Alexandra Köbele: Ein Junge namens Sue
Rezensiert von Matthias Meitzler, 03.02.2012

Alexandra Köbele: Ein Junge namens Sue. Transsexuelle erfinden ihr Leben.
Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG
(Gießen) 2011.
300 Seiten.
ISBN 978-3-8379-2125-0.
D: 29,90 EUR,
A: 30,80 EUR,
CH: 43,90 sFr.
Reihe: Sachbuch Psychosozial.
Thema
Seine eigene Geschlechtszugehörigkeit dürfte wohl eine jener Lebenstatsachen sein, die vom Alltagsmenschen am wenigsten bewusst hinterfragt werden. Trotz dieser vermeintlichen Selbstverständlichkeit ist das Geschlecht im sozialen Alltag von zentraler Bedeutung, wenn es beispielsweise um Rollenerwartungen, Zuschreibungen, Bewertungen, Einschätzungen, Zuordnungen etc. geht. Virulent werden Fragen rund um die eigene biologische sowie „ansozialisierte“ Geschlechtlichkeit dann, wenn eine Diskrepanz zur tatsächlich empfundenen Geschlechtsidentität auftritt. Derartige Identitätskonflikte können unterschiedlich stark ausgeprägt sein und ihren Höhepunkt im Bestreben finden, sein Geschlecht und die damit verbundenen sozialen Rollen zu wechseln. Ein solches „Transgenderverhalten“ ist kein Signum der modernen individualisierten Gesellschaft, die ohnehin ein hohes Maß an Lebensstildiversifikationen zulässt, sondern bereits seit Jahrtausenden belegt. Doch erst seit einigen Jahrzehnten sind dank verbesserter medizinischer Interventionsoptionen hormonelle sowie operative Maßnahmen zur Geschlechtsumwandlung (oder sollte man besser sagen: Geschlechtsangleichung?) möglich.
Transsexualität gilt als ein pathologisiertes Phänomen. Psychologische Gutachten, die eine Geschlechtsidentitätsstörung nachweisen, sind nach deutschem Transsexuellengesetz sogar Voraussetzung dafür, dass die Kosten medizinischer Behandlungen von der Krankenkasse übernommen werden. Dem ungeachtet entspricht es auch der landläufigen, heteronormativ geprägten Meinung, dass Transsexualität auf alle Fälle etwas mit einer schweren Störung zu tun habe, die „geheilt“ werden müsse. Mit dieser Annahme setzt sich das vorliegende Buch kritisch auseinander, in dessen Fokus die Frage steht, wodurch sich Geschlechtlichkeit überhaupt konstituiert bzw. was Geschlecht tatsächlich ausmacht.
Autorin
Alexandra Köbele ist Psychologin, Familientherapeutin und Theaterpädagogin in München.
Entstehungshintergrund
Das Buch ist das Resultat einer mehrjährigen empirischen Forschungsarbeit. Im Wesentlichen stützt es sich auf die Transskripte biografisch narrativer Interviews, welche die Autorin in diesem Zeitraum mit Transsexuellen geführt hat.
Aufbau
Inklusive Anhang umfasst das Buch knapp 300 Seiten. Es ist in insgesamt sieben Kapitel gegliedert, die ihrerseits aus mehreren Unterkapiteln bestehen.
Inhalt
„Wenn es machbar wäre, wie im Märchen das Geschlecht ohne weiteren Aufwand zu wechseln, würden es nicht die meisten zumindest einmal ausprobieren wollen?“ (11), fragt die Autorin, die sich dem Thema aus gendertheoretischer Perspektive annimmt, provokativ. Dahinter könnte sich die Vermutung verbergen, dass zumindest die Neugier danach, wie es wohl wäre, aus seinem eigenen Geschlecht heraustreten zu können, nichts grundsätzlich „Unnormales“ ist. Der Untertitel des Buches („Transsexuelle erfinden ihr Leben“) verrät zugleich, um was es vordergründig gehen soll: Ein Geschlecht bzw. eine Identität „hat“ man nicht einfach; beide Kategorien sind „nicht gott- oder naturgegeben, sondern prozesshaft von Menschen konstruiert, um soziale Ordnung herzustellen und zu regulieren“ (13). Wie hängen Geschlecht und Identität also miteinander zusammen? Auf welche Art und Weise tragen Vorstellungen vom eigenen Geschlecht zur Konstruktion von Identität bei? Und kann man sich überhaupt selbst „denken“, ohne seine Geschlechtszugehörigkeit in diese Vorstellung mehr oder minder unbewusst mit einzubeziehen? Im Stile eines „Was wäre wenn?“ entwirft die Autorin Imaginationen einer fiktiven Gesellschaft, in der Geschlecht, Körper, Normativität, Individualität, Gesellschaft etc. eine andere Rolle spielen als bisher: „Wie wären wir, wenn wir in unserem Leben nicht nach diesen Vorgaben aufgezogen, nie für geschlechtsunangemessenes Verhalten bestraft worden wären […]? Wie wäre es, in einer Gesellschaft aufzuwachsen, in der Geschlechter als gleich angesehen würden?“ (11)
Es folgen umfassende Erläuterungen unterschiedlicher Begriffe und Konzepte – hierunter zählt auch die Unterscheidung zwischen sex und gender –, durch die der Leser weiter an die Thematik herangeführt wird. Was genau ist mit Begriffen wie transgender, transsexuell, intersexuell, queer, Transvestismus gemeint, welche Variationen fallen darunter und wie lassen sie sich diese „nicht konventionelle[n] Vorstellungen von Geschlecht und Identität“ (43) ausdifferenzieren? Besonders am Phänomen der Intersexualität soll deutlich gemacht werden, dass es offenbar mehr als nur zwei Geschlechtsidentitäten gibt, die Kategorisierung in männlich und weiblich demnach unzureichend und nicht erschöpfend ist. Während der Schilderung erster Zugänge zur Thematik und des Forschungsprozesses reflektiert die Autorin auch ihre eigene Position und deren Wandel: „Der mir ansozialisierte Staub in meinem Gehirn ist gehörig aufgewirbelt.“ (10)
Kernstück des Buches ist die Darbietung ausgewählter Sequenzen biografisch-narrativer Interviews. Vorgestellt werden fünf Personen unterschiedlichen Alters, die sich selbst als Transsexuelle definieren, sich allesamt einer hormonellen wie operativen Behandlung unterzogen haben und sich nun in ihrem „Wunschgeschlecht“ befinden. Anhand unterschiedlicher Thematiken (u. a.: Identitätsfindung, Schlüsselereignisse, Selbstdarstellung, Kleidung, Körperlichkeit, Geschlechtsbilder, Sexualität bzw. Genitalität, Familie etc.), für die jeweils ein Kapitelabschnitt vorgesehen ist, werden besonders markante Aussagen aus den Interviews exemplarisch angeführt. Welches Bewusstsein von Normalität und Andersartigkeit wird in den Gesprächen vermittelt? Auf welche Weise wird der eigene Lebenslauf erzählt? Was wird dabei mehr und was weniger betont? Welches sind wiederkehrende Motive oder Formulierungen? Lassen sich signifikante biografische Unterschiede zwischen den Transmännern und Transfrauen erkennen? Dies sind nur einige von vielen Fragen, die tangiert werden. Nicht nur die von der Autorin interviewten Personen kommen zu Wort, sondern vereinzelt auch von Kollegen befragte oder aus verschiedenen Internetforen bzw. Blogs zitierte Transsexuelle.
Ein Aspekt, der aus mehreren Interviews hervorsticht, ist der Gebrauch von Stereotypen, wenn es um vorgestellte Geschlechtsbilder geht. Die Befragten scheinen besonders darum bemüht, die Klischees ihres „ursprünglichen“ Geschlechts nicht zu bedienen – und das gelingt offenbar umso erfolgreicher, je mehr sie die Stereotype jenes Geschlechtes erfüllen, in welchem sie sich selbst verorten bzw. verortet werden möchten. Zugleich stellt sich die Frage, ob es überhaupt möglich ist, „klischeebefreit“ von Geschlechtsvorstellungen zu sprechen.
Diskussion
Köbeles Buch liest sich als Versuch, „die eine oder andere Vorstellung Nicht-Transsexueller von Transsexuellen und von ,Geschlecht‘ oder auch von Identität zu revidieren oder zu erweitern“ (10), indem es u. a. zahlreiche Fakten – Bekanntes und weniger Bekanntes – liefert. Neben dem Hauptgegenstand werden noch andere Fragen aufgeworfen, die in je unterschiedlicher Weise die Kategorien Geschlecht und Identität aufgreifen, nicht zwingend auf Transsexualität zu beziehen sind, sondern auch „für sich“ betrachtetet werden können. Dieser Umstand macht das Buch insgesamt zu einer abwechslungsreichen, spannenden und anspruchsvollen Lektüre, die zu einem differenzierten, reflektierten Denken auffordert und gleichzeitig zu weiterführenden, aber auch zu grundlegenden Überlegungen anregt: Wie etwa macht sich Transsexualität überhaupt bemerkbar? Sind es bereits diffuse Fantasien, die mit dem Changieren von Geschlechtsidentitäten zu tun haben oder sind es erst konkrete Handlungen wie etwa das Tragen bestimmter Kleidung? Ist es das „Outing“, sich in seinem Geschlecht unwohl zu fühlen und es darum wechseln zu wollen, ist es die erste Hormonbehandlung, oder ist man tatsächlich erst nach „abgeschlossenen“ medizinischen Eingriffen transsexuell? Vielleicht sollte man gerade nach der finalen Operation nicht mehr von Transsexualität sprechen, sondern vielmehr von einer Frau bzw. einem Mann „mit transsexueller Vergangenheit“? Ist, alles in allem betrachtet, Transsexuellsein also nur eine Epoche einer individuellen Biografie oder eben doch ein lebenslanger Zustand, ganz unabhängig von operativen Interventionen?
Leser, die eine umfassende ätiologische Aufarbeitung des Phänomens mit stichhaltigen Erklärungen und Theorievergleichen erwarten, werden vermutlich enttäuscht. So ist es weder im Sinne der Autorin, eine „Theorie der Transsexualität“ zu entwerfen, die auf vorhandene wissenschaftliche Arbeiten rekurriert, noch geht es ihr um objektive Erklärungsansätze. Stattdessen richtet sie ihren Fokus bewusst auf die subjektiven Erlebniseindrücke ihrer Interviewpartner – aber auch auf ihre eigenen. So originell diese Herangehensweise auch anmutet, wirkt sie doch etwas gewöhnungsbedürftig und wirft nicht zuletzt die Frage nach dem beabsichtigten Erkenntnisgewinn auf. Das macht den Stellenwert des Buches als Beitrag für den wissenschaftlichen Fortschritt schwer messbar.
Inwieweit es praktikabel ist, die „autobiografische ,Wahrheit‘ der Einzelnen“ (249) mithilfe der von der Autorin präferierten Methode des Interviews zu finden, wäre zu überprüfen. Gemeinhin tendieren Menschen in Interviewsituationen dazu, sich im Sinne eines Selbstschutzes und einer sozialen Erwünschtheit möglichst positiv darzustellen bzw. so zu antworten, wie sie meinen, dass es andere von ihnen erwarten. Das dürfte vor allem bei Themen der Fall sein, die in die eigene Intimsphäre hineinragen. Auf die Frage hin, wie man zu der Person wurde, die man heute ist, wird auffallend oft betont, dass es offenbar „schon immer“ der Wunsch war, das Geschlecht zu wechseln. Dass die Befragten daran orientiert sind, ihren Biografieverlauf und ihr „Gewordensein“ zu plausibilisieren, ja zu legitimieren, dürfte vermutlich nicht das erste Mal, sondern bereits in diversen früheren Gesprächen (bzw. Befragungssituationen) mit anderen Personen der Fall gewesen sein. – Und dass der besagte Wunsch „schon immer“ vorhanden war, ist schließlich auch für die Erstellung eines (den medizinischen Maßnahmen vorausgehenden) psychologischen Gutachtens ein nicht unbedeutender Aspekt.
In einer Weise, wie man es sonst wohl eher in der populärwissenschaftlichen Literatur erwartet hätte, wirkt das Resümee der Autorin ideologisch überfrachtet. So wird in frappierender Häufigkeit „unsere Gesellschaft“ (260) angeprangert und mehr Toleranz und Freiheit im Hinblick auf Gender gefordert. „Eine größere Genderfreiheit würde“, wie Köbele konstatiert, „einen positiven Einfluss auf die Menschen haben.“ (260)
Sieht man jedoch über die genannten Kritikpunkte hinweg, so liegt ein über weite Strecken lesenswertes Buch vor. Die ausführliche Vorstellung der Interviewten hilft dem Leser, sich ein genaueres Bild von ihnen zumachen und sich annährend in ihre Lage zu versetzen. Der Verzicht auf ausufernde theoretische Auseinandersetzungen, eine leicht lesbare Ausdrucksweise und die anschauliche Beschreibung der Interviews machen das Buch einer breiten Leserschaft zugänglich – auch und vor allem einem Laienpublikum, welches sich mit dem Phänomen bislang noch wenig auseinandergesetzt hat. In den Darstellungen der Interviews nehmen die Zitate der ,Protagonisten‘ den größten Raum ein und wechseln sich mit eingeschobenen Zusammenfassungen, Interpretationen und Fragestellungen der Autorin ab. Mancher Leser könnte sich angesichts der hohen Zitatdichte etwas ,erschlagen‘ fühlen, für andere wiederum erlangt die Lektüre gerade hierdurch ihre Lebendigkeit. Fest steht jedenfalls, dass wohl in kaum einem anderen Buch über Transsexualität Betroffene so ausgiebig selbst zu Wort kommen.
Fazit
Das Buch gibt, auf nicht unproblematische Weise, spannende Einblicke in außergewöhnliche Lebenswelten und regt zu eigenen Reflexionen über die Rolle von Geschlecht und Identität in der modernen Gesellschaft an.
Rezension von
Matthias Meitzler
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