Heinz Bude: Bildungspanik
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 10.11.2011
Heinz Bude: Bildungspanik. Was unsere Gesellschaft spaltet. Hanser Verlag (München) 2011. 144 Seiten. ISBN 978-3-446-23761-2. D: 14,90 EUR, A: 15,40 EUR, CH: 22,90 sFr.
Das Dilemma des Drangs zur Selbstähnlichkeit
Woran erkenne ich mich selbst? Diese philosophische wie alltagsrelevante Frage treibt Menschen intellektuell und emotional um, seit Menschen denken können. In der Auffassung – Lass mich Ich sein, damit du Du sein kannst! – stecken ja sowohl Versprechen wie Dilemmata, die sich in Zugehörigkeiten wie Abgrenzungen darstellen. Richtet man dabei den Blick auf das gesellschaftliche und soziale Sosein der Menschen, werden zum einen Zugehörigkeiten deutlich, die sich in Schichtendenken und -handeln, zum anderen in Ausschließungsverhalten äußern. Wir sind bei der soziologischen Maxime angelangt, im Anderen entweder den Feind, oder das Selbst zu sehen – und bei der Frage, wie sich eine Gesellschaft versteht: Als Kampfplatz für individuellem Nutzen oder kollektive Begegnungsstätte.
Entstehungshintergrund und Autor
Als Entscheidung hin zu ersterem muss das dreigliedrige Schulsystem entstanden sein, als Bildungssystem, das aussondert und nicht einbindet, das Privilegien schafft, erhält und weiter gibt und nicht Chancengleichheit ermöglicht. Im gesellschaftlichen, bildungspolitischen Diskurs über die Vor- und Nachteile des herkömmlichen, im übrigen weltweit fast einzigartig-rückständigen Bildungssystems, wie nicht zuletzt die verschiedenen Bildungsvergleichsstudien wie PISA und andere eindeutig aufzeigen, werden zwar zaghafte und weitgehend unwirksame Korrekturen vorgenommen (wie etwa derzeit in einigen Bundesländern durch die Zusammenlegung der Haupt- und Realschule zur „Oberschule“), bei Vermeidung des Antastens des scheinbar sakrosankten Gymnasiums. Die Systemfrage wird vermieden wie der Teufel das Weihwasser vermeidet. Die Verteidiger des dreigliedrigen Schulsystems haben dabei kaum andere Begründungen als das Christian Morgensternsche Paradigma „Weil nicht sein kann, das nicht sein darf“.
Da kann man erst einmal neugierig und aufmerksam werden auf einen, der verspricht, in einer Streitschrift dieses Tabu aufzubrechen und sich aufzumachen, um ein paar Fakten und Denkanstöße zu liefern, wie die „ungeheure soziale Selektivität des Bildungs- und in Folge davon des Lebenserfolgs in Deutschland“ benannt und verändert werden kann. Der Inhaber des Lehrstuhls für Makrosoziologie der Universität in Kassel, Heinz Bude, greift nicht zum ersten Mal in das sorgsam und strategisch abgeschottete Privilegiertennest, um auf die Ungerechtigkeiten hinzuweisen, die die Gesellschaft spaltet (vgl. dazu auch: Die Ausgeschlossenen. Das Ende vom Traum einer gerechten Gesellschaft, 2008).
Aufbau und Inhalt
Die einzelnen Überschriften sind gleichzeitig Argumente in der Auseinandersetzung über die beinahe festgefügten Ungerechtigkeiten, die das dreigliedrige Bildungssystem produziert: „Die verfahrene Lage“ als Bestandsaufnahme der bildungspolitischen und gesellschaftlichen Wirklichkeit, die als Lösung aufzeigt: „Man muss die Spitze entprivilegieren, um die Basis zu reaktivieren“.
„Überall dasselbe“ will signalisieren, dass es nicht die Selektion sein kann, die Bildungs- und Schulerfolg schafft, sondern ein egalitärer Aufbau des Schulsystems, in dem individualisiert und differenziert auf die Lernbedürfnisse der Schülerinnen und Schüler eingegangen wird. Deshalb sind internationale Vergleiche, wie etwa mit dem japanischen Schulsystem hilfreich.
Die (Gretchen-)Frage „Worum es wirklich geht“ stellt sich insbesondere für diejenigen, die in der kapitalistisch und materiell-leistungsbestimmten Gesellschaft als die „Loser“ gelten. Es sind die „Verriegelungen“, wie sie mit den Haupt- und Sonderschulen vorgenommen werden, und durch die faktisch vollzogene Einwanderungsgesellschaft sich ergibt.
„Die deutsche Tradition“ des Bildungsdenkens und -handelns ist Grundlage für die Frage „Wie wir geworden sind, was wir sind“. Sie erklärt die vielfältigen Schulreform-Initiativen, bis hin zur Dahrendorfschen Forderung „Bildung ist Bürgerrecht.
„Der bildungsindustrielle Komplex“, der sich deutlich in der Metapher vom „Humankapital“ ausdrückt, verdeutlicht sich in dem Dilemma zwischen Defizit und Differenz.
„Löwen und Füchse“, Fabel oder Darwinismus, Privilegien oder Optionen, Kampf oder Chance; mit den Wortspielen werden Grundfragen gesellschaftlicher Verfasstheit und Gerechtigkeit thematisiert: Sollen „Löwen“ Löwen bleiben dürfen und die „Füchse“ Füchse, oder die Löwen Füchse werden oder umgekehrt’, diese Entscheidung freilich darf den kapitalistischen Marktmechanismen alleine nicht überlassen werden – (auch) das als heftiger Widerspruch zu Budes Argumentation.
Eine merkwürdige Kennzeichnung für Bildung: „Das teuflische Gut„; und die Bewertungsaspekte dazu: Je mehr (höhere, bessere) Bildung für alle, um so geringer der gesellschaftlich zugemessene Wert eben dieser Bildungsergebnisse? Weil das Maßband dafür scheinbar das öffentliche Bildungssystem nicht mehr zu leisten vermag, bleibt…?
„Die derangierte Institution“, die sich zeigt in den gesellschaftlichen Infragestellungen der professionellen Kompetenzen derjenigen, die als Bildungsvermittler angetreten sind, den Lehrerinnen und Lehrern. Was bleibt? Das Eintreten für professionelle Autonomie!
„Der politische Fehlschluss“ zeige sich darin, dass man zwar mit Bildung die soziale Bürgerschaft stärken, jedoch nicht die gesellschaftliche Ungleichheit aushebeln könne. Die Folgen? „Die Bildungsexpansion (bat) eine gewachsene sozio-kulturelle Heterogenität der Gymnasialschülerschaft und zugleich eine größere soziale Homogenität des Hauptschulklientels gebracht“.
Fazit
Der reißerisch und versprecherisch aufgemachte Titel entpuppt sich nicht als Heilsversprechen. Es sind die irritierend formulierten Für und Wider, die einerseits weiterführende Gedankengänge erhoffen lassen, aber gleichzeitig mit „Totschlagargumenten“ in Sackgassen führen; etwa, wenn Heinz Bude apodiktisch formuliert: „Eine Organisation der Gleichheit, die die Erfahrung der Freiheit erstickt, macht die soziale Bürgerschaft insgesamt zunichte“. Damit nämlich unterstellt er, dass ein Schulsystem, wie etwa die Integrierte Gesamtschule, die mit dem Anspruch antritt, eine Schule für alle Schülerinnen und Schüler zu sein, die Freiheitsrechte unterdrücke. An anderer Stelle hat der Autor den Ratschlag gegeben: „Seid nicht selbstgerecht!“.
Wenn die „guten Nachrichten“, die Bude zum Schluss seines Zwischenrufs anführt, nur darin bestehen, darauf zu hoffen, dass die durch die demographische Entwicklung ergebenden Nachfragen nach Beschäftigungsverhältnissen schon das Skandalon des dreigliedrigen Schulsystems lösen könne, stellt sich die Essenz seiner Überlegungen als dürftig dar – und ärgerlich dazu, wenn er für einen Bildungsbegriff plädiert, der allzu neoliberal daher kommt. Im Zusammenhang mit der Diskussion über die individuellen und globalgesellschaftlichen Verantwortlichkeiten zur ökonomischen, ökologischen und politischen Entwicklung der Welt wurde einmal festgestellt, dass jedes individuelle Bemühen an Grenzen stößt, wenn das System falsch ist ( vgl. dazu: Worldwatch Institute, Hrsg., Zur Lage der Welt 2010, in: www.socialnet.de/rezensionen/10494.php).
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 10.11.2011 zu:
Heinz Bude: Bildungspanik. Was unsere Gesellschaft spaltet. Hanser Verlag
(München) 2011.
ISBN 978-3-446-23761-2.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/12103.php, Datum des Zugriffs 13.12.2024.
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