Barbara Schäuble: „Anders als wir“ (Antisemitismus)
Rezensiert von Prof. Dr. Wolfram Stender, 12.09.2012

Barbara Schäuble: „Anders als wir“. Differenzkonstruktionen und Alltagsantisemitismus unter Jugendlichen. Metropol-Verlag (Berlin) 2012. 472 Seiten. ISBN 978-3-86331-022-6. D: 29,00 EUR, A: 22,70 EUR.
Thema
Hat es etwas mit Antisemitismus zu tun, wenn Jugendliche heute wieder judenfeindliche Witze zum Besten geben oder mit Begeisterung „Du Jude!“ als Schimpfwort benutzen? Viele Pädagogen bestreiten dies. Genauso viele aber reagieren in einer spezifischen Weise alarmistisch, indem sie Antisemitismus als ausschließliches, allerdings hoch virulentes Problem der „muslimischen Kinder“ darstellen. Beide Reaktionsweisen zeigen, dass sich am Thema Antisemitismus unter Jugendlichen die Meinungen in einer oft stark emotionalisierten Weise scheiden. Die Studie von Barbara Schäuble bringt nun endlich Klarheit in die Diskussion. Sie zeigt, dass Alltagsantisemitismus bei vielen Jugendlichen zu erwarten ist, dieser allerdings kontextuell, gruppenspezifisch und auch geschlechtsspezifisch variiert. Da aber – auch dies ein wichtiges Ergebnis der Studie – die meisten Jugendlichen ihrem Anspruch nach nicht antisemitisch sein wollen, sind die Interventionsmöglichkeiten für die politische Bildungsarbeit günstig.
Autorin
Barbara Schäuble ist Soziologin und Sozialarbeiterin. Sie ist seit vielen Jahren in der politischen Bildungsarbeit tätig und hat zusammen mit Albert Scherr bereits eine Reihe von wichtigen Beiträgen zum Antisemitismus bei Jugendlichen vorgelegt, u. a. den Forschungsbericht „‚Ich habe nichts gegen Juden, aber…‘. Ausgangsbedingungen und Perspektiven gesellschaftspolitischer Bildungsarbeit gegen Antisemitismus“ (2007). Zurzeit vertritt sie eine Professur für Theorien und Handlungskonzepte Sozialer Arbeit an der Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst in Holzminden. Bei der hier zu besprechenden Monografie handelt es sich um ihre Dissertation.
Aufbau
Das Buch umfasst neben der Einleitung fünf Kapitel. Nach der Darstellung des Forschungsstands (Kap. 2) und des Forschungsprogramms (Kap. 3) folgt die umfangreiche qualitative Auswertung der Gruppendiskussionen (Kap. 4 u. 5). Abschließend werden Schlussfolgerungen für die politische Bildungsarbeit gezogen (Kap. 6).
Inhalt
Anders als beim Rassismus ist über Antisemitismus in der Alltagskommunikation von Jugendlichen bislang kaum geforscht worden. Mit dem Buch von Barbara Schäuble liegt nun die erste größere, qualitativ ausgerichtete Studie für den deutschsprachigen Raum vor. Lassen sich Alltagsantisemitismen als orientierungsstiftende Deutungsmuster in alltäglichen Kommunikationszusammenhängen verstehen, so rückt im Forschungsverfahren folgerichtig der Alltagsdiskurs in Jugendgruppen ins Zentrum. Damit wird eine Analyseebene in den Fokus gestellt, die von der quantitativen Einstellungsforschung nicht erreicht werden kann. Als Vorbild kann hier das legendäre „Gruppenexperiment“ des Frankfurter Instituts für Sozialforschung aus den Jahren 1950/51 gelten, das für die Erforschung des sekundären Antisemitismus in Deutschland bahnbrechend war. Barbara Schäuble stellt explizit den Bezug zu dieser Großstudie her – nicht nur, weil auch sie auf die Methode der Gruppendiskussion zurückgreift, sondern auch, weil zentrale antisemitische Topoi von damals in den Alltagsdiskursen von heute wiederkehren.
Für ihr strikt wissenssoziologisch ausgerichtetes Forschungsprogramm entwickelt die Autorin eine antisemitismusbezogene Heuristik, der sie einen bewusst implikationsarmen Begriff von Antisemitismus als Differenzkonstruktion zugrunde legt. Damit kommt zugleich das Verhältnis von Selbst- und Fremdkonstruktion in den Blick. Schäuble knüpft hier an neuere Forschungsbefunde an, die zeigen, dass es einen Zusammenhang zwischen essentialisierenden (z. B. ethnisch-nationalen oder religiös-fundamentalen) Identitätskonstruktionen und Antisemitismus zu geben scheint. Mit Brian Klug definiert sie Antisemitismus als eine Praxis, in der aus Juden „Juden“ gemacht werden: „Antisemitismus stellt (...) eine auf Annahmen der Differenz, Ungleichheit und Feindschaft beruhende Praxis der sozialen Diskriminierung beziehungsweise Verfolgung dar“ (S. 135). Nach Klug steht im Zentrum der antisemitischen Differenzkonstruktion die Figur des „ewigen Juden“, der durch Macht, Reichtum, Wurzellosigkeit und Kosmopolitismus gekennzeichnet ist. Daran anschließend erstellt Schäuble eine Liste von Deutungsmustern und Topoi aus dem Repertoire antisemitischer Ideologien, die die inhaltliche Klassifizierung antisemitismusrelevanter Aussagen im empirischen Material ermöglicht.
Die Auswertung basiert auf 20 Gruppendiskussionen, die die Autorin mit Jugendlichen unterschiedlichen Geschlechts und Bildungsstandes sowie unterschiedlicher Herkunft und Religion in Schulen und Jugendzentren verschiedener Städte Deutschlands durchgeführt hat. Sieben dieser Gruppendiskussionen werden in Form von „Gruppenporträts“ einer sinn- und soziogenetischen Detailanalyse unterzogen. Auf diesem Wege gelingt es Schäuble überzeugend, die Ambivalenz und Widersprüchlichkeit im adoleszenten Alltagssprechen über Juden und Judenfeindschaft nachzuweisen. Der weitaus größte Teil der befragten Jugendlichen distanziert sich vom Antisemitismus, verstrickt sich aber in Differenzkonstruktionen, die eine jüdische Alterität als Gegenbild der eigenen Identität hervorbringen. Juden werden als eigenständige, in sich homogene und von der vorgestellten „Wir“-Gruppe grundlegend unterschiedene Gruppe imaginiert und bewertet. Schäuble spricht in diesem Zusammenhang von „antisemitischen Fragmenten“, die das anti-antisemitische Selbstverständnis der Jugendlichen in widersprüchlicher Weise durchkreuzen.
Insgesamt ermöglicht es der Analyserahmen der Studie, adoleszenten Antisemitismus als Mischform aus antisemitischem „Wissen“, fragmentierten Sinnzusammenhängen und antisemitischen Identifizierungen darzustellen. Antisemitische Deutungsmuster im Kontext mehr oder weniger inkonsistenter Aussagen sind ebenso häufig zu beobachten wie Äußerungen eines antisemitischen „Wissens“ (Juden werden als „mächtig“, „reich“, „intelligent“, „geschäftstüchtig“, „geizig“ etc. gekennzeichnet). Den Aussagen der Jugendlichen zufolge beziehen sie dieses „Wissen“ übrigens primär aus dem schulischen Geschichts- und Religionsunterricht. Auch antisemitische Stigmatisierungen, Beschimpfungen und Witze sind im Kontext jugendlicher Kommunikation anzutreffen, wobei auch diese, so Schäuble, eher in ihrer Funktion für die soziale Identität und Gruppenbildungsprozesse der Jugendlichen und nicht primär als feindliche Haltung gegenüber Juden zu verstehen seien.
Unabhängig von den zum Teil stark differierenden Kontexten antisemitischer Äußerungen beobachtet Schäuble wiederkehrend zwei zentrale Deutungsmuster. Gruppenübergreifend hat die ausgrenzende Differenzkonstruktion „Juden sind anders als wir“ den Status einer unhinterfragten Selbstverständlichkeit, die häufig mit dem Topos „Juden sind reich und mächtig“ verknüpft wird. In fast allen befragten Gruppen findet sich zudem die von Schäuble ebenfalls als Deutungsmuster interpretierte Frage „Was haben wir damit zu tun?“, die auf das spannungsvolle Verhältnis vieler Jugendlicher zum gesellschaftlichen Umgang mit dem Nationalsozialismus und die Vernichtung der europäischen Juden verweist. Insbesondere bei Jugendlichen, die sich selber als „Muslime“ kennzeichnen, ist überdies der Topos „Juden und Muslime sind Feinde“ weit verbreitet.
Auch wenn das Sample der Studie vergleichsweise klein ist und Generalisierungen deswegen unzulässig sind, sind die Befunde für die professionelle pädagogische Praxis von großer Bedeutung. Deutlich wird nämlich, dass in der Bildungsarbeit die in Jugendgruppen vorhandenen Deutungsmuster und Orientierungsrahmen berücksichtigt werden müssen. Barbara Schäuble plädiert hier für eine sinn- und subjektorientierte Ergänzung der Bildungsangebote gegen Antisemitismus, die häufig viel zu historisierend, wissenslastig und moralisierend angelegt sind. Zudem sollten antisemitische Differenzkonstruktionen im Kontext weiterer Selbst- und Fremdkonstruktionen thematisiert werden, was am ehesten auf dem Wege einer Integration der pädagogischen Auseinandersetzung mit Antisemitismus in den Rahmen einer Menschenrechtspädagogik zu erreichen sei. Das Ziel einer so definierten Bildungsarbeit sei „die Befähigung zu Deutungen, in denen antisemitische Topoi und Ideologien nicht nur verzichtbar und überflüssig sind, sondern als Deutungsangebote erkennbar werden, die eigene Denk-, Erfahrungs- und Handlungsmöglichkeiten blockieren“ (S. 434).
Diskussion
Ohne das Verdienst dieser äußerst akribischen Forschungsarbeit zu schmälern, sei auf zwei kritische Punkte hingewiesen.
Die Theorievergessenheit der aktuellen Antisemitismusforschung sticht schmerzhaft ins Auge. Selten wird an die klassischen Theorien über Antisemitismus angeknüpft, obwohl das analytische Potential der Arbeiten von Adorno und Horkheimer, Sartre oder auch Hannah Arendt – um nur einige Namen zu nennen – noch längst nicht ausgeschöpft ist. Das Buch von Barbara Schäuble macht darin keine Ausnahme. Zwar nimmt sie sporadisch Bezug auf die empirischen Antisemitismusstudien und insbesondere auf das „Gruppenexperiment“ des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, aber den theoretischen Zusammenhang, wie ihn Horkheimer und Adorno in „Elemente des Antisemitismus“ entwarfen, lässt sie vollständig unerwähnt. Der vielleicht ambitionierteste Versuch einer kritischen Analyse des Antisemitismus taucht nicht einmal im Literaturverzeichnis auf. Die irritierende Depotenzierung des eigenen Erklärungsanspruchs, die sich darin andeutet, wird von der Autorin selber konstatiert. Sie vermerkt, dass „eine Erklärung antisemitischer Erscheinungsformen auf einen gesellschaftstheoretischen und -historischen Rahmen angewiesen ist“, um dann lapidar anzufügen, dass dieser „das Format der vorliegenden Studie überschreitet“ (S. 94). Durch diesen Theorieverzicht aber gerät auch der zentrale Begriff des Alltagsantisemitismus eigentümlich flach. Schon ein Anknüpfen an die kritische Alltagstheorie praxisphilosophischer Provenienz hätte hier zu mehr Tiefenschärfe führen können. Dass Antisemitismus ein Bestandteil des modernen Alltagsbewusstseins ist, findet seine Begründung im Alltagsleben einer sich unablässig modernisierenden modernen Gesellschaft, die von Arbeit und Tausch, Gewalt und Autorität zerrissen ist. In der Tradition der Kritischen Theorie wurde diese Gesellschaft mit guten Gründen als antisemitische Gesellschaft par excellence begriffen. Dass die subjektiven und gesellschaftlichen Tiefenstrukturen des Antisemitismus sich im Alltagsantisemitismus fortsetzen, ist eine Hypothese, auf die eine Empirie des Alltagsantisemitismus sich zumindest hätte beziehen können. Die empirischen Arbeiten z. B. von Samuel Salzborn (2010) (vgl. die Rezension) zeigen, dass dies möglich ist.
Barbara Schäuble spricht sich, wenn ich sie richtig verstehe, gegen eine „Spezialisierung im Sinne einer eigenständigen ‚anti-antisemitischen Bildungsarbeit?“ und für eine Integration der pädagogischen Auseinandersetzung mit Antisemitismus „in den Kontext einer breiter gefassten Diversity- und Social Justice-Education“ aus (S. 440). Mit Blick auf die Bildungsarbeit mit Jugendlichen ist dies zweifellos richtig und wichtig, mit Blick auf die Bildungsarbeit mit Multiplikatorinnen aber keineswegs. Heike Radvan hat in ihrer Studie „Pädagogisches Handeln und Antisemitismus“ (2010, vgl. die Rezension) eindrucksvoll nachgewiesen, dass Pädagogen nicht selten ungewollt und unerkannt antisemitische Differenzkonstruktionen in ihrem Handeln verstärken anstatt sie zu durchbrechen. Häufig fehlt es an Wissen über die Spezifik des Antisemitismus. Es gibt eine schlechte Tradition, Antisemitismus als bloße Spielart des Rassismus abzutun. Dies führt in der Praxis immer wieder zu groben konzeptionellen Fehlern. Umso wichtiger ist es deshalb, gerade in der Arbeit mit Multiplikatoren antisemitismuskritische Bildungsarbeit als eigenständigen Lehr- und Lernbereich zu etablieren, was ohne eine „Spezialisierung“ nicht zu machen ist.
Fazit
Das große Verdienst der Studie von Barbara Schäuble liegt darin, die Struktur und Funktion des Alltagsantisemitismus bei ganz gewöhnlichen Jugendlichen detailgenau rekonstruiert zu haben. Für die pädagogische Arbeit ist dies von großem Nutzen, weil die Interventionsstrategien nun sehr viel genauer bestimmbar werden. Ihr Buch kann als Komplementärstudie zu dem bahnbrechenden Werk „Pädagogisches Handeln und Antisemitismus“ von Heike Radvan gelesen werden. Konnte Radvan nachweisen, dass und wie im pädagogischen Umgang mit Antisemitismus Antisemitismen reproduziert werden, so zeigt Schäuble, wie sich adoleszenter Antisemitismus zusammensetzt und sinnvoll pädagogisch bearbeitet werden kann. Beide Bücher zusammen schaffen die Grundlage für eine antisemitismuskritische Bildungsarbeit. Warum dies höchste Anerkennung verdient, wird klar, wenn man sich die beschämende Kette halbherziger und missglückter Bemühungen pädagogischen Handelns gegen Antisemitismus in Deutschland nach 1945 ins Bewusstsein ruft. Wer wissen will, wie eine Pädagogik gegen Antisemitismus, die selber nicht antisemitisch ist, funktioniert, muss die Bücher von Barbara Schäuble und Heike Radvan lesen.
Literatur
- Radvan, Heike (2010): Pädagogisches Handeln und Antisemitismus. Eine empirische Studie zu Beobachtungs- und Interventionsformen in der offenen Jugendarbeit, Bad Heilbrunn. (vgl. die Rezension)
- Salzborn, Samuel (2010): Antisemitismus als negative Leitidee der Moderne. Sozialwissenschaftliche Theorien im Vergleich, Frankfurt am Main. (vgl. die Rezension)
Rezension von
Prof. Dr. Wolfram Stender
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