Martin Hamborg, Hildegard Entzian et al.: Gewaltvermeidung in der Pflege Demenzkranker
Rezensiert von Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind, 30.03.2004
Martin Hamborg, Hildegard Entzian, Siegfried Huhn, Karla Kämmer: Gewaltvermeidung in der Pflege Demenzkranker. Modelle für alle Fälle.
Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft
(Stuttgart) 2003.
103 Seiten.
ISBN 978-3-8047-1984-2.
22,00 EUR.
herausgegeben vom Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Verbraucherschutz des Landes Schleswig-Holstein.
Zur Thematik und Vorgeschichte des Buches
Die Pflegeversicherung hat für die stationäre Altenhilfe eine Reihe von teils tief greifenden Veränderungen mit sich gebracht. Leitbilder, Pflegekonzepte und Qualitätssicherung sind u. a. mittlerweile Vorgaben und Alltag in allen Einrichtungen geworden. Normierungs- und Standardisierungsmodelle, die teils an DIN-Normen der Industrie angelehnt sind, nehmen in unterschiedlicher Gestalt Einzug in die Heime und beeinflussen deutlich merkbar die Handlungs- und Bewertungsabläufe in der Pflege und Hauswirtschaft. Im Mittelpunkt hierbei steht oft die Dokumentation der Pflege einschließlich der Faktoren Pflegeplanung und Evaluation der Pflegehandlungen.
Schulungen spielen in diesem Kontext eine besondere Rolle, gilt es doch, einen normgerechten Umgang mit den Verhaltens- und Dokumentationsweisen herzustellen.
Die vorliegende Arbeit kann in diesen Kontext eingeordnet werden, denn es handelt sich um ein Schulungsprogramm bezüglich des Umganges mit Demenzkranken.
Die Autoren
Martin Hamborg ist Psychologe und arbeitet u. a. als Qualitätsbeauftragter in den Kieler Servicehäusern der AWO. Dr. Hildegard Entzian (Krankenschwester und Diplom-Pädagogin) ist Referentin im Sozialministerium in Kiel. Siegfried Huhn (Krankenpfleger und Gesundheitswissenschaftler) ist freiberuflich in der Erwachsenenbildung mit dem Schwerpunkt Fort- und Weiterbildung in der gerontologischen Pflege tätig. Karla Kämmer (Krankenschwester, Altenpflegerin u. a.) arbeitet ebenfalls freiberuflich in der Beratung und Weiterbildung im Bereich Pflege.
Inhalt
Neben einführenden Beiträgen über die Pflege Demenzkranker als professionelle Herausforderung (Hildegard Entzian) und Selbstpflege und Selbstkontrolle in der Pflege (Siegfried Huhn und Karla Kämmer) besteht der Inhalt aus der Darstellung des Schulungsprogramms (Martin Hamborg).
Das Schulungskonzept basiert auf zwei didaktischen Konzepten: "Teufelskreis" und "Profihaltung". Der Teufelskreis, untergliedert in die fünf Elemente Auslöser, Stress, Beziehung, Milieubedingungen und Krankheitsfilter, kann als eine Negativ-Spirale auf der Grundlage von situationsunangepassten Verhaltens- und Reaktionsweisen der Pflegekräfte auf demenzspezifische Verhaltensweisen (verbale Aggression u. a.) aufgefasst werden. Anhand des "Teufelskreis Frau Müller" werden konkrete Belastungs- und Reaktionsweisen verdeutlicht. In diesem Zusammenhang wird auch Eskalierungsspirale "Durchlauferhitzer" expliziert, um anschließend anhand der "Profihaltung Frau Müller" erwünschte Verhaltensweisen für die Pflege Demenzkranker aufzuzeigen.
Didaktisch umgesetzt wird diese intendierte Modifikation des Pflegeverhaltens durch folgende Konzepte:
- der "professionelle Filter": Wahrnehmung, Gefühle, Bewertung und Pflegehandlungen sollten von fachlichen Aspekten her bestimmt sein
- der "professionell Werkzeugkasten": Vorgehensweisen wie u. a. Milieutherapie, basale Stimulation, Validation oder Gesprächsführung
- die "4 W's der Professionalität" : Wissen, Wollen, Wagen und Werten im Sinne einer professionellen Grundhaltung, die auf Wertschätzung der Demenzkranken, Reflexion und professionellem Vorgehen beruht.
Ein Fragebogen mit 29 Aussagen über das Pflegeverhalten und die Arbeitssituation auf dem Wohnbereich, die vierstufig positiv oder negativ bewertet werden sollen, dient zur Einführung und als Ausgangspunkt der Schulung.
In einem "Modell der Professionalität" werden die Intention und Vorgehensweise des Ansatzes noch einmal zusammengefasst: es geht vorrangig darum, die Pflegemitarbeiter zur Reflexion ihres Handelns zu bewegen und ihnen eine "professionelle Haltung" im Umgang mit den Demenzkranken zu vermitteln.
Kritische Würdigung
Die Themenstellung "Gewaltvermeidung in der Pflege" ist in dieser Publikation recht allgemein und auch unspezifisch dargestellt. Die Bandbreite, was Gewalt bedeutet und ausmacht, ist in den letzten Jahren derart weit geworden, dass von einer eineindeutigen Begrifflichkeit nicht mehr gesprochen werden kann. So bezeichnete z. B. vor einigen Jahren eine Autorin den Sachverhalt der Zuweisung eines Barbetrages (früher "Taschengeld") an Heimbewohner als Ausdruck "struktureller Gewalt". Die in diesem Konzept zentrale Kategorie der "Professionalität" hingegen zeichnet sich durch abstrakt normative Inhalte aus, die eher den Charakter einer Stellenbeschreibung als einer auf genuin menschlichen Verhaltensweisen basierenden Leitkonzeption besitzen.
Die inhärente Dualität von Professionellem und Unprofessionellem auf der Grundlage einer
Vorstellung von "richtigem" oder professionellem Verhalten bietet nicht den Rahmen für Reflexionen des eigenen Handelns, sondern fordert implizit Anpassungsleistungen ein. Der in diesem Programm offerierte "Werkzeugkasten" mit seinem Sammelsurium an diversen Vorgehensweisen wird nach Einschätzung des Rezensenten nicht zu einer Optimierung der Pflege beitragen. Es gilt in der Pflege Demenzkranker vorrangig, den "inneren Werkzeugkasten", das Vermögen unseres sozialen Gehirns u. a. in Gestalt der Intuition, Empathie und Sensibilität zu stärken und zu fördern.
Auch die Praktikabilität des ganzen Schulungsprogramms muss in Frage gestellt werden angesichts der Tatsache, dass für die Durchführung dieser Programms ca. 42 Stunden eingeplant werden sollen, wobei für die Auswertung der Fragebögen am PC allein schon 10 Stunden angegeben werden. Über die Kosten solch einer Veranstaltung werden jedoch keine Angaben gemacht. Dem Rezensenten ist eine Studie aus Skandinavien bekannt, bei der die Pflegekräfte in der Pflege Demenzkranker nur angehalten wurden, sich über ihr konkretes Handeln Gedanken zu machen, ohne dass weitere Schulungen, Fortbildungen etc. angeboten wurden. Bereits nach sechs Wochen waren die problematischen Pflegeverhaltensweisen um 80 Prozent vermindert.
Fazit
Das vorgestellte Programm kann aus vielerlei Hinsicht nicht überzeugen. Es drückt den gegenwärtigen Stand der Vorstellungen über die Pflege Demenzkranker in Deutschland aus, der jedoch leider durch eine Reihe von Fehlentwicklungen für die Praxis in den Heimen keine Bereicherung und Hilfestellung bietet.
Rezension von
Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind
Gerontologische Beratung Haan
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Zitiervorschlag
Sven Lind. Rezension vom 30.03.2004 zu:
Martin Hamborg, Hildegard Entzian, Siegfried Huhn, Karla Kämmer: Gewaltvermeidung in der Pflege Demenzkranker. Modelle für alle Fälle. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft
(Stuttgart) 2003.
ISBN 978-3-8047-1984-2.
herausgegeben vom Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Verbraucherschutz des Landes Schleswig-Holstein.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/1206.php, Datum des Zugriffs 13.10.2024.
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