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Max Matter, Anna Caroline Cöster (Hrsg.): Fremdheit und Migration

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 24.10.2011

Cover Max Matter, Anna Caroline  Cöster (Hrsg.): Fremdheit und Migration ISBN 978-3-8288-2585-7

Max Matter, Anna Caroline Cöster (Hrsg.): Fremdheit und Migration. Kulturwissenschaftliche Perspektiven für Europa. Tectum-Verlag (Marburg) 2011. 199 Seiten. ISBN 978-3-8288-2585-7. D: 24,90 EUR, A: 24,90 EUR, CH: 32,20 sFr.

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„Fremd ist nicht einfach nur das Andere, …

… sondern das Andere, das als störend empfunden wird„; diese eher tautologisch anmutende Aussage bestimmt die Auseinandersetzung um Konflikt und Begegnung von Menschen, um Ablehnung und Zustimmung, wenn Menschen aufeinander treffen, die sich fremd sind in Aussehen, Auffassung und Herkunft. Die Frage nach Zusammen- oder Auseinanderleben, nach Freundschaft oder Feindschaft bestimmen seit jeher den Diskurs, wie Menschen in Gemeinschaften zusammen leben: Homogen oder heterogen; wobei die Unterscheidung eigentlich ebenfalls eine Tautologie ist darstellt, weil Menschen immer vielfältige Lebewesen sind in ihrer Einheit der Menschlichkeit.

Entstehungshintergrund und Herausgeberteam

Migration, sowohl als historische Wanderungsbewegungen, wie vor allem als aktuelle Erscheinungen in der sich immer interdependenter und entgrenzender entwickelnden (Einen?) Welt, trägt dazu bei, dass ethnozentriertes Denken und Handeln der Menschen abgelöst wird durch ein inter- und transkulturelles Bewusstsein. Das entsteht freilich nicht automatisch oder ist von vorn herein vorhanden, sondern muss sich individuell und lokal- und globalgesellschaftlich entwickeln. Die Bereitschaft zur Integration, als gegenseitiger Prozess, muss gelernt und durch Aufklärung und Information vermittelt werden, auf allen Bildungsebenen!

Im europäischen Kontext stellt der Erwerb einer europäischen Identität eine der größten Herausforderungen dar. Im wissenschaftlichen Bereich kommt der Migrations- und Integrationsforschung eine besondere Bedeutung zu. Deshalb hat das Institut für Volkskunde der Freiburger Albert-Ludwigs-Universität im Studiengang „Europäische Ethnologie“ vier Studientagungen durchgeführt, um den Themenkomplex „Fremdheit und Migration“ zu reflektieren. Die Ergebnisse der Tagungen werden im Sammelband vorgelegt, der von Max Matter (em.), ehemaliger Geschäftsführender Direktor des Instituts und Anna Caroline Cöster, wissenschaftliche Mitarbeiterin, herausgegeben wird. Die dokumentierten Veranstaltungen bestechen dadurch, dass Freiburger Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler und Gastreferentinnen und -referenten aus dem Ausland den Bogen spannen, der die Thematik kennzeichnet. Es ist bedauerlich, dass die Herausgeber keine Vitae-Informationen zu den einzelnen Autoren liefern; für wissenschaftliche Arbeiten wäre dies sicherlich notwendig. Auch eine Systematisierung der unterschiedlichen Zugangsformen zur Thematik wäre wünschenswert.

Aufbau und Inhalt

Max Matter gibt in seinem Beitrag „Einblicke in eine Xenologie“, indem er den wissenschaftlichen Entstehungsprozess von Fremdheitserfahrungen und die relationale Begriffsbedeutung verweist, auf die Verstehens- und Übersetzungsproblematik eingeht und damit den Rahmen absteckt, der sich aus den Einzelbeiträgen ergibt.

Mit der Frage „Was heißt hier fremd?“ thematisiert Konrad Köstlin die Bedeutung des Fremdheitsdiskurses als Inszenierungen des Eigenen. Dabei nimmt er die vielfältigen, real vorfindbaren und wirkenden kulturellen Relativismen aufs Korn und postuliert: „Es ist das Andere, nicht das Fremde, das zu respektieren ist“.

Nadine Bartels fragt mit ihrem provokativen Titel „Klein-Kasachstan im Ländle?“ nach „Parallelgesellschaften“ und zeigt Formen von wohnräumlicher und ethnischer Segregation an Fallbeispielen auf. In den unterschiedlichen Bewertungen, ob „ethnische Kolonien“ ge- oder misslingende Merkmale von Integration sind, wird gleichzeitig das Problem verdeutlicht.

Anna Caroline Cöster setzt sich in ihrem Beitrag „Gefährlich fremd?“ mit den vorfindbaren Wahrnehmungen der muslimischen Minderheit in der deutschen Mehrheitsgesellschaft auseinander. An den Beispielen des Kopftuchtragens und von Ehrenmorden werden die fatalen und undifferenzierten Schwarz-Weiß-Zuschreibungen problematisiert.

Johannes Ries zeigt in seinem Beitrag „Ver-Fremdungen der Roma/Zigeuner“ die Dynamik von Stereotypenbildungen am Beispiel eines siebenbürgischen Dorfes auf. Die in seinem Forschungsvorhaben aufgefundenen, unterschiedlichen Identitäts- und Anpassungsformen von zwei Roma-Gruppen, den (wohlhabenden) Corturari und den (verarmten) Tigani, verdeutlichen interessante und bemerkenswerte, individuelle und gruppenethnische Formen des Gelingens und Scheiterns der Lebensbewältigung.

Natascha Hofmann fragt „Fremde in der Fremde?“, indem sie sich mit gesellschaftlichen Integrationsprozessen junger Roma beschäftigt. In ihrem Forschungsprojekt fragt sie nach den Bedingungen, Möglichkeiten und Auswirkungen, die durch die Unterzeichnung des kosovarisch-deutschen Rückübernahmeabkommens vom 14. 4. 2010 entstehen und Flüchtlinge betreffen, die in den 1990er Jahren nach Deutschland gekommen oder hier geboren sind. Ihr Appell, eine Bleiberechtregelung zu schaffen, die individuelle Integrationsprozesse berücksichtigt, ist unüberhörbar.

Sabine Zinn-Thomas schildert am Beispiel von zwei Hunsrück-Gemeinden die Entwicklungen, Irritationen und Reaktionen der Einheimischen, „Fremde vor Ort“ aufzunehmen; und zwar in zwei unterschiedlichen Zeitspannen und aus verschiedenen Kulturräumen: US-amerikanische Soldaten und ihren Familien und Russlanddeutsche. Es sind die unterschiedlichen Erinnerungsräume, die von den Einheimischen und den (neuen) Zuzüglern wahrgenommen werden - Flughafen (Hahn) und ehemalige Heimat Russland.

Max Matter reflektiert in einem weiteren Beitrag über „Mär von der gescheiterten Integration“, indem er die unterschiedlichen Entwicklungen Revue passieren lässt, die den Einwanderungs- und Integrationssdiskurs bestimmen: Akkulturation, Integration-Soft, Integration-Hard… Er fordert eine „nachholende Integrationspolitik“, in der einerseits Antidiskriminierung und andererseits Förderung auf der Agenda steht.

Tobias Mohr nimmt sich in seinem Beitrag „Zwischen Kriminalisierung und Humanisierung“ den zwiespältigen und ungeklärten Umgang mit aufenthaltsrechtlicher Illegalität in der Bundesrepublik vor. Unter Berücksichtigung des Rechts eines Staates, einen illegalen Aufenthalt im Territorium nicht zu dulden, bedarf es einer Veränderung der aktuellen Praxis dahingehend, den Betroffenen grundlegende (Menschen-)Rechte zuzugestehen.

Florian von Dobeneck beschließt den Tagungsband mit seinem Bericht über „privilegierte deutsche Migranten in Sâo Paulo?. Er ermöglicht einen Blickwechsel, indem er von den (deutschen) Expatriates („Expats“) erzählt. Seine Forschungsergebnisse geben interessanterweise bekannte Strukturierungen und Entwicklungen wieder, wie sie in deutschen Migrationsdebatten auftreten: Hybrides Leben, jedoch mit dem Komfort, den kulturellen und existentiellen Bezugspunkt „Heimat“ nicht aufgeben zu müssen. Somit taugt das Exempel eher nicht als Alternative zum deutschen und europäischen Migrationssdiskurs.

Fazit

Der Untertitel „Kulturwissenschaftliche Perspektiven für Europa“ verspricht eine Auseinandersetzung mit Migrationspolitiken und -erfahrungen im zusammen wachsenden Kontinent Europa. Dies leisten nur einige Beiträge. Es bedarf vielfältigerer Reflexionen, den Anderen und den Fremden nicht als Bedrohung, sondern als Bereicherung der eigenen Identität wahr zu nehmen - und Integration als konstitutives Element einer europäischen Identität zu verstehen. Es wäre wichtig, „Menschen mit Migrationshintergrund“ in den Diskurs einzubeziehen, damit nicht nur über Integration, sondern mit Migrantinnen und Migranten gesprochen wird ( vgl. z. B.: Zafer Senocak, Deutschsein. Eine Aufklärungsschrift, Hamburg 2011, in: socialnet Rezensionen, www.socialnet.de/rezensionen/10870.php).

Trotzdem: Die Beiträge aus den Symposien des Freiburger Instituts für Volkskunde können Bausteine sein für den Bau eines humanen, gerechten und friedlichen europäischen Hauses.

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Es gibt 1706 Rezensionen von Jos Schnurer.

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ISSN 2190-9245