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Horst Hensel: Brot und Spiele

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 13.06.2012

Cover Horst Hensel: Brot und Spiele ISBN 978-3-8196-0794-3

Horst Hensel: Brot und Spiele. Sätze über politische Ökonomie und den Preis der Kunst. Universitätsverlag Brockmeyer (Bochum) 2011. 224 Seiten. ISBN 978-3-8196-0794-3. 14,90 EUR.

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Die Gesellschaft verkümmert zum Markt, der Lebenslauf der Einzelnen zum Wirtschaftsprozess

Gesellschafts- und Kapitalismuskritik artikuliert sich in zahlreichen Facetten und Programmatiken. Autoren wie Elmar Altvater, Werner Berschneider, Norbert Blüm, Moritz Gekeler, John Holloway, Markus Holzinger, Dirk Lange, Ian Morris, Tilmann Moser, Joseph S. Nye, Elinor Ostrom, Joachim Radkau, Jeremy Rifkin, Saral Sarkar, Thomas Sedlacek, Peter M. Senge, Bernhard H. F. Taureck, Joseph Vogl, Karl Georg Zinn, Christoph Zöpel (um nur einige zu nennen, die zur Thematik in Socialnet rezensiert wurden), gehen mit unterschiedlichen Analysen und Forderungen nach Reformen und Revolutionen daran, den „Raubtierkapitalismus“ (Peter Jüngst, „Raubtierkapitalismus“? Globalisierung, psychosoziale Destabilisierung und territoriale Konflikte, Gießen 2004, 262 S., in: socialnet Rezensionen, www.socialnet.de/rezensionen/1787.php) auf den Misthaufen der Geschichte zu werfen. Allen Kritiken am bestehenden, neoliberalen Wirtschafts- und Gesellschaftssystem ist gemeinsam, dass ein Wirtschaften als „business as usual“ und ein Wachstumsdenken als „throughput growth“ (vgl. dazu: Brundtlandbericht Our Common Future / Unsere Gemeinsame Zukunft, 1987) nicht mehr möglich ist, soll die Menschheit human überleben, und dass es eines Perspektivenwechsels bedarf, wie ihn dramatisch die Weltkommission „Kultur und Entwicklung“ 1995 gefordert hat: „Die Menschheit steht vor der Herausforderung zumzudenken, sich umzuorientieren und gesellschaftlich umzuorganisieren, kurz: neue Lebensformen zu finden“ (Deutsche UNESCO-Kommission, Unsere kreative Vielfalt, Bonn, 2., erweit. Ausgabe 1997, S. 18). Es sind die Herausforderungen, wie sie sich im Überdenken des Seins und Habens (Erich Fromm) darstellen, als Wandlungsprozesse vom homo oeconomicus hin zum homo empathicus gedacht werden (Jeremy Rifkin, Die empathische Zivilisation. Wege zu einem globalen Bewusstsein, 2010, www.socialnet.de/rezensionen/9048.php) und wie sie sich in Ergebnissen der Glücksforschung und den Bedenklichkeiten für Genügsamkeit menschlichen Lebens zeigen.

Entstehungshintergrund und Autor

„Brot & Spiele“ ist eine Replik auf die historische Mahnung „panem et circenses“, die der römische Satiriker Decimus Iunius Iuvenalis den Menschen in seiner Zeit vorhielt, sich von den Herrschenden und Mächtigen nicht mit (Zirkus-)Spielen abspeisen und ablenken zu lassen, sondern sich darauf zu besinnen, dass sie selbst es sind, die für den Lebensunterhalt und die eigenen Freiheiten sorgen müssten. Die Metapher eignet sich somit auch für die Forderung „Wir sind das Volk“, und die Aufklärung, dass Freiheit, soziale Gerechtigkeit und ein gutes Leben aller Menschen auf der Erde Grundvoraussetzungen für ein humanistisches Weltbewusstsein sind (vgl. dazu auch: Oliver Kozlarek, Moderne als Weltbewusstsein. Ideen für eine humanistische Sozialtheorie in der globalen Moderne, www.socialnet.de/rezensionen/12558.php). Die Bestandsaufnahmen bringen es an den Tag, dass die Sorge, das Kapital und die Ökonomie könnten die Politik verdrängen oder eher vereinnahmen, sich im kapitalistischen und neoliberalen Denken und Handeln längst bestätigt hat. Der „Superkapitalismus“, wie der Wirtschaftswissenschaftler von der University of California, Robert Reich, die globale ökonomische Entwicklung nennt. Die Selbstverständlichkeiten, mit denen das Kapital „auf alle materiellen und immateriellen Güter der Gesellschaft“ zugreift und damit „das gesamte gesellschaftliche Leben, alle Subsysteme, alle sozialen, kulturellen und politischen Prozesse nach Verwertungsgesichtspunkten zu formieren trachtet“, werden immerhin, angesichts des kapitalistischen Sieges, dass die Habenichtse immer ärmer und die Wohlhabenden immer reicher werden, lokal und global, immer deutlicher in Frage gestellt, wie auch die Erkenntnis wächst, dass es einen „sozial gerechten Kapitalismus“ nicht gibt.

Der aus einer Bergarbeiterfamilie des Ruhrgebiets stammende Horst Hensel weiß, wovon er spricht, wenn er die Forderung nach „Brot & Spiele(n)“ aufstellt. Der Volksschüler und gelernte Elektrohandwerker hat über den zweiten Bildungsweg Politik, Geschichte, Wirtschaft und Pädagogik in München und Dortmund studiert, promoviert, als Lehrer in einer Gesamtschule gearbeitet und ist als Lehrbeauftragter und Gastdozent an mehreren Hochschulen in Deutschland und China tätig. Im „Werkkreis Literatur und Arbeitswelt“ hat er seine Schreibe geschult, und im Lokalradio Antenne Unna in NRW zu Gehör gebracht. Als Schriftsteller kommt ihm die Fähigkeit, auch schwierige und komplizierte Sachverhalte mit einer verständlichen Sprache darzustellen, zugute, was er auch mit seinem Essay beweist. Es sind in der Tat „Sätze“ die sitzen und nicht in erster Linie Antworten auf Fragen des alltäglichen und gesellschaftlichen Daseins geben, sondern zum Nach- und Selbstdenken anregen (vgl. dazu auch: Karl Heinz Bohrer, Selbstdenker und Systemdenker. Über agonales Denken, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/12903.php).

Aufbau und Inhalt

Es sind die Zusammenhänge zwischen Schaffen und Schauen, zwischen Sein und Scheinen, zwischen Schlamassel und Schmarotzen, zwischen Schmieren und Schröpfen, zwischen Schunkeln und Schwadronieren, zwischen Schwindeln und Schlichten, die der Autor herstellt und damit den totalitären Kapitalismus an den Pranger stellt, nicht mit der Keule, sondern mit einem Haiku, einer traditionellen japanischen Gedichtform, die mittlerweile auch im deutschen lyrischen Schaffen Eingang gefunden hat und in der sich in kurzen Dreizeilern Sachen und Tatsachen auf den Punkt bringen lassen. Kann man mit Diskussionen über Kunst.

Die (ästhetische) Tätigkeit des Ver- und Auspackens dient dem Autor dazu, über den Zusammenhang von Kunst und Geschäft zu reflektieren und dies am „Wrapped Reichstag“, dem Kunstprojekt des Künstlerehepaares Christo, zu diskutieren und auf die ökonomischen Wert- und Bestandsvorstellungen unserer Zeit zu verweisen.

Die eher nebensächlich, aber aus- und aufgreifend, verschachtelt geführte Plauderei „Was Bücher kosten“, über Hölderlin, Goethe, Rosa Luxemburg, Brecht, Benn, Ezra Pound, Heinrich Böll, Cormac McCarthy…, haben ja „nur“ den Sinn, darüber zu spekulieren, ob „der Dichter dem Denker weit voraus ist und es besser weiß“, oder nicht und wieso.

Hensels Reflexionen über „realistisch schreiben und Partei ergreifen“ machen 80 Seiten des Buches aus. Es geht über Nachdenklichkeiten, Ereignisse und Erfahrungen, die der Autor beim im April 1970 in Köln gegründeten Werkkreis Literatur der Arbeitswelt erinnert. Es sind Schilderungen über Begegnungen, Auseinandersetzungen und Erlebnisse, wie etwa die mit dem (Ost-)Berliner Schriftsteller und Verleger Wieland Herzfelde, dem Bruder des Foto-Grafikers John Heartfield bei einem DDR-Besuch 1977: „Als wir Herzfelde unser Gastgeschenk überreichten, die Taschenbücher der Fischer-Reihe, musterte er sie, blätterte in ihnen und legte sie kopfschüttelnd auf den Tisch. Das seien doch keine Bücher! So ein schlechtes Papier, ein so gequetschter Satzspiegel, so ein dünner Einband! Lesefeindliche und billige Bücher wie diese nehme kein Arbeiter zur Hand…“; die Verdächtigungen, Beobachtungen und Verfolgungen, denen die Autoren des Werkkreises als „Kommunisten“ ausgesetzt wurden; die „Berufsverbote“, die vielen Namen, Erfolge und Scheitern – und immer wieder Autobiographisches.

Mit dem Haiku „Nachts auf dem Friedhof: / Stille, Blumenduft, Sterne – / gar nicht so übel“ leitet der Autor seine „Plaudereien im Lesesaal II – Was Bücher kosten“ ein. Wieder Namen, Irritationen und Feststellungen, etwa Arno Schmidt, Alfred Andersch, Peter Hacks…, und dann „eine völlig revolutionäre Musik“ von Astor Pantaleón Piazzolla, dem argentinischen Meister des Bandoneon-Spiels, der mit seinem „Tango Nuevo“ ein neues Lebensgefühl erklingen ließ – und sich als nationalistischer und rechtsradikaler Mensch entpuppte; auch der italienischer Filmregisseur, Dichter und Publizist Pier Paolo Pasolini mit seinem tragischen Leben und tragischen Tod und sein Eintreten für die proletarische Bevölkerung. Es sind die Auseinandersetzungen mit Peter Hacks (1928 – 2003), dem Lyriker, Erzähler, Essayisten und seinerzeit bedeutendsten Dramatiker der DDR, der in seinem Essay „Schöne Wirtschaft“ nach den Kosten der Kunst fragte und nach Meinung von Hensel das „Marxsche Wertgesetz falsch interpretiert. Fehlen soll in dieser Kritik nicht die „Guevarasche Wirtschaftspolitik“, wie sie vom damaligen kubanischen Revolutionär, Industrieminister und Chef der Nationalbank, Che Guevara, gedacht, geschrieben und umzusetzen versucht wurde.

Wenn Bilder (etwa als „Murals“, wie in Nordirland, vgl. dazu: Bill Rolston, Murals of War and Peace, Belfast 1998) zum Gestalt gewordenen Widerstand werden und (wie bei den Wandgemälden des mexikanischen Malers Diego María de la Concepción Juan Nepomuceno Estanislao de la Rivera y Barrientos Acosta y Rodríguez) politische Überzeugungen ausdrücken, muss auch die Rede sein von einem deutschen Maler und Sozialisten aus der ehemaligen DDR, Willi Sitte, Professor an der Kunsthochschule in Halle, Präsident des „Verbandes der bildenden Künstler“ und Mitglied der Volkskammer, geachtet und geächtet in seiner Heimat wie im Westen, und von Horst Hensel liebevoll und etwas nostalgisch-bedrückend dargestellt.

Den Abschluss der widerständigen, sach- und autobiographisch orientierten Sätze bildet eine Auseinandersetzung: „Äquivalenzökonomie versus Marktwirtschaft“. Die vom Bremer Historiker Arno Peters eingebrachte und heute vom Sozialwissenschaftler Heinz Dieterich von der Universidad Autónoma Metropolitana in Mexiko-Stadt vertretene ökonomische Theorie will den Marktwert von Waren mit den Wert von menschlicher Arbeit verbinden. Die Auffassungen finden insbesondere bei der linksgerichteten Politik in Kuba und Venezuela Aufmerksamkeit. Im Vergleich der beiden ökonomischen Theorien kommt Hensel zu der Auffassung, dass „die Marktwirtschaft mehr Plan verträgt als die Planwirtschaft Markt“, was bedeutet, dass „Märkte besser sind als staatliche Wirtschaftsplanung“, jedoch unter sozialistisch-politischen, antikapitalistischen Vorzeichen. Ob dies eine Wahnvorstellung ist oder ein utopischer historischer Kompromiss sein kann, ist nicht entschieden.

Fazit

Die kritischen Einlassungen und Reflexionen zur gegenwärtigen, dominanten kapitalistischen Wirtschaftsordnung lassen sich als Zwischenruf lesen, der „Marktwert“ spiegelt im realwirtschaftlichen und ästhetischen, künstlerischen Schaffen. Betrachtet man die Argumentation und die Drucktypologie des Buches, so wird deutlich, dass der Autor versucht, seine „Sätze“ in erster Linie an diejenigen zu richten, die erst einmal eine Abhandlung über ökonomische Theorien und komplizierte Beschreibungen über die verwirrenden Strukturen des Kunstmarktes nicht zur Hand nehmen; ob sie die Krankenschwester, den Müllwerker oder den Elektrotechniker erreichen, bleibt die Frage!

Die immer wieder autobiographisch gespiegelten Erzählungen über den Werdegang des Autors aber sind es wert, zur Kenntnis genommen zu werden.

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Es gibt 1689 Rezensionen von Jos Schnurer.

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ISSN 2190-9245