/Counselling fehlt ganz und kann mit dem Absatz zu Durchsetzung/Selbstbehauptung nicht als bearbeitet gelten!

Fazit

Insgesamt ist die Publikation für eine kritische Diskussion ein gelungenes Werk, welches sich für eine Einführung in die Sonderdisziplin Körperbehindertenpädagogik, so sie in Zeiten einer inklusiven Pädagogik bestehen bleibt, gut eignet.

Rezension von
Prof. Dr. Carsten Rensinghoff
Hochschullehrer für Heilpädagogik und Inklusive Pädagogik an der DIPLOMA Hochschule
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Es gibt 181 Rezensionen von Carsten Rensinghoff.

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Zitiervorschlag
Carsten Rensinghoff. Rezension vom 07.10.2011 zu: Harry Bergeest, Jens Boenisch, Volker Daut: Körperbehindertenpädagogik. Studium und Praxis im Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung. Julius Klinkhardt Verlagsbuchhandlung (Bad Heilbrunn) 2011. 4., vollst. überarbeitete und ergänzte Auflage. ISBN 978-3-8252-3478-2. Reihe: UTB - 3478. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/12018.php, Datum des Zugriffs 03.10.2024.


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