Yvonne Niekrenz, Matthias D. Witte (Hrsg.): Jugend und Körper
Rezensiert von Prof. Dr. Christian Beck, 13.12.2011
Yvonne Niekrenz, Matthias D. Witte (Hrsg.): Jugend und Körper. Leibliche Erfahrungswelten.
Juventa Verlag
(Weinheim) 2011.
292 Seiten.
ISBN 978-3-7799-1758-8.
29,95 EUR.
CH: 43,50 sFr.
Reihe: Jugendforschung.
Thema
Der vorliegende Sammelband geht das Thema „Jugend und Körper“ aus Sicht verschiedener Disziplinen an: Vorrangig vertreten sind die Soziologie und die Erziehungswissenschaft; aber auch Psychologie, Sport- und Bewegungswissenschaft, Medien- und Kommunikationswissenschaft tragen ihre Perspektiven bei, ebenso ein kulturwissenschaftlicher Ansatz. Wert gelegt wird auf die Breite einschlägiger Forschungsergebnisse. Dabei beleuchten die AutorInnen eine Fülle an Facetten des Themas – bis hin zu erst neuerdings diskutierten oder ausdifferenzierten Aspekten („Gehirnentwicklung Jugendlicher“, „Androgynität und Gender-Switching“, „Körperpraktiken Jugendlicher im ‚sozialen Brennpunkt‘“).
Herausgeberin und Herausgeber
Dr. Niekrenz ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Soziologische Theorien und Theoriegeschichte an der Universität Rostock. Dr. Witte ist Professor für Pädagogik des Abenteuers und Jugendforschung an der Universität Marburg.
Entstehungshintergrund
Niekrenz und Witte begründen ihre Publikation mit dem Mangel an einschlägiger Literatur. Ausgehend von der Soziologie zeigen sie die lange Zeit dauernde Randständigkeit des Themas Körper und andererseits das in den letzten Jahren erwachte Interesse daran – in der Jugendforschung sei diese Wende aber bisher kaum angekommen; jedenfalls wenn man eine systematische Darstellung erwarte. Ohne diesen Anspruch gleich einlösen zu wollen, sehen Niekrenz und Witte „dringend das Gebot einer interdisziplinär angelegten Forschungsperspektive“, wie sie der vorliegende Sammelband umreißt (S. 11).
Aufbau
Auf einen einleitenden Beitrag von Niekrenz und Witte folgen 16 Beiträge, die fünf Teilen zugeordnet sind; jeder Teil umfasst drei oder vier Beiträge (von je etwa 15 Seiten).
Inhalt
Die einzelnen Teile tragen bildhafte Überschriften: Die Rede ist vom Jugendkörper als dem „bewegten“, „konflikthaften“, „gestalteten“, „entgrenzten“ und „begrenzten“ Jugendkörper. Der vorangehende Einleitungsbeitrag von Niekrenz und Witte klärt die „Bedeutung des Körpers in der Lebensphase Jugend“ – dabei stellt er auch ausführliche Zusammenfassungen der folgenden Beiträge vor (auf S. 11-19).
Eine erste theoretische Unterscheidung führt der Einleitungsbeitrag mit Helmuth Plessners philosophisch-anthropologischer Unterscheidung von „Leib“ und „Körper“ ein: in der Verschränkung von Leib-Sein und Körper-Haben, der Unmittelbarkeit des Fühlens und Spürens einerseits sowie der Reflexivität und Instrumentalität andererseits. Einzelne der folgenden Beiträge greifen diese Unterscheidung ebenfalls auf – eine durchgehende Theorielinie gibt es jedoch nicht.
Nimmt man die Überschrift des ersten Teils, „Bewegte Jugendkörper“, und betrachtet die Titel der drei darunter versammelten Beiträge, dann zeigt sich sogleich der metaphorische, mehrdeutige Charakter der übergeordneten Überschriften. Zum Ersten geht es um den Wandel des „pubertierende[n] Körpers aus bio-psycho-sozialer Perspektive“ (Rolf Göppel), zum Zweiten um „Die Achterbahn der Gefühle“, gesehen im Zusammenhang mit der Gehirnentwicklung (Anne-Katharina Fladung), und zum Dritten handelt ein Beitrag von „Jugendliche[n] Bewegungskulturen in urbanen und naturnahen Räumen“ (Jürgen Schwier).
Dass Spannungen und Konflikte im Jugendalter ausgeprägt sind, macht der zweite Teil gleichsam dadurch deutlich, dass er der umfangreichste ist. Der Körper wird hier, wiederum metaphorisch, als „Bühne und Austragungsort“ verstanden (Einleitungsbeitrag, S. 13). Vera King greift die Frage nach dem Verhältnis von Leibsein und Körperhaben auf, das „durch die körperlichen Veränderungen der Adoleszenz auf charakteristische Weise in beunruhigende Unordnung versetzt“ werde: „Dieses Ding hier soll mein Leib sein?“ (S. 83; Hervorhebung im Original). Weitere Beiträge gelten den Aspekten Essstörungen, Selbstverletzung sowie Aggressivität und Gewalt.
Der dritte Teil, „Gestaltete Jugendkörper“, widmet sich dem Körper als Präsentationsmedium. Im ersten Beitrag untersucht Imke Schmincke das derzeitige Körper-Schönheitsideal Jugendlicher: „schlank, unbehaart und (hetero-)sexuell begehrenswert“, das sich aus körpersoziologischer Sicht als ein sehr enges normatives Konzept erweise (S. 153). Eigens diskutiert Schmincke das Phänomen der Körperenthaarung, das bis zur Rasur des Schamhaars reicht, dem „Inbegriff eines neuen Jugendtrends“ (S. 150). Zwei weitere Beiträge befassen sich mit den Themen Kleidung sowie Tätowierungen und Piercings.
Zeigte Schmincke die Enge und Normativität eines Körperideals, so geht es im vierten Teil um Entgrenzung und Neuordnung, und zwar im ersten Beitrag bezüglich der Auseinandersetzung Jugendlicher „mit medial präsentierten Bildern von Körpern“ (Dagmar Hoffmann, S. 191). Niekrenz betrachtet sodann den „Rausch als körperbezogene Praxis“ und fragt, welche Funktion solcher Grenzerfahrung in der Lebensphase Jugend zukommt, sowohl individuell als auch kollektiv. Zum Dritten beleuchtet Barbara Stauber aus einer Gender-Perspektive die Variation von Geschlechtergrenzen, konkretisiert am Beispiel der Emo-Szene.
„Beschränkungen und Barrieren“ nimmt der letzte Teil des Bandes in den Blick (Einleitungsbeitrag, S. 18): hier zuerst in der “Begrenzung von Daseinsmöglichkeiten“ durch Geschlechternormen, die etwa als Zwang zur Befolgung „der binären und heterosexuellen Ordnung“ erlebt werden könne – die aber auch produktive Verarbeitung mit sich bringen könne (Anke Abraham, S. 242; Hervorhebung im Original). Ein weiterer Beitrag geht „dem Einfluss rassifizierender Zuschreibungen“ nach (Ulrike Marz, S. 256), und schließlich untersucht Witte „den Zusammenhang zwischen jugendlichem Körper und dem Leben in einem sozial benachteiligten Stadtteil“ (S. 274).
Eine Facette des Buchthemas, die in vielen der Beiträge Gewicht hat, ist die Dimension „Geschlecht“: sei es beispielsweise betrachtet als Prozess der „Vergeschlechtlichung“ in der Adoleszenz (King), als soziale Vorgaben für die Darstellung und Verkörperung von Geschlecht (Schmicke), etwa in „Herstellungsformen von Männlichkeiten“ (Stauber, S. 229), speziell als Inszenierung von Männlichkeit durch Aggressivität und Gewalt (Benno Hafeneger), oder in der Selbstexploration und körperlichen Selbstakzeptanz von Mädchen in der Auseinandersetzung mit medialen Bildern (Hoffmann).
Diskussion
Dem Band ist es gelungen, seinen Anspruch einzulösen (Breite der Darstellung, Präsentation aktueller Forschungsergebnisse, Fragen für künftige Forschung). Auf Literatur greifen die AutorInnen dabei fast durchweg in überschaubarem Maße zurück: Ihnen genügen meist eine bis zwei Seiten – auch abhängig vom jeweiligen Forschungsstand -; eine Ausnahme bildet der Artikel zur Gehirnentwicklung, hier wird mit sieben Seiten ein wahrer Schatz präsentiert.
Wie es der unterschiedlichen fachlichen Herkunft der AutorInnen entspricht, fallen die theoretischen Rahmungen der Beiträge vielfältig und sehr unterschiedlich aus. Bemerkenswert ist, dass auch neue Rahmungen erprobt werden: so im Beitrag über Selbstverletzung; Katharina Liebsch versucht hier eine sozialwissenschaftliche, im engeren Sinne soziologische Perspektive zu gewinnen – zu einem Thema, das in der Literatur meistens aus der Perspektive der Medizin und der Psychiatrie behandelt wird.
Eine Schwierigkeit ist es, beim gegenwärtigen Stand eine übergreifende theoretische Perspektive zu formulieren. Das zeigt sich in den eher metaphorischen Überschriften der einzelnen Teile des Bandes. Zwar sind sie nur vage beschreibend, geben aber doch auf den ersten Blick eine genügende Orientierung und Struktur. Eine weitere Hilfe, um Beiträge je nach Leseinteresse auswählen zu können, sind die recht ausführlichen Zusammenfassungen im Einleitungsbeitrag.
Fazit
Der Band trägt zum Thema Jugend und Körper eine Vielfalt an Facetten zusammen, die man sonst nur verstreut in der Literatur findet. Zudem gemessen an Aktualität und Verständlichkeit der Darstellung eignet sich der Band für alle LeserInnen mit sozial- oder erziehungswissenschaftlichem Interesse am Thema.
Rezension von
Prof. Dr. Christian Beck
Pädagogische Forschung und Lehre
Website
Es gibt 53 Rezensionen von Christian Beck.
Zitiervorschlag
Christian Beck. Rezension vom 13.12.2011 zu:
Yvonne Niekrenz, Matthias D. Witte (Hrsg.): Jugend und Körper. Leibliche Erfahrungswelten. Juventa Verlag
(Weinheim) 2011.
ISBN 978-3-7799-1758-8.
Reihe: Jugendforschung.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/12078.php, Datum des Zugriffs 25.01.2025.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.