Nora Nebel: Ideen von der Zeit
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 20.10.2011
Nora Nebel: Ideen von der Zeit. Zeitvorstellungen aus kulturphilosophischer Perspektive. Tectum-Verlag (Marburg) 2011. 287 Seiten. ISBN 978-3-8288-2502-4. D: 29,90 EUR, A: 29,90 EUR, CH: 38,80 sFr.
Das janusköpfige Faszinosum Zeit
„Zeit ist Vergangenheit und Zukunft im Jetzt“, so definiert der griechische Philosoph Aristoteles das Phänomen Zeit. Er erwähnt dabei aber auch, dass „chronos“ mehr ist als das Maß der Bewegung: „Wenn die Seele nicht misst, geht die Zeitordnung der Tage, Monate, Jahre im indifferenten Fluss der Bewegung verloren“ (A. F. Koch, in: Otfried Höffe, Aristoteles-Lexikon, Stuttgart 2005, S. 110). Die Frage, was Zeit für das Leben der Menschen bedeutet, ergründen Philosophen, Schriftsteller und Wissenschaftler seit Jahrtausenden, malen und modellieren Künstler in ihren Werken, intonieren Musiker, drücken Menschen in ihren Daseinserfahrungen aus und gießen es in Sprichwörter. Das Sprichwort „Die Zeit steht still“ ist ein Anachronismus; und „Zeit ist Geld“ eine Verirrung. „Zeit haben“, wie auch „keine Zeit haben“ sind Kennzeichnungen von Lange-Weile und Stress und markieren eher menschliche Zulänglichkeiten und Unzulänglichkeiten, als eine mentale Auseinandersetzung über das Menschsein. Zeitvielfalt und Zeitdiktat sind Schlagwörter, hinter denen Zufriedenheit wie Unzufriedenheit mit dem individuellen und gesellschaftlichen, menschlichen Leben stecken. Zeit ist Menschlichkeit und Unmenschlichkeit, je nachdem der Zeiger ausschlägt. Wer das Zeitliche im Menschsein vergisst, lebt nicht mehr!
Autorin
Die an der Würzburger Julius-Maximilians-Universität im Institut für Philosophie - Franz-Brentono-Forschungsstelle - tätige Nora Nebel legt mit dem Buch „Ideen von der Zeit“ ihre kulturphilosophische Dissertationsschrift vor. Mit ihrer doxographischen, materialordnenden Fragestellung greift sie die ihrer Meinung nach im wissenschaftlichen Diskurs vernachlässigte Auseinandersetzung mit der „Chronodiversität“ (Karlheinz A. Geißler) auf. Sie analysiert und diskutiert dabei überwiegend klassische philosophische Texte, die sich mit dem Phänomen ZEIT auseinandersetzen.
Aufbau und Inhalt
Die Autorin gliedert ihre Arbeit in sechs Kapitel.
Im ersten Teil setzt sie sich mit „Zyklischen Zeitvorstellungen“ auseinander, indem sie mythische (ägyptische, mesopotamische, mesoamerikanische und archaische) Quellen diskutiert und den Zusammenhang von Mythos, Erleben und Natur im Zeitbewusstsein der Menschen herausarbeitet, mit Platons Zeitdialog Timaios, Aristoteles? Zeitaporien, den mittelalterlichen Vorstellungen vom Lebensrad, Nietzsches Gedanken von der ewigen Wiederkehr des Gleichen und den chronobiologischen Zeitrhythmen, darauf verweist, dass der Natur bei den zyklischen Zeitauffassungen eine besondere Bedeutung zukommt.
Im zweiten Kapitel sind es die linearen Zeitvorstellungen, die die Autorin reflektiert; etwa mit der Kontroverse: „Heilige Zeit versus profane Zeit“ in Augustinus? Confessiones, John Lockes Rückbezug auf die antiken Vorstellungen eines Zusammenhangs von „Existenz-Bewusstsein im Sinne von Fortbestehen und dem Registrieren permanenter Veränderung“ (wie dies in Heraklits Flussmetapher zum Ausdruck kommt: „Du kannst nicht zweimal in denselben Fluss steigen“) und dem Diskurs der Zeitspannen zwischen Geburt und Tod und der Erkenntnis des Unausweichlichen.
Das dritte Kapitel thematisiert Aspekte der „absoluten Zeit“ mit Newtons Principia Mathematica, in der er mit seinen Bewegungsgleichungen den Beweis antritt, dass „Vergangenheit und Zukunft in der Gegenwart enthalten sind“, und wird ergänzt und parallelgeführt durch die Kontroverse zwischen dem Systemphilosophen Leibnitz und dem anglikanischen Theologen, Philosophen und Hofprediger Samuel Clarke über die unerhörte Frage, ob der Raum (und damit auch die Zeit) eine absolute Wesenheit darstellt.
Im vierten Kapitel wird die „relative Zeit“ verhandelt, wie sie sich in Einsteins Relativitätstheorie darstellt. Die Entdeckung der Raum-Zeit hat nicht nur das Newtonsche Weltbild auf den Kopf stellt, sondern das Wissenschaftsverständnis weltweit verändert.
Die „Zeitvorstellungen um 1900“, wie sie im fünften Kapitel diskutiert werden, sind geprägt von den Verunsicherungen, die durch die naturwissenschaftliche Übermacht auf die Philosophie einstürmt und die Disziplin in eine tiefe Sinnkrise bringt. Es ist jedoch der Neukantianismus, der mit den Philosophen Hermann Cohen, Paul Natorp, Ernst Cassirer, Friedrich Adolf Trendelenburg, Rudolf Hermann Lotze und den „österreichischen“ Philosophen Bernhard Bolzano, u.a., der Philosophie und Weltbetrachtung wieder Geltung verschafft.
Im sechsten Kapitel formuliert die Autor die wagemutige These, dass das Österreich-Ungarische Kaiserreich mit ihrem Machtzentrum Wien zwischen 1873 und 1918 ein Chronotop, ein Ort eigener Zeitlichkeit gewesen sei. Die Vormachtstellung der katholischen Kirche im Staat, die mentalitätsbestimmten Unsicherheiten, wie sie sich um die Jahrhundertwende darstellten, die künstlerischen Aufbruchstimmungen, die technischen Entwicklungen, das nach außen gewölbte architektonische Prunk, die Kaffeehaus- und Salonkultur der Bevorzugten, und nicht zuletzt die Infragestellungen der bisherigen Bewusstseinsgewissheiten der Wiener Psychologen, allen voran Sigmund Freud, dass das Ich nicht mehr Herr im eigenen Haus sei, machen den Chronotop Wien sicherlich zu einem bemerkenswerten Zeit-Ort. Es ist das Verdienst der Autorin, auf die im philosophischen, psychologischen und psychoanalytischen, wissenschaftlichen Diskurs zu wenig beachteten Arbeiten des Begründers der österreichischen Psychologie, Franz Brentano und seiner Schüler aufmerksam zu machen.
Fazit
Die Auseinandersetzung den philosophischen Fragen nach der Bedeutung des Phänomens, das da und doch nicht greifbar ist, das sich als erlebbar und doch nicht feststellbar darstellt, ist ohne Zweifel eine Herausforderung an den menschlichen Geist. Die Philosophie als „Lebenswissenschaft“ kann dazu wichtige Orientierungsmuster liefern. Nora Nebel unternimmt mit ihrer komplexitätsreduzierenden, materialordnenden, kulturphilosophischen Analyse den Versuch, vier zeittheoretische Kategorien aus der Fülle der wissenschaftsorientierten Reflexionen zu filtern. Es sei ihr gelungen, so formuliert sie in ihrer Schlussbetrachtung, „den roten Faden im Dickicht des zeitphilosophischen Labyrinthes zu finden“, jedoch nicht das Wesen der Zeit zu ergründen. Bien sûr non, denn das würde bedeuten, dass die Zeit still steht!
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 20.10.2011 zu:
Nora Nebel: Ideen von der Zeit. Zeitvorstellungen aus kulturphilosophischer Perspektive. Tectum-Verlag
(Marburg) 2011.
ISBN 978-3-8288-2502-4.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/12020.php, Datum des Zugriffs 19.01.2025.
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