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Juliane Giese: "Besser als zu Hause rumsitzen"

Rezensiert von Prof. Dr. Marc Thielen, 13.01.2012

Cover Juliane Giese: "Besser als zu Hause rumsitzen" ISBN 978-3-7815-1822-3

Juliane Giese: "Besser als zu Hause rumsitzen". Zur Wahrnehmung und Bewältigung interner Ausgrenzung im Übergangssystem zwischen Schule und Beruf. Julius Klinkhardt Verlagsbuchhandlung (Bad Heilbrunn) 2011. 224 Seiten. ISBN 978-3-7815-1822-3. 24,90 EUR.
Reihe: Analysen und Beiträge zur Aus- und Weiterbildung.

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Thema

Die Studie lässt sich der erziehungswissenschaftlichen Übergangsforschung zuordnen und fokussiert den Übergang von der Schule in den Beruf, der sich in modernen Gesellschaften als eine komplexe Statuspassage erweist, die viel Zeit in Anspruch nimmt und grundsätzlich auch mit der Gefahr des Scheiterns verbunden ist. Da vielen Absolventinnen und Absolventen der allgemeinbildenden Schule der direkte Einstieg in die duale Berufsausbildung misslingt, hat sich in Deutschland ein differenziertes Übergangssystem etabliert. Der Nutzen dieses inzwischen festen Subsystems beruflicher Bildung wird kritisch und kontrovers diskutiert. Die Studie von Juliane Giese greift exemplarisch Bildungsgänge der Berufsfachschule heraus, die in Nordrhein-Westfalen an sogenannten Berufskollegs angeboten werden und wählt eine qualitative Forschungsstrategie. Mit dieser geht sie einem bislang vernachlässigten Thema der Übergangsforschung nach: Dem pädagogischen Alltagsgeschehen. Juliane Giese fragt, wie Schüler/innen und Lehrkräfte den Unterricht in Bildungsgängen erleben, in denen berufliche Kenntnisse und die Fachhochschulreife erworben werden können.

Autorin

Dr. phil. Juliane Giese, Erziehungswissenschaftlerin, ist seit 2007 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Erwachsenenbildung der Ruhr-Universität Bochum. Das in der Reihe „Analysen und Beiträge zur Aus- und Weiterbildung“ erschienene Buch ist die gleichnamige Fassung der 2011 vorgelegten Dissertationsschrift.

Aufbau und Inhalt

Juliane Giese gliedert ihre Studie in sechs Kapitel:

  1. Zum Anlass, Gegenstand und Aufbau der Arbeit
  2. Vom Übergangsproblem zum Übergangssystem
  3. Gegenstand und Methode
  4. Untersuchungsergebnisse
  5. Reflexion der Befunde
  6. Die fortwährende gemeinsame Reproduktion interner Ausgrenzung

In Kapitel 1 geht die Autorin mit Blick auf bereits vorliegende Erkenntnisse davon aus, dass sich Berufsfachschüler/innen der zehnten Klasse im Prozess der Berufs- und Ausbildungswahl durch ein hohes Maß an Teilnahmslosigkeit auszeichnen und das Bildungsangebot des Berufskollegs in einer eigensinnigen, die Intention der Anbieter unterlaufenden Weise nutzen. In Bezug auf den weiteren Verlauf des Bildungsgangs (Klasse 11 und 12) möchte die Untersuchung klären, „ob und wie sich die beschriebenen Einstellungen der Schüler/innen entwickeln bzw. verändern“ (S. 13). Zudem fragt Giese, „wie sich die Repräsentanten der jeweiligen Institutionen auf die den offiziellen Programmen nicht entsprechenden Einstellungen ihrer Nutzer beziehen“ (ebd.).

In Kapitel 2 referiert die Autorin den Forschungsstand und stellt Studien dar, welche die Komplexität und Risiken von Übergangsverläufen aufzeigen, die unzureichende Wirkung institutioneller Berufsberatung problematisieren und Familie und Peers als wesentliche Ratgeber in der Berufswahl herausstellen. Zudem werden ungelöste Probleme auf dem Ausbildungsmarkt reflektiert. In einem weiteren Schritt klärt Giese die quantitative Bedeutung des Übergangssystems und stellt das im Zentrum ihrer Studie stehende Feld der ein- und zweijährigen Berufsfachschule vor. Die unzureichende Berücksichtigung des schulischen Alltags identifiziert sie als Forschungsdesiderat, dem sich ihre eigene Untersuchung zuwendet (S. 33).

In Kapitel 3 begründet Juliane Giese ihre Entscheidung für ein qualitatives Design und reflektiert den theoretischen Zugang, mit dem sie sich der Schüler/innen-Lehrer/innen-Interaktion in der Berufsfachschule (sowie kontrastiv im Berufsgrundschuljahr und im beruflichen Gymnasium) empirisch nähert. Zudem werden die Erhebungsmethoden – Gruppendiskussionen mit Schüler/innen und Lehrer/innen sowie ergänzende Einzelinterviews mit Schulleiter/innen – vorgestellt. Schließlich erfolgt eine Erläuterung der Auswertungsstrategie, die sich an der dokumentarischen Methode orientiert.

In Kapitel 4 werden die Untersuchungsergebnisse dargestellt und an Auszügen aus den Gesprächsanalysen veranschaulicht. Juliane Giese resümiert, dass eine Schulwahl im Sinne eines kundigen Abwägens konkurrierender Möglichkeiten kaum stattgefunden habe. Zudem bereite der schulische Alltag den Schüler/innen in den an sie gestellten Anforderungen Probleme, die entweder offen angesprochen und im Lehrerhandeln begründet, oder nur angedeutet und auf individuelle Aneignungsprobleme zurückgeführt würden. Eine Zukunftsplanung habe bei vielen Schülerinnen und Schülern indes noch nicht stattgefunden. In Bezug auf die Schüler-Lehrer-Interaktion zeigt Juliane Giese, dass „die Frage, ob der schulische Rahmen (zumindest formal) aufrechterhalten werden kann oder nicht, […] wesentlich von den Erwartungen der beteiligten Akteure im Interaktionssystem ab[hängt]“ (S. 140).

In Kapitel 5 vergleicht die Autorin ihre Befunde mit bereits vorliegenden Erkenntnissen. Giese schließt sich der These an, dass die Berufswahl als Prozess gesehen werden müsse (S. 149) und konstatiert, dass die von ihr befragten Schüler/innen in einer zeitlich ausgedehnten Phase diffuser Berufsorientierung verharrten und zudem oftmals eine instrumentelle und statusorientierte Berufswahl träfen (S. 150). Zudem wird die Wahrnehmung des schulischen Alltags diskutiert: Aus der Schüler/innenperspektive werden Themen wie Aufgaben und Sinn der Schule, Leistung in der Schule, das Schüler-Lehrer-Verhältnis oder Erklärungsmuster für Versagen und Erfolg beleuchtet. Aus der Perspektive der Lehrkräfte geht es um Themen wie Prioritäten im schulischen Alltag, Erklärungsmuster für Versagen und Erfolg oder das Verhältnis von Fördern und Auslese.

In Kapitel 6 skizziert Giese den pädagogischen Alltag als eine „fortwährende gemeinsame Produktion interner Ausgrenzung“ (S. 197). Intern ausgegrenzt sind die Schüler/innen deshalb, da sie zunächst noch an weiterer Schulbildung partizipieren und erst im Falle des Nichterreichens eines höheren Schulabschlusses oder eines Ausbildungsplatzes exkludiert werden. Juliane Giese vertritt vor diesem Hintergrund die These, „dass der schulische Rahmen insgesamt von Schüler/innen und Lehrer/innen gemeinsam unterlaufen und gerade dadurch (modifiziert) aufrechterhalten wird“ (S. 197f). Als verbindendes Glied zwischen Schüler/-innen und Lehrkräften, die sich wechselseitig ein hohes Maß an Fremdheit zuschreiben, markiert Giese das Motto „nicht zu Hause rumsitzen“ und führt hierzu aus: „Die Schüler/innen wollen es für sich nicht in Kauf nehmen, die Lehrer/innen wollen es den ‚jungen Menschen‘ nicht zumuten.“ (S. 207) Vor diesem Hintergrund begegneten sich Schüler/innen und Lehrkräfte in einem „Rahmen des (zumindest tendenziell) Vergeblichen“ (ebd.).

Diskussion

Mit der Fokussierung auf den Alltag nimmt Juliane Giese einen bislang in der Übergangsforschung in der Tat vernachlässigten Fokus ein. Im Rückgriff auf ihr qualitatives Forschungsdesign gelingt es ihr, einen fundierten Einblick in die Wahrnehmung des schulischen Alltags aufseiten der beteiligten Akteure zu eröffnen. Dies geschieht in Form von ausführlichen und differenzierten Interviewanalysen, die in sprachlich angenehmer Weise aufbereitet sind und eine Nachvollziehbarkeit der im Zuge der Auswertung generierten Erkenntnisse gewährleisten. Demgegenüber enttäuscht die Ergebnisreflexion ein wenig, da das Rezitieren von Interviewpassagen aus empirischen Studien anderer viel Raum einnimmt. Zudem beschränkt sich die Argumentation an einigen Stellen auf die Frage, ob der vorliegende Forschungsstand bestätigt wird oder nicht. Durchaus strittigen Positionen – etwa der Konzeptualisierung von Berufswahl als lineares Phasenmodell – wird implizit gefolgt, ohne dass divergierende Perspektiven – etwa der subjektorientierten Übergangsforschung –, welche auf die grundsätzliche Komplexität und Diversität des Übergangsgeschehens verweisen, berücksichtigt werden.

Völlig zu Recht vertritt Juliane Giese die Auffassung, dass ihre Studie ethnografische Züge hat, da ein „gewissermaßen ‚lebendiges‘ Bild vom ‚Alltag‘ und von erheblichen Problemen“ (S. 13) in einem bislang kaum beleuchteten Segment des Bildungssystems gezeichnet wird. Vor diesem Hintergrund ist das Buch Lehramtsanwärterinnen und -anwärtern ebenso zu empfehlen wie Studierenden anderer pädagogischer Fachrichtungen, die sich für das Feld des Übergangs von der Schule in den Beruf interessieren. Auch Praktikerinnen und Praktikern im Übergangssystem verhilft die Studie möglicherweise zu einer Reflexion ihrer Tätigkeit und ihrer Deutungsmuster. Einen Aspekt gilt es jedoch meines Erachtens zu berücksichtigen: Über Interviews erfährt man nur vermittelt etwas über das Alltagsgeschehen. Zudem ist ein nicht unerheblicher Teil alltäglicher Praktiken den Akteuren selbst gar nicht bewusst. Insofern regt Gieses Untersuchung dazu an, noch einen Schritt weiterzugehen und dezidiert ethnografische Arbeiten anzustrengen, die den pädagogischen Alltag im Übergangssystem mittels systematisierter teilnehmender Beobachtung beleuchten.

Rezension von
Prof. Dr. Marc Thielen
Universität Bremen, Fachbereich 12 Erziehungs- und Bildungswissenschaften, Arbeitsbereich Bildungsinstitutionen/-verläufe und Migration
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Es gibt 2 Rezensionen von Marc Thielen.

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ISSN 2190-9245