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Doris Bühler-Niederberger: Lebensphase Kindheit

Rezensiert von Prof. Dr.med. Dipl.Psychol. Karla Misek-Schneider, 10.10.2012

Cover Doris Bühler-Niederberger: Lebensphase Kindheit ISBN 978-3-7799-1488-4

Doris Bühler-Niederberger: Lebensphase Kindheit. Theoretische Ansätze, Akteure und Handlungsräume. Juventa Verlag (Weinheim) 2011. 240 Seiten. ISBN 978-3-7799-1488-4. 19,95 EUR. CH: 30,50 sFr.
Reihe: Grundlagentexte Soziologie.

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Thema

Das Buch liefert eine kompakte Übersicht über grundlegende Sichtweisen einer modernen Soziologie der Kindheit. Bis vor 20 Jahren stand die Kindheitsforschung immer am Rande des soziologischen Interesses; wenn überhaupt, dann befasste sich diese fast ausschließlich mit der Sozialisation und den Bedingungen des Aufwachsens in der jeweiligen Gesellschaft. Erst in den letzten 20 Jahren hat sich die sozialwissenschaftliche Forschung den Kindern selbst zugewandt und es sind zahlreiche Studien über Kinder, Ihre Lebenslagen, ihre Handlungsmöglichkeiten und -grenzen und das kindliche Erleben entstanden. Eine systematische Einführung in diese moderne soziologische Kindheitsforschung soll mit diesem Buch geleistet werden.

Autorin

Prof. Dr. Doris Bühler-Niederberger ist Professorin für Soziologie der Familie, Jugend und Erziehung an der Bergischen Universität Wuppertal. Ihren Schwerpunkt bilden Forschungsprojekte und Publikationen rund um das Thema „Soziologie der Kindheit“. Sie war Präsidentin der internationalen Gesellschaft „sociology of childhood“ und ist Sprecherin der entsprechenden nationalen Sektion der deutschen Gesellschaft für Soziologie; weiterhin ist sie in zahlreichen Herausgeber- und Beiratschaften und Gutachtertätigkeiten einbezogen.

Entstehungshintergrund und Zielsetzung

Das Buch ist erschienen in der Reihe Grundlagentext Soziologie des Juventa Verlags und versteht sich dementsprechend als durchaus programmatisch gefärbte Präsentation der wichtigsten theoretischen Ansätze, methodischen Zugänge und sozialwissenschaftlichen Analysen zum Thema Kindheit. Es soll eine aktuelle umfassende Einführung in sozialwissenschaftliche Kindheitsforschung geleistet werden, wobei primär soziologisch orientierte Sichtweisen und Kultur- sowie historische Epochen einbeziehende Blickwinkel betont werden.

Die Autorin mahnt an, dass bis in die 1990er Jahre sozialwissenschaftliche Forschung sich vorrangig mit der Sozialisation von Kindern beschäftigte und weniger mit den Kindern selbst, ihren Sichtweisungen oder ihren Handlungen. Diese Perspektiven sollen dieser systematischen Einführung einbezogen und der Kindheitsforschung ein zentraler Platz in der Soziologie zugewiesen werden. Ein weiteres Ziel der Verfasserin liegt in der Beschreibung und historischen und empirischen Herleitung des Konzeptes einer „behüteten und langen Kindheit“ als normatives Muster und den gesellschaftlichen und politischen Folgen, die eine solche Sichtweise auslöst. Ausgehend von diesen Ausführungen möchte sie ein theoretisches Modell vorstellen, das Kindheitsforschung eng mit der Analyse von Gesellschaft verbindet und zu weiteren Überlegungen und Forschungsarbeiten Anregung geben soll.

Aufbau

Das Buch gliedert sich in 2 große Teile mit insgesamt 6 Kapiteln.

  1. Der ersten Teil (Teil I) ist überwiegend beschreibend und versucht ein anschauliches Bild von Kindheit heute und ihrer historischen Entwicklung zu geben, wobei der Leitgedanke einer langen und behüteten Kindheit als normatives Muster und den Vor- und Nachteilen, die eine solche enge Vorstellung von Kindheit beinhaltet, sich als roter Faden durch die Kapitel zieht.
  2. Im zweiten Teil (Teil II) dann stehen Konzepte, theoretische Modelle und kritische Reflexionen im Mittelpunkt; es wird eine moderne Soziologie der Kindheit aus Sicht der Autorin vorgestellt, die das normative Muster einer langen und behüteten Kindheit als Kern eines theoretischen Konzeptes der sog. „generationalen Ordnung“ definiert und diskutiert. Zu den jeweiligen Positionen und Ansätzen werden relevante Datenquellen und empirische Studien vorgestellt.

Jedes Kapitel endet mit einer kritisch Würdigung der vorangegangenen Ausführungen in Form eines Fazit und der Diskussion von angeführten Studien oder Modellen.

Ein ausführliches Literaturverzeichnis findet sich am Ende des Bandes. Ein Stichwortregister fehlt; ebenso Hinweise auf wissenschaftliche Institutionen und Fachgesellschaften

Inhalt

Im ersten Kapitel beschäftigt sich die Autorin mit der gegenwärtigen Situation von Kindern und Familien in Deutschland. Sie zeigt auf, dass eine lange und behütete Kindheitsphase sowohl als ein sog. normatives Muster für viele politische und gesellschaftliche Handlungen richtungs- und zielführend ist, aber auch für die meisten Kinder in unserem Land Wirklichkeit darstellt. Hier findet die Leserschaft eine reichhaltige Zusammenstellung von empirischen Studien über den Wandel von Familienstrukturen, über unterschiedliche Qualitäten des Aufwachsens, über die Verteilung von Bildungschancen und über Kinderarmut. Im Fazit dieses Kapitels wird kritisch konstatiert, dass gerade ein solches normative Kindheits-Muster Ungleichheit und Exklusion begünstigt, zumal dieses in politischen Diskussionen nicht als Ergebnis eines gesellschaftliche Konstruktionsprozess sondern als Folge von quasi biologischen, naturgegebenen Bedürfnissen von Kindern dargestellt wird.

Im zweiten Kapitel geht die Autorin der Frage nach, ob dieses normative Muster einen langen und behüteten Kindheit auch internationale Gültigkeit beansprucht, Auf sehr anschauliche Art und Weise wird die Ungleichheit – die Autorin nennt es auch die Vielfalt (S.53)- von Kindheiten in verschiedenen Ländern und Kulturen beschrieben, so z.B. in Kirgistan, Äthiopien usw. Der Prozess der Durchsetzung internationaler Normen und Standards des Aufwachsens und seiner Bedingungen wird hier aus mehreren Perspektiven diskutiert und die Messgrössen von großen Studien zur Situation von Kindern in anderen Ländern, z.B. die MIC – Studies, multiple indicator cluster surveys, von Unicef oder auch anderen internationalen Organisationen, in ihrer Einseitigkeit und ihrem Mangel an Offenheit für Variationen in den jeweiligen Kulturen kritisch reflektiert. Im Fazit dieses Kapitels wird u.a. die provokante Frage gestellt, was dieses normative Muster von Kindheit und das damit verbundene Ziel, dieses weltweit umzusetzen, so attraktiv macht.

Im dritten Kapitel wird durch die Illustrierung der Geschichte von Kindheiten im Laufe der menschlichen Entwicklung dieser Frage weiter nachgegangen. Am Beispiel von fünf geschichtlichen Epochen zeigt die Autorin folgende vier Entwicklungslinien des gesellschaftlichen Umgangs mit Kindern und Kindheiten in Europa auf:

  1. eine zunehmende Separation und die Zuschreibung einer schützenswerten Sonderrolle für Kinder.
  2. eine emotionale Höherbewertung von Kindern getragen in erster Linie durch kulturelle Werte( „…Kinder als höchstes Gut der Gesellschaft…“, S. 70)
  3. eine zunehmende Freisetzung des Kindes aus der Familie und deren Ansprüchen und
  4. die Einführung spezieller Erziehungsziele der sog „Ordnungsfähigkeit „( S.70) , wie die Autorin es nennt, die da wären : Autonomie, Selbstregulation und Flexibilität.

Im Teil II des Buches liegt der Schwerpunkt auf Kindheitssoziologischen Konzepten und Sichtweisen; so werden im vierten Kapitel zunächst die wichtigsten Sozialisationstheorien und ihre VertreterInnen (Durkheim, Parsons, Mead) vorgestellt und in die sozialwissenschaftlichen Diskussionszusammenhänge eingebunden; ebenso werden verschiedene Ansätze und Ergebnisse empirischer Sozialisationsforschung im Bereich Kindheit und Familie referiert.

Im fünften Kapitel werden die Zugänge und Grundlagen zu einer modernen Soziologie der Kindheit beschrieben, so z.B. die soziokulturelle Perspektive, die Sichtweise von Kindern als Akteure und das Konzept der generationalen Ordnung sowie das der Konstruktion und Dekonstruktion von Kindheit ( S.173). Empirische Studien und Ergebnisse und auch weiterführende Forschungsfragen ergänzen diese Ausführungen.

Im sechsten Kapitel schließlich zieht die Autorin eine Synthese und gibt einen Ausblick, indem sie das theoretische Konzept der generationalen Ordnung eng mit dem Konzept des Kindes als sozialer Akteur verknüpft. Dieses von Frau Bühler-Niederberger selbst entworfene Modell, das auch deutlichen Bezug zum aktuellen Forschungsstand zeigt und eigentlich die Quintessenz der bis dahin gemachten Ausführungen darstellt, findet sich leider nur als eher unscheinbar daherkommende Skizze über „Strukturen und Akteure von Kindheit“ auf der allerletzten Seite des Textes.

Diskussion

Um es gleich vorweg zu sagen, der Autorin ist ein tiefgehendes, informatives und anregendes Buch gelungen, das das Kaleidoskop von den in den letzten Jahren erschienenen Büchern zur Kindheitsforschung um eine grundlegende und wesentliche Facette erweitert. Insbesondere die Leserschaft, die in den bisherigen Diskussionen über Kindheitsforschung kritische Reflexionen über Konzepte und weitergehende gesellschaftliche Analysen bzw. die Verknüpfung von Konzepten der Kindheitsforschung mit umfassenderen sozialwissenschaftlichen und soziaphilosophischen Diskursen vermisst hat, wird nicht enttäuscht werden.

Dem Anspruch eine Grundlagentextes wird das Buch im wahrsten Sinne des Wortes gerecht, die referierten Modelle, Theorien und empirische Studien, die kritischen Reflexionen z.B. auch über die Ansprüche und Zielsetzungen größerer Institutionen, wie z.B. der UNICEF, schaffen sozusagen die Basis zum Verständnis und zur Einordnung aktueller Trends und Themen in der Kindheitsforschung. Die engagierten Positionen werden bestechend vorgetragen und mit brillianten Argumentationen gestützt. Das Plädoyer für eine stärkere kulturelle Offenheit in der Kindheitsforschung für Diversität und Partizipation ist gelungen und mitreißend. Zwar muten an einigen wenigen Stellen die Ausführungen etwas sehr umfangreich und dadurch etwas langatmig an, das tut jedoch dem sehr anregenden Schreibstil keinen Abbruch. Lediglich das letzte Kapitel und insbesondere das dort auf der allerletzten Seite in einer nicht sehr spektakulären Skizze hätte etwas mehr redaktionelle Aufmerksamkeit verdient und zeigt, dass die Autorin vielleicht etwas zu bescheiden mit ihren Überlegungen und Schlussfolgerungen umgeht.

Fazit

Das Buch bietet eine hervorragende Sammlung grundlegender soziologischer und sozialwissenschaftlicher Theorien, Konzepte und Forschungsergebnissen zur Lebensphase Kindheit und eröffnet Zugänge zu Reflexionen über Zusammenhänge zwischen Kindheitsforschung und übergeordneten gesellschaftlichen Entwicklungen. Es ist keine ganz leichte Kost, vorrangig geschrieben für Wissenschaftler und Studierende höherer Semester mit Diskutier- und Denk-Lust und Interesse an weiterführenden Fragestellungen. Es vermittelt sowohl Grundlagenwissen und Informationen über Modelle und Positionen und lässt den Leser und die Leserin aber auch teilhaben an der Leidenschaft der Autorin für das Fach der Soziologie und Sozialwissenschaften. Ein lesenswertes Buch.

Rezension von
Prof. Dr.med. Dipl.Psychol. Karla Misek-Schneider
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Es gibt 19 Rezensionen von Karla Misek-Schneider.

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ISSN 2190-9245