Gerd Sebald: Soziale Gedächtnisse
Rezensiert von Prof. Dr. Dr. Jochen Fuchs, 18.01.2012
Gerd Sebald: Soziale Gedächtnisse. Selektivitäten in Erinnerungen an die Zeit des Nationalsozialismus.
transcript
(Bielefeld) 2011.
253 Seiten.
ISBN 978-3-8376-1879-2.
29,80 EUR.
CH: 41,50 sFr.
Reihe: Sozialtheorie.
Thema und Entstehungshintergrund
Der unter dem Titel „Soziale Gedächtnisse – Selektivitäten in Erinnerungen an die Zeit des Nationalsozialismus“ im „transcript Verlag“, einem Bielefelder Fach- und Dissertationsverlag im Bereich der Sozialwissenschaften, im Jahre 2011 verlegte Reader versammelt ein knappes Dutzend Beiträge einer Gruppe jüngerer Erlanger Soziologen im Umfeld von Gerd Sebald, der im übrigen seit 2007 Vertrauensdozent der Heinrich-Böll-Stiftung ist. Sebald ist Verfasser bzw. Mitverfasser von fünf der elf Studien des Bandes, die alle aus dem von der „Deutschen Forschungsgemeinschaft“ geförderten Projekt „Soziale Erinnerung in differenzierten Gesellschaften. Relevanzstrukturen, mediale Konfigurationen und Authentizität in ihrer Bedeutung für soziale Gedächtnisse im generationellen Vergleich“ hervorgegangen sind. Dieses Projekt lief zwischen 2006 und 2009 am Soziologieinstitut der Universität Erlangen. Wie für einen Sammelband aus dem Umfeld eines gemeinsamen Forschungsprojektes nicht unüblich, so weist auch dieser eine gewisse Disparität auf. Sucht man nach einem kleinsten gemeinsamen Nenner, so könnte man konstatieren, dass es um verschiedene Aspekte der Selektivität von Erinnerungen geht, welche am Beispiel der Erinnerungen an die Zeit des Faschismus dargestellt werden (vgl. Gerd Sebald: Einleitung – Zur Selektivität von Sozialen Erinnerungen, S. 9). Ausgehend von der Erkenntnis, dass gemeinhin zwischen zwei Formen von sozialen Gedächtnissen (dem kommunikativen Gedächtnis einerseits und dem kulturellen Gedächtnis andererseits) unterschieden wird, die sich gegenseitig allerdings überlagern und in Anbetracht des Umstandes, dass nach Auffassung von Sebald „eine tiefgehende theoretische Durchdringung des Gegenstandes >soziale Gedächtnisse< [fehlt]“ (Sebald: S. 9, [Seite13]), beabsichtigt die Autorengruppe, zu der mit René Lehmann auch ein Promotionsstipendiat der Hans-Böckler-Stiftung zählt, insbesondere die Selektivität von sozialen Gedächtnissen zu untersuchen.
Gestützt auf das von Alfred Schütz entwickelte Konzept der Relevanz als Ausgangspunkt für die genauere Bestimmung von Selektivität werden in dem Reader als konstituierende Faktoren sozialer Gedächtnisse die Differenzierung und Pluralisierung, die Generationengrenzen, die Medialität, die Authentizität, die Diskurse und die Semantiken untersucht (Sebald, S. 9, [13 ff.]). In Anbetracht des Umstands, dass zu den Forschungsprojekten des ‚Hauptautor‘ des Bandes die Werkausgabe von Schütz zählt, verwundert es auch nicht, dass man sich beim vorliegenden Projekt auf dessen Konzept stützt.
Das Material für die Untersuchung gewann man vornehmlich durch knapp 120 narrativ-biographische Einzelinterviews und Gruppendiskussionen mit Teilnehmerinnen und Teilnehmern aus der gesamten BRD, die in der zweiten Hälfte der vergangenen Dekade stattfanden. Die Interviewpartner meldeten sich auf Presseartikel in verschiedenen regionalen und überregionalen Tageszeitungen in Bayern, Thüringen und Sachsen. Die Interviewten gehörten mehrheitlich der Generation an, die zu Zeitzeugen des faschistischen Regimes geworden waren. Eine Vorauswahl sorgte dafür, dass die Interviewten grundsätzlich weder der Täter- noch der Opferseite, sondern den so genannten Zuschauern bzw. Mitläufern zuzurechnen sind (René Lehmann: Feldzugang und Material, S. 217, [218 ff.]). Von den sich meldenden Personen wurden etwa 1/3 ausgewählt, in einer zweiten Interviewphase wurden dann auch Familienangehörige von insgesamt 14 Interviewpartnern der ersten Phase in Einzelinterviews und in Gruppendiskussionen befragt. Dabei wurde darauf geachtet, dass neben der Zeitzeugengeneration auch Vertreter der Kinder- und Enkelgeneration zu Wort kamen. Bei den Einzelinterviews wurden die Beteiligten aufgefordert, ihr Leben - bzw. das ihrer Familie – zur Zeit des Faschismus zu erzählen. Die Gruppendiskussionen im Familienkreis fanden dann nach der Transkription der Einzelinterviews statt, von welchen man sich einen Einblick in die Prozesse der Verfertigung der sozialen Gedächtnisse der Familie erhoffte. Ausgewertet wurde das Material mit Hilfe der themenorientierten Inhaltsanalyse und der Sequenzanalyse (vgl. Gerd Sebald/Christian Brunnert: Methodische Erläuterungen, S. 227, [229 ff.]).
Aufbau und Inhalt
In „Ethische Implikationen in familialen Erinnerungen an die Zeit des Nationalsozialismus – eine Fallrekonstruktion“ (Sebald/Lehmann, S. 23 ff.) wird das Verhältnis von Erinnerungen zu deren Überlieferungen über drei Generationen hinweg rekonstruiert. So erzählt etwa die 1922 in eine katholische Familie hineingeborene Zeitzeugin über das Verbot ihrer kirchlichen Jugendgruppe und rühmt sich des Umstandes, dass man nicht nur weiter Kontakt mit „Halbjüdinnen“ gehalten, sondern diese sogar noch 1942 als Brautjungfern ausersehen habe. Auch habe der Vater – obwohl in der Leitung eines Rüstungsbetriebes tätig - weder den Hitlergruß gezeigt, noch die Hakenkreuzfahne herausgehängt. Ihre 1949 geborenen Tochter, die sich als früher sehr links stehend bezeichnete und auch in der Friedens- und Ökologiebewegung mitwirkte, inzwischen ihr Auskommen als Geschichtslehrerin gefunden hat, heroisiert nicht nur ihre Mutter, sondern erzählt auch noch von einer der Euthanasie zum Opfer gefallenen Tante und von ihrer Zusammenarbeit mit einem Auschwitzüberlebenden im Rahmen ihrer Erinnerungsaktivitäten an die Verbrechen des Faschismus, welche sich ansonsten auch durch den Besuch von KZ-Gedenkstätten etc. manifestieren. Bei dem 1981 geborenen Enkel mutiert dann die mütterliche Verwandtschaft zu Sympathisanten der SPD, die er der väterlichen Linie gegenüberstellt, die konservativ bis faschistisch orientiert gewesen sei und sich auch heute noch teilweise durch antisemitische Äußerungen hervortue. Der Architektur studierende Enkel gesteht zudem eine gewisse Faszination bezüglich der NS-Architektur ein. Gleichwohl liefert er einen Bericht über einen Entwurf für eine KZ-Gedenkstätte, den er als Studienarbeit angefertigt hatte und welcher einen dem KZ ‚vorgeschalteten‘ Landschaftspark als „Pufferzone“ vorsah (Sebald/Lehmann, S. 23, [40]), was Sebald/Lehmann dann wie folgt interpretieren: „Hier zeigt sich noch einmal die ethische Abgrenzung der Familie unter umgekehrten Vorzeichen: Der Nationalsozialismus wird mit Hilfe eines Parks von der Restgesellschaft abgetrennt, der Weg zur »Aufarbeitung« (…) ist dann auch körperlich erfahrbar. Das ethisch und moralisch als »gut« zu Bewertende kann damit problemlos und vollständig losgelöst werden vom »Anderen«, »Schlechten«.“ (Sebald/Lehmann, S. 23, [40 f.] ).
Christian Brunnert, der sich in seiner Magisterarbeit mit dem Thema „Die »68er«-Generation und familiale Erinnerung“ beschäftigt hat, untersucht in seinem Beitrag mit dem Titel „Vom Mythos der Aufklärung – Die »68er«-Generation und familiale Erinnerung“ (S. 67 ff.) die Differenzierung, die der Unterschied der Generationen zur Formierung sozialer Gedächtnisse aufweist. Nach Schilderung des Diskurses über die „68er“ – angefangen mit der Auseinandersetzung um die Ausstellung „Ungesühnte Nazijustiz“ des SDS-Studenten Reinhard Strecker (Brunnert, S. 67 [71]) über die in diesem Zusammenhang unvermeidlichen Hannah Arendt (die allerdings nicht im Original, sondern aus der einschlägigen Monographie von Norbert Frei von 2008 [„1968 – Jugendrevolte und globaler Protest“] zitiert wird) sowie Götz Aly bis hin zu Jürgen Habermas wendet sich Brunnert u.a. dem Fall einer 1941 in Coesfeld geborenen und später nach Stuttgart verzogenen MTA zu. Einschlägig politisiert wurde diese durch die Auseinandersetzung mit den Euthanasieprogrammen der Faschisten und durch die Auschwitzprozesse“ (Brunnert, S. 67 [74 f.]). Deren 1914 geborene Mutter bewahrte bis zu ihrem Tode 2007 nicht nur diverse faschistische Devotionalien auf, sondern vertrat bis zum letzten Atemzug auch noch positive Ansichten hinsichtlich des Faschismus. Der bereits Anfang der 90er Jahre verstorbene Vater war Berufssoldat und auch am Ostfeldzug beteiligt. Nach seiner Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft begab er sich in die Dienste der englischen Besatzer.
Während ihre frühe Jugend durch das allgemeine „Beschweigen“ geprägt war, entwickelte sie im Anschluss an ihre Politisierung Schuldgefühle gegenüber einzelnen Franzosen, Engländern und Juden, mit denen sie persönlich in Kontakt kam. Erst nach dem Tod des Vaters kam es dann angesichts von bei der Mutter vorgefundenen Postkarten von Hitler und dessen „Mein Kampf" im Bücherregal zu einem partiellen Bruch mit derselben. Sie fühlte sich dann „von den Nachwehen des Nationalsozialismus im Ansatz befreit“ (Brunnert, S. 67, [85]) und, derart geläutert, findet sie den Umstand, dass die Freundin ihres Sohnes nun mit einer Deutschlandfahne herumrennt, als positiv. O-Ton: „(…) und das fand ich so schön, dass so ein junges Mädchen, einfach ja: »Deutschland, Deutschland!« ruft, wie die Andern.“ (Brunnert S. 67, [87])).
Dieses Heimfinden einer ‚Alt-68erin“ wird von Brunnert wie folgt analysiert: „Mit dem Tod der Mutter (als Mitverantwortliche der Elterngeneration) endet für Frau Walter auch die Schuld und sie kann ihre eigenen »Schuldgefühle« als Deutsche und auch gegenüber den Eltern ablegen und selbst wieder unbeschwert »die Deutschlandfahne schwenken«.“ (Brunnert S. 67, [88]).
In seinem Resümee (Brunnert S. 67, [105 ff.]) der beiden von ihm bearbeiteten Einzelfälle kommt Brunnert in Bezug auf den ersten Fall zu dem interessanten Schluss, dass „Für ihren Wunsch nach einem positiven Nationalbezug (…) ihre Form des »negativen Erinnerns« (vgl. Knigge/Frei 2002) unabdingbar.“ (Brunnert S. 67, [106]) und bezüglich des zweiten – hier nicht dargestellten Einzelfalls – zu folgendem Schluss: „Der Konflikt bleibt jedoch oberflächlich und dient lediglich einer Art pubertären Provokation. In der weiteren Erzählung verwandelt sich die Auseinandersetzung vom Konflikt über Verständnis bis hin zu einer Rechtfertigung des Vaters. Darüber hinaus dient der Status der kritischen »68erin« als Legitimation für ihre Relativierung von deutschen Verbrechen.“ (Brunnert S. 67, [106]), was ihn schließlich dazu veranlasst, festzustellen, dass „die familiale Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus von Angehörigen der »68er«-Generation und das entsprechende Bild im Diskurs nicht deckungsgleich sind.“ (Brunnert S. 67, [107]).
Mit dem Beitrag von Florian Öchsner „Antisemitismus in familialen Erinnerungen an den Nationalsozialismus“ (S. 109 ff.) wird der Versuch unternommen, sich mit „antisemitischen Semantiken in den generationellen Familiengedächtnissen“ auseinander zu setzen. Der Verfasser kommt zu dem Schluss, dass: „Festzuhalten ist, dass die Interviewten sich (durchaus auch deutlich) vom Nationalsozialismus abgrenzen wollen und abgrenzen. Doch obwohl Selbstbilder als „Nazigegner“ vorherrschen, werden antisemitische Semantiken tradiert und reproduziert.“ (Öchsner, S. 109, [130]).
Am Beispiel dieses Beitrags wird deutlich, wie problematisch mitunter die inhaltsanalytische Methode sein kann. Als Basis dient das transkribierte gesprochene Wort, welches anders als bei ‚offiziellen‘ Interviews allgemein üblich, dem Interviewten vor seiner Verwertung nicht mehr zur Klarstellung bzw. Korrektur vorgelegt wird, und für gewöhnlich werden ja nur einige Textauszüge aus einer längeren Passage zur Stützung einer bestimmten These bzw. Analyse publiziert. Zugegebenermaßen sind diese Passagen in dem Beitrag von Florian Öchsner relativ ausführlich (was leider durchaus nicht immer der Fall ist), was allerdings nichts daran ändert, dass es prinzipiell schwierig ist, eine vom Analytiker gezogene Schlussfolgerung auf ihre Schlüssigkeit hin zu überprüfen.
Hinzu kommt, dass im vorliegenden Fall die von Öchsner gezogenen Schlussfolgerungen mitunter relativ „kühn“ erscheinen. So werden beispielsweise im Fall der Frau Kanther (Öchsner, S. 109, [111 ff.]) dieser ein „Israelfeindbild“ mit „antisemitische[r] Sinnstruktur“.] attestiert. Fast wie bei den „Antideutschen“ scheinen kritischen Äußerungen Frau Kanthers, die sich auf das „Siegesgebaren“ von jüdischen Israelis im Anschluss an den Sechs-Tage-Krieg beziehen, bei Öchsner einen Reflex auszulösen, der dazu führt, Frau Kanther derart zu stigmatisieren. Soweit die Äußerungen von Frau Kanther wörtlich wiedergegeben werden, beziehen sich diese nur auf eben dieses Siegesgebaren, mit welchem sie selbst bei einem Israelbesuch konfrontiert gewesen war. In diesem Zusammenhang fällt dann auch die Äußerung „machen die [Israelis, Anm. J. F] dasselbe [wie die Nazis, Anm. J. F]“ (Öchsner, S. 109, [113]). In diese Formulierung wird nun Folgendes hineingelesen: „>dasselbe machen< beinhaltet zweierlei: Die Israelis würden dasselbe mit den Palästinensern machen, was die Nazis mit den Juden gemacht hätten. Darüber hinaus verhielten sich die Israelis entsprechend der deutschen Tätergeneration mit dem Unterschied, dass die mit ihrem >Taten< nicht konfrontiert würden.“ Eine solche Äußerung wurde von Frau Kanther überhaupt nicht gemacht – zumindest wird sie nicht in transkribierter Form wiedergegeben - sondern von Öchsner lediglich assoziiert. Stellt man in Rechnung, dass das gesamte Interview mit Frau Kanther etwa 5 ½ Stunden dauerte, so ist es sicherlich nicht unmöglich, auch andere Äußerungen zu finden, die, da sie ja ins „Unreine" gesprochen worden sind, durchaus unterschiedlich interpretierbar sind. Der Analytiker kann so – je nach ,Erkenntnisinteresse´ oder ideologisch/politischer Couleur – Bestätigungen eben dessen finden bzw. konstruieren, was zu finden er sich bemüht.
Ähnlich wird auf S. 117 auch mit der Äußerung von Peter jun. umgegangen. Aus dessen Hinweis, dass es in Europa nicht nur den Nationalsozialismus gegeben habe, sondern auch in Italien bzw. Spanien faschistische Regime an der Macht waren, wird ihm von Öchsner der Vorwurf gemacht, „die Differenz zwischen Nationalsozialismus und den anderen Faschismen“ (Öchsner, S. 109, [117]). zu verwischen. Aus dem Umstand, dass Öchsner wohl nicht die Faschismusanalyse von Dimitrow teilt, wonach es mit den Unterschieden zwischen diesen „Faschismen“ gar nicht so weit her ist, sondern anscheinend eher bürgerlichen Theorien verbunden ist, ergibt sich für ihn nun die Möglichkeit, Peters jun. quasi als Verharmloser des deutschen Faschismus darzustellen.
Ein ähnliches Schicksal erleidet Frau Dengler (Öchsner, S. 109, [125 f.]). Obwohl sie explizit beklagt, dass man in der Allgemeinheit zu wenig über den Nationalsozialismus wisse, und erklärt, dass die Erinnerung „unter anderem wegen des Aufschwungs der NPD“ (Öchsner, S. 109, [125]) daran äußerst wichtig sei, wird ihr und ihrer Mutter daraus der Strick gedreht, dass sie sich gegen eine Reduzierung des Faschismus auf die Shoa ausspricht.
Nicht uninteressant ist grundsätzlich das Thema des Aufsatzes von Johanna Frohnhöfer („Pluralisierte Erinnernungsmuster in der deutschen Einwanderungsgesellschaft“, S. 132 ff.). Sie präsentiert dabei vier Einzelfälle, wobei sie es allerdings im Unterschied zu den anderen Autoren völlig unterlässt, die Interviewpartner wörtlich zu zitieren. Insofern besteht absolut keine Möglichkeit, die Darstellung von Frohnhöfer auf Schlüssigkeit und Nachvollziehbarkeit hin überprüfen zu können.
Insofern besteht an dieser Stelle also Gelegenheit, die Wortwahl von Frohnhöfer selbst kritisch zu würdigen. Sofern die Autorin die Sichtweise der von ihr Interviewten nicht teilt, so flüchtet sie sich in eine verschleiernde Sprache. So wird etwa die durch die USA-Regierung zu verantwortende Folter an Tatverdächtigen im Anschluss an den Angriff auf das World-Trade-Center etc. am 09.11.2001 auf S. 144 als „zweifelhafte Verhörmethode“ bezeichnet oder wenn ein Interviewter die israelische Regierung wegen der Instrumentalisierung des Opferstatus der Juden kritisiert, so wird in den Worten Frohnhöfers Israel „bezichtigt“ (Frohnhöfer, S. 132, [144]).
Auch ansonsten geben die Formulierungen der Autorin Anlass zum Stutzen. So wird etwa der in den 1980er Jahren in der BRD geborenen Frau Yilmaz die Türkei als „Herkunftsland“ zugeschrieben (Frohnhöfer, S. 132, [146]) und auf S. 158 wird den gefragten Personen vorgeworfen, dass sie Analogien zwischen der Verfolgung der jüdischen Bevölkerung zu Zeiten des Faschismus und anderen rassistischen Erscheinungsformen der Vergangenheit und Gegenwart vornehmen, was „Relativierungen und Bagatellisierungen des Holocausts zu Folge hat“ (Frohnhöfer, S. 132, [158]). Diese Sichtweise übersieht, dass eine solche Analogiebildung geschichtlich und politisch sehr wohl zulässig und vertretbar sein kann, da ja der Holocaust selbst sich nicht über die gesamten zwölf Jahre faschistischer Herrschaft erstreckte. Ausgrenzungen und Diskriminierungen setzten schließlich nicht erst mit dem Beginn des Genozid ein.
Auf S. 158 macht die Autorin durch ihre distanzierende Wortwahl („…Ungerechtigkeiten, welche terrorverdächtigen Muslimen widerführen …“) deutlich, dass sie nicht die Auffassung des Herrn Ünal teilt, dass nach dem 11.09.2001 Muslime Opfer von Ungerechtigkeiten geworden sind.
Jenseits dieser Anmerkungen und dem Umstand, dass die Thematik des Aufsatzes an sich interessant sein mag, ist doch zu fragen, ob eine Aufnahme in diesen Sammelband noch als gerechtfertigt erscheinen kann, da dieses Teilprojekt thematisch doch viel zu weit von dem Kernthema des Bandes entfernt ist.
Dies kann von dem darauf folgenden Aufsatz „Soziale Gedächtnisse in einer interkulturellen Ehe“ von Monika Malinowska nicht gesagt werden (S. 161 ff.). In diesem Beitrag steht der Umgang mit den Differenzen in unterschiedlichen sozialen Gedächtnissen eines deutsch-polnischen Ehepaares im Zentrum. Die Ehefrau stammt dabei aus der Region Zamość, die mehr als andere Teile des von den Faschisten besetzten Polens zu leiden hatte. Zamość, die Geburtsstadt von Rosa Luxemburg, sollte nach Maßgabe des „Generalplans Ost“ in Himmlerstadt umbenannt werden und wurde nebst seiner Umgebung nicht nur ‚juden-‘, sondern weitgehend auch ‚polenrein‘ gemacht, damit dort den Angehörigen der ‚germanischen Rasse‘ – zu den Profiteuren dieses Plans gehörte u.a. auch die Familie des Ex-Bundespräsidenten Köhler – die Möglichkeit offen stand, ihren Traum vom Herrenmenschentum auszuleben. Pikanterweise ist sie nun mit einem in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts geborenen ehemaligen Jugendaktivisten aus der neonazistischen Szene verheiratet, der nach einer Promotion eine berufliche Karriere gemacht hat, während die ebenfalls studierte Polin, deren Urgroßvater in einem faschistischen Arbeitslager erschossen wurde, als Bürokraft in Teilzeit arbeitet. Der Ehemann hält den Erinnerungen seiner Frau die Geschichte seiner Großmutter entgegen, die sich am 13. Februar 1945 in Dresden aufgehalten hatte, während sein Großvater mütterlicherseits in die – wie er sich ausdrückt – „Raumgewinnung“ (Malinowska, S. 161, [174]) in Polen involviert war (und anschließend in Sibirien über seine Sünden nachdenken durfte).
Fazit
Der Reader stellt insgesamt – trotz der oben aufgezeigten Schwächen – einen nicht uninteressanten Einblick in das Seelen- und Erinnerungsleben einiger Familien dar, wobei es allerdings nicht ausreichend transparent wird, inwieweit die Selektivität bei der Gewinnung sowie der Bearbeitung des vorhandenen Materials eine Verallgemeinerung der Erkenntnisse erlaubt.
Das – ansonsten der Selektivität in Erinnerungen nicht unbedingt geneigte - allbekannte Motto „Kein Vergeben – kein Vergessen“ kann - außerhalb der politischen Sphäre – bei dem vorliegenden Reader bezüglich des mangelnden (oder des mangelhaften?) Lektorats Anwendung finden – wobei zur Eliminierung des auf S. 231 auftauchenden „die ses“ – wie auch des „inneinandergreifender“ auf S. 153 – allerdings auch schon ein einfaches Rechtschreibkontrollprogramm genügt hätte. Es ist schwer nachvollziehbar, dass bei einer Publikation, die immerhin im Rahmen eines von der DFG geförderten Projekts unter Beteiligung von sechs Akademikern – von denen eine sich sogar noch als Lehrende bezeichnet - zustande gekommen ist, nicht ausreichende Mittel zur Verfügung stehen, um einen fehlerfreien Text zu produzieren (vgl. dazu auch S. 82 [„da der Vater … aber bereits Tod ist“], S. 89 [„Frau Walters eigene Generation wäre on den Eltern …“] und S. 179 [„… man deshalb sehr aufpassen müss.“ ).
Rezension von
Prof. Dr. Dr. Jochen Fuchs
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Zitiervorschlag
Jochen Fuchs. Rezension vom 18.01.2012 zu:
Gerd Sebald: Soziale Gedächtnisse. Selektivitäten in Erinnerungen an die Zeit des Nationalsozialismus. transcript
(Bielefeld) 2011.
ISBN 978-3-8376-1879-2.
Reihe: Sozialtheorie.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/12058.php, Datum des Zugriffs 25.01.2025.
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