Iris Steinbach: Interkulturelle Pflege
Rezensiert von Prof. Dr. Michael Schilder, 05.01.2012

Iris Steinbach: Interkulturelle Pflege. B. Behr’s Verlag (Hamburg) 2011. 103 Seiten. ISBN 978-3-89947-773-3. D: 31,57 EUR, A: 32,50 EUR.
Autorin
Die Autorin Iris Steinbach ist promovierte Medizinsoziologin mit Weiterbildung zur systemisch-lösungsorientierten Beraterin. Sie hat Erfahrung in Forschung, als Lehrbeauftragte an Hochschulen und in der Fort- und Weiterbildung von Fachkräften in Gesundheitsberufen. Sie ist u.a. tätig als freiberufliche Dozentin und Beraterin in Einrichtungen des Gesundheitswesens mit Fokus auf interkulturelle Pflege, Bewältigung von Trauer- und Sterbeprozessen und Kompetenzentwicklung.
Entstehungshintergrund
Den Hintergrund für diese Veröffentlichung bieten einschlägige persönliche Erfahrungen und Fortbildungen im Gesundheitswesen. Die Zielgruppen der Publikation sind zum einen Pflegefachkräfte in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen und zum anderen Führungskräfte im Gesundheitswesen, die spezifische Informationen zur interkulturellen Öffnung des Settings Krankenhaus und ein dafür geeignetes methodisches Vorgehen erhalten sollen.
Aufbau
Im Einzelnen enthält das Buch sieben Kapitel plus Literatur- und Stichwortverzeichnis (auf die Darstellung der Unterkapitel wird verzichtet):
- Einleitung
- Die Relevanz des Themenkreises für das Gesundheitswesen
- Die Bedeutung der Kultur
- Basisinformationen für eine Interkulturelle Pflege
- Interkulturelle Pflege in Klinik und ambulanter Altenhilfe
- Implementierung in einer Einrichtung des Gesundheitswesens
- Ausblick
Inhalt
Diese Arbeit basiert auf einem von der Autorin konzipierten Fortbildungskonzept zur Interkulturellen Pflege. Basis hierfür bilden zwei Grundlagenwerke zum Gegenstand (Visser/ de Jong 1999 und Domenig 2001), Elemente der Fortbildungsreihe „X-Pert“ von Röth/Köck und das Konzept des Konstruktivismus. Die Kernthese dieses Buches ist, dass situationsangemessenes interkulturelles Handeln ein Bewusstsein für die eigene kulturelle Prägung des Denkens, Fühlens und Handelns der Pflegenden voraussetzt. Zur Situationsbewältigung wird ein Dreier-Schritt in Form von Beschreibung, Interpretation und Bewertung der Situation vorgeschlagen.
Mit der Absicht in die Bedeutung der Kultur einzuführen, erfolgt in dem der Einleitung folgenden 2. Kapitel ein recht breiter von Bildungsreisen der Autorin geleiteter thematischer Einstieg in die Rolle der Kultur in der Wissenschafts- und Medizingeschichte. Die Notwendigkeit interkultureller Pflege wird anhand älteren regionalspezifischen Datenmaterials verdeutlicht. Bezugnehmend auf eine Literaturquelle werden als Gewinne von Prozessen interkultureller Öffnung die Vermeidung von Fehldiagnosen, Mehrfachuntersuchungen, Chronifizierungen, langen Liegezeiten sowie die Optimierung von Gesundheitsleistungen, Kostensenkungen und die Verbesserung der Behandlungszufriedenheit angeführt (S. 21).
Dem folgt im dritten Kapitel eine auf einer Publikation des Deutschen Volkshochschulverbandes basierende Betrachtung des Kulturbegriffs. Hierin werden Dimensionen des Kulturbegriffs wie Sozialisation, Identität und soziales System angerissen, der Bezug zur eigenkulturellen Prägung anhand des eigenen Fortbildungskonzepts der Autorin hergestellt und Formen der Kulturbegegnung anhand des Begriffs der Fremdheit und dessen Dimensionen erörtert. Der Text wird gelegentlich durch Bilder ergänzt. Dann geht Steinbach auf Formen des Ethnozentrismus ein. Dazu greift sie Praxisbeispiele von Fortbildungsteilnehmerinnen auf mit dem Ziel, die Notwendigkeit von Selbstreflexivität im Hinblick auf die eigene kulturelle Prägung abzuleiten.
Mit der Zielrichtung, aus Fortbildungsveranstaltungen stammende Erfahrungen von Pflegenden, etwa mit Besuchen von Angehörigen, die für diese zu Irritationen und Störungen im eigenen professionellen Handeln geführt haben, aufzulösen, werden im vierten Kapitel Basisinformationen in Form von Hintergründen zum Gesundheitssystem der Türkei vermittelt. Dabei greift Steinbach auf relevante Kategorien bzw. Kulturdimensionen, wie Machtdistanz; Individuum-Kollektivismus und geschlechtsbezogene Differenzen zurück, was auf eine leicht verständliche Sprache reduziert wird. Daneben wird die Bedeutung der Angehörigenpflege in der Türkei und deren möglichen Implikationen für die Pflege in Deutschland umrissen. Auch genderbezogene Überlegungen werden mit einbezogen. Anschließend werden Krankheitskonzepte und ihr Zusammenhang zur Kultur angerissen und unterschiedliche Erklärungsansätze veranschaulicht. Auf dieser Basis wird die Bedeutung von Krankheit und das Phänomen Schmerz für Muslime in der Pflegepraxis beleuchtet. Zudem wird die interkulturelle Bedeutung und Symbolik von Organen und körperlichen Befindlichkeiten skizziert. Dann wird auf religiöse Hintergründe zum Islam eingegangen, die für pflegebezogene Arbeiten relevant sind.
Als Strategie des Umgangs in der Begegnung und Interaktion im Rahmen der Interkulturellen Pflege wird von der Autorin im fünften Kapitel der systemisch-lösungsorientierte Ansatz gewählt. In diesem bezieht sie sich auf den Konstruktivismus und beleuchtet die Bedeutung der inneren Haltung, der kollegialen Reflexion (reflecting team) und schließlich das refraiming als die Umdeutung einer Situation (S. 61). Diese Ansätze zur Umdeutung einer Situation auf der Basis eines selbstreflexiven und durch die Deutungen von Teammitgliedern relativierten Zugangs bieten einen interessanten, wenn auch verkürzten Ansatz, zur Lösung von als schwierig wahrgenommenen Praxissituationen, der anhand von Fallbeispielen erläutert wird. Neben den Fallbeispielen aus der Akutmedizin und dem Palliative Care-Bereich widmet sich Steinbach dann zur Betrachtung des Handlungsfeldes der ambulanten Altenpflege den Ergebnissen der Arbeitsgruppe Forum für eine kultursensible Altenpflege (S. 68-71) und verweist auf Empfehlungen von Homepage-Seiten von in diesem Handlungsfeld tätigen Experten.
Das 6. Kapitel beschäftigt sich mit der Frage der Implementierung der transkulturellen Pflege in einer Einrichtung der Gesundheitsversorgung im Rahmen des Diversity Management-Ansatzes. Die Notwendigkeit dazu und Elemente der interkulturellen Öffnung von Gesundheitseinrichtungen werden ebenfalls referiert. Im Ausblick unternimmt die Autorin einen kurzen Rückblick auf die im Buch verfolgte Argumentation und deren Anliegen. Das Buch enthält ein Literaturverzeichnis und wird durch ein Stichwortverzeichnis beschlossen.
Diskussion
Diese den Titel Interkulturelle Pflege tragende Publikation richtet sich an in der Pflegepraxis tätige Pflegende und soll Unterstützung im Umgang mit Praxissituationen bieten. Im Vergleich zu anderen Grundlagenwerken der Trans- oder Interkulturellen Pflege wird hier primär auf Teilaspekte dieses umfangreichen Themengebiets eingegangen und vor allem auf türkischstämmige Menschen muslimischen Glaubens begrenzt, womit weitere für pflegerische Handlungsfelder relevante Wanderungstypen ausgeklammert werden. Hilfreich wäre gewesen, diese Akzentuierung in einem Untertitel zu verdeutlichen. Aus pflegewissenschaftlicher Perspektive ist irritierend, dass die Autorin bestehende Grundlagenwerke für praktisch tätige Pflegende als zu umfangreich benennt. Die angeführte Literaturrecherche ist nach wissenschaftlichen Kriterien als problematisch zu bewerten, wobei der breitere pflegewissenschaftlich einschlägige Literaturbestand nicht erfasst wurde. Insgesamt ist festzuhalten, dass die Ausführungen selten in die Tiefe gehen. Es hätte sich z.B. angeboten, die genannten Themen theoriebasiert und mittels einer selbst entwickelten Argumentation zu verdichten. Mitunter werden Zitate aneinander gereiht, die eine eigene Position der Autorin vermissen lassen.
Positiv hervorzuheben sind die Verweise auf weitere Vertiefungsquellen. Vereinzelt ist eine unangemessene Sprache („Füttern“, S. 37) festzustellen. Die Ausführungen zu Kulturdimensionen geraten mitunter stereotypisierend (S. 38). Der Hinweis, dass therapeutische Maßnahmen wie Injektionen im Zuge des Fastens bei gläubigen muslimischen Patienten nicht verabreicht werden, lässt die Tatsache unberücksichtigt, dass diese von der Pflicht des Fastens ausgenommen sind. Hier hätte mehr auf die Problematik und Lösungsansätze (Beratungsansätze, Information) eingegangen werden sollen. Gerade für PflegepraktikerInnen wäre es wichtig gewesen, Strategien der Gesundheitsförderung im Rahmen der pflegerischen Mitwirkung bei der medizinischen Therapie darzustellen. Gerade angesichts der großen Bedeutung des Themas der kultursensible Versorgung Sterbender erstaunt die Einbindung eines Standards, der das komplexe Thema auf standardisierte Angaben reduziert. Im Hinblick auf den systemisch-lösungsorientierten Ansatz ist kritisch anzumerken, dass dieser zwar zur Erhöhung der Selbstreflexivität der Nutzer führen kann, jedoch gleichzeitig nur einen begrenzten Zugang zur Lösung von Praxissituationen bietet, indem es verspricht, komplexe Wirklichkeiten auf wenige Lösungsschritte zu reduzieren. So wird die Sichtweise der Betroffenen zugunsten einer ausschließlich auf der fachlichen Ebene verbleibenden Reflexion außer Acht gelassen. In Bezug auf die Bearbeitung der Fallbeispiele entsteht der Eindruck, dass die Lösungen als Versuch erscheinen, die professionelle Deutungsmacht gegenüber den sich im Verhältnis zu den Fachpersonen anders verhaltenden ausländischen Patienten durchzusetzen, ohne einen Versuch der Aushandlung zu unternehmen (S. 62-66). Die vorgestellte Methodik des systemisch-lösungsorientierten Ansatzes hätte auf der Basis des Ansatzes der transkulturellen Kompetenz eine größere Chance, zu einer für alle an der Situation Beteiligten zufriedenstellenden Lösung zu gelangen, weil in dieser die Interaktion und Aushandlung verschiedener Situationsdefinitionen mehr Gewicht erhält.
Fazit
Mit dieser Publikation liegt ein Einblick in den Themenbereich Interkulturelle Pflege vor, der aktuelle pflegewissenschaftliche Erkenntnisse zwar thematisiert, aber zu wenig vertieft. Für PraktikerInnen und Leitungspersonen in Gesundheitswesen hingegen bietet das Buch einen Einstieg in die Thematik. Empfehlenswert sind auch die weiteren Hinweise der Autorin z. B. zu den Arbeitsmaterialien der Charta für eine kultursensible Altenpflege.
Rezension von
Prof. Dr. Michael Schilder
Professor für klinische Pflegewissenschaft an der Evangelischen Fachhochschule Darmstadt
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Zitiervorschlag
Michael Schilder. Rezension vom 05.01.2012 zu:
Iris Steinbach: Interkulturelle Pflege. B. Behr’s Verlag
(Hamburg) 2011.
ISBN 978-3-89947-773-3.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/12048.php, Datum des Zugriffs 29.09.2023.
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