Florian Baier, Rahel Heeg: Praxis und Evaluation von Schulsozialarbeit
Rezensiert von Prof. Dr. Hermann Sollfrank, 08.03.2012
Florian Baier, Rahel Heeg: Praxis und Evaluation von Schulsozialarbeit. Sekundäranalysen von Forschungsdaten aus der Schweiz. VS Verlag für Sozialwissenschaften (Wiesbaden) 2011. 151 Seiten. ISBN 978-3-531-17323-8.
Thema
Die Ausführungen in diesem Buch beziehen sich auf Datenmaterial aus Evaluationen von Schulsozialarbeit in fünf verschiedenen Standorten in der Deutschschweiz. Sekundäranalytisch werden vorhandene Evaluationsdaten auf der Basis neuer Kriterien ausgewertet, dargestellt und interpretiert. Zentrale Erkenntnisinteressen im Kontext der hier realisierten Sekundäranalysen sind „Fragen nach Praxisentwicklungen in komparativer Perspektive, nach Elementen professioneller Praxis und deren Beurteilung durch die Nutzerinnen und Nutzer sowie nach Wirkungen und deren Kontexten“ (S. 9). Weiterführend werden Fragen zur Evaluation von Schulsozialarbeit, wie die Generierung von Benchmarks für die sozialarbeiterische Praxis behandelt.
Autoren
Prof. Dr. Florian Baier ist Professor für Jugendhilfe und Schule am Institut Kinder-und Jugendhilfe der Hochschule für Soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz.
Dr. Rahel Heeg ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut Kinder-und Jugendhilfe der Hochschule für Soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz.
Ausgangspunkte
Schulsozialarbeit ist ein inzwischen an vielen Schulen etabliertes Angebot Sozialer Arbeit. In der jeweiligen Praxis vor Ort gestalten sich allerdings die Mandate, Konzepte und die Praktiken, die sich mit diesem Angebot verbinden, in der Regel sehr unterschiedlich. Es stellt sich natürlich die naheliegende Frage, ob sich das Handlungsfeld Schulsozialarbeit zumindest in seinen berufspraktischen Konturen, seinen Strukturmaximen und Handlungsprinzipien sowie seinen Wirkungen und Nutzen und damit verbundenen Maßstäben zur Bewertung von Praxis beschreiben lässt. Eine Antwort auf diese Frage wollen Baier und Heeg über eine Sekundäranalyse von Evaluationsdaten zur Schulsozialarbeit geben, die im Rahmen diverser Evaluationen an verschiedenen Standorten erhoben wurden.
Aufbau und Inhalt
Im ersten Kapitel wird auf die Evaluationsprojekte kurz eingegangen, die der Sekundäranalyse zugrunde lagen. Es wird darauf hingewiesen, dass in den Evaluationen das Verhältnis der geleisteten Praxis zu konzeptionellen Vorgaben und angestrebten Zielen, die Analyse der Praxis der Schulsozialarbeit mit Blick auf den aktuellen praxeologischen Fachdiskurs und die Herstellung von Relationen zu Ergebnissen aus früheren Evaluationen im Vordergrund lag. Es folgen Kurzporträts der evaluierten Standorte sowie Hinweise zur Datenerhebung und Forschungsmethoden.
Im zweiten Kapitel steht das Handlungsfeld Schulsozialarbeit im Mittelpunkt. Es geht den Autoren um die Rekonstruktion von allgemeinen Konturen der Praxis. Es wird zunächst auf die unterschiedlichen Konzepte, Strukturen und Rahmenbedingungen von Schulsozialarbeit an den untersuchten Standorten eingegangen, die im Kontext der Evaluationen vorgefunden wurden. Die Fragestellungen und Erhebungsinstrumente der Praxisrekonstruktionen in den Evaluationen werden ebenfalls in diesem Kapitel behandelt. Besonders der Arbeitsbereich „Beratung“ steht im Fokus der Autoren. Dabei unterscheiden sie zwischen formellen und informellen Beratungen. Während bei den formellen Beratungen die Autoren aufgrund des Ernstcharakters der Beratung eine selbstverständliche Zweckmäßigkeit als gegeben ansehen, erschließt sich die Bedeutung informeller Beratungen erst über Rückmeldungen von Schülerinnen und Schülern. Die informelle Präsenz der Schulsozialarbeiterinnen und Schulsozialarbeiter scheint einer Bedürfnislage von Kindern und Jugendlichen nach Lebensweltnähe und Niedrigschwelligkeit zu entsprechen. „Dadurch“, so die Autoren „tragen diese Formen der Beratung auf besondere Weise wesentlich dazu bei, bei Schülerinnen und Schülern subjektives Wohlbefinden und ein angenehmeres Schulhausklima zu fördern“ (S. 23).
Die Beratungsanlässe hingegen sind gekennzeichnet durch Konflikte und Probleme, die Kinder und Jugendliche untereinander haben, zwischen Schülerinnen/Schüler und ihren Lehrkräften auftauchen, persönliche Befindlichkeiten und Herausforderungen der Lebensbewältigung betreffen sowie im familialen Kontext angesiedelt sind. Neben der Anzahl an Fällen und Beratungsgesprächen und der damit verbundenen Problematik eines auf Fallzahlen verkürzten Verständnisses von Controlling thematisieren Baier und Heeg in diesem Kapitel auch bemerkenswerte Gender-Dimensionen, die sich bei Betrachtung der Nutzer/-innen und Anbieter/-innenseite zeigt.
Neben der Beratung skizzieren die Verfasser Projektarbeit und soziale Gruppenarbeit, Schulentwicklung, Kooperation und Vernetzung und die Zusammenarbeit mit Lehrkräften als relevante Praxisbereiche der Schulsozialarbeit. Damit wird deutlich, dass Schulsozialarbeit nicht ausschließlich eine einzelfallorientierte Hilfeleistung darstellt, sondern das gesamte sozialtechnologische und methodische Know-how von Sozialarbeiterinnen in der Schulsozialarbeit gefragt ist. Mit Hinweisen zur Professionalität, zu Trägerschaften, zu Organisationsformen sowie zu Bedarfserhebungen, Planung und Erwartungsproduktionen an die Schulsozialarbeit endet das Kapitel.
Um die Vielschichtigkeit des Handlungsfeldes Schulsozialarbeit sowie potenzielle Widersprüche herauszuarbeiten, greifen die Autoren im dritten Kapitel auf eine kulturphänomenologisch begründete Analyse zurück. Sie wollen rekonstruieren, welche Definitionen respektive subjektive Deutungen von Schulsozialarbeit in der sozialen Wirklichkeit die Handlungen der Akteure beeinflussen. Über den phänomenologischen Zugang versuchen Baier und Heeg nicht nur unterschiedliche Erscheinungsbilder von Schulsozialarbeit herauszuarbeiten, sie unternehmen auch den Versuch, die Erscheinungsbilder von Schulsozialarbeit, deren Wahrnehmung von bestimmten Kontexten abhängig ist und einige Voraussetzungen hat, auf spezifische Merkmale zu reduzieren. Die kulturtheoretische Grundlage hingegen ist geprägt von einer Auffassung von Kultur als Überlebensstrategie einer Gesellschaft. In diesem Sinne lässt sich Schulsozialarbeit als ein Diskurskonstrukt fassen und „erscheint als Institution und soziale Praxis, wenn mit dem Diskurskonstrukt kollektive oder individuelle Überlebensstrategien [etwa der Schule; Anm. H.S.] verknüpft werden“ (S. 48). Die kulturbedingten Erscheinungsformen von Schulsozialarbeit, die Baier und Heeg zutage fördern, machen deutlich, wie höchst unterschiedlich Schulsozialarbeit aufgefasst werden kann. Das Spektrum reicht von einer Schulsozialarbeit, die als soziale Innovation begriffen wird, bis hin zu einer Schulsozialarbeit, die als Mittel zur Vermeidung von Unterricht erscheint, umfasst Schulsozialarbeit als Korrektiv schulisch induzierter Probleme im selben Maße, wie Schulsozialarbeit als corporate identity von Schule. Für die Verfasser lässt sich aus einer kulturphänomenologischen Perspektive die Entstehung von Widersprüchen im Handlungsfeld Schulsozialarbeit systematisierend erschließen. Es wird deutlich, dass die Auseinandersetzung um Professionalisierung und Profilbildung der Schulsozialarbeit in der Schweiz, und vermutlich nicht nur dort, „von der Frage gekennzeichnet ist, wer welche Strategien auf welche Weise mit der Schulsozialarbeit verbinden darf, kann oder muss, und nach welchen Maßstäben dies geschehen sollte“ (S. 70).
Das vierte Kapitel behandelt Strukturmaximen und Handlungsprinzipien der Schulsozialarbeit vor dem Hintergrund des aktuellen Standes des wissenschaftlichen Diskurses um das Handlungsfeld Schulsozialarbeit. Zuerst wird in der Sekundäranalyse der Zusammenhang zwischen Beziehung und Erfolgseinschätzung von Unterstützungsangeboten durch Adressaten und Schulsozialarbeitern rekonstruiert. Die Untersuchung macht deutlich, dass spezifische Beziehungsformen die Basis „positiver Veränderungen“ sind (S. 76). Zentrale Beziehungsaspekte aus Sicht der Schülerinnen und Schüler sind hierbei die Qualität von Schweigepflicht, Sympathie für die Schulsozialarbeiter und sich ernst genommen und verstanden fühlen. Weiter untersucht werden im Anschluss daran die Bedeutung des Erhalts helfender Unterstützung und der Stärkung der Handlungsbefähigung, die Neutralität und das anwaltschaftliche Handeln von Schulsozialarbeitern. Abschließend werden die Relevanz der Freiwilligkeit in der Wahrnehmung von Angeboten der Schulsozialarbeit sowie Niederschwelligkeit der Hilfsangebote analysiert.
Mit der Frage der Wirkungen und des Nutzens von Schulsozialarbeit nehmen Baier und Heeg im fünften Kapitel Bezug auf eine in den letzten Jahren nicht nur in der Schweiz intensiv geführte Debatte. Sie stellen Befunde aus den Evaluationen dar, die auf Wirkungen schließen lassen. Als Ergebnis wird festgehalten, dass sich aufgrund der Angebote und Maßnahmen von Schulsozialarbeit sowohl „das Schulklima, das Wohlbefinden und der Umgang der Schülerinnen und Schüler sowie der Lehrkräfte mit sozialen und persönlichen Problemen positiv verändert“ hat (S. 97). Zugleich konnte festgestellt werden, dass die Handlungsfähigkeit von Schulsozialarbeit und ihre Wirksamkeit an konkrete Rahmenbedingungen gebunden sind. An den Standorten, wo Schulsozialarbeit und Schule eine auf gegenseitiger Achtung basierende komplementäre Kooperation pflegen, ist die Zuschreibung von Wirkung durch Schülerinnen und Schüler in der Regel sehr hoch. An Standorten, wo strukturelle und personelle Engpässe vorherrschen oder eine geringe Bereitschaft zur Zusammenarbeit seitens der Lehrkräfte vorliegt, wird in der Regel Schulsozialarbeit sowohl von Lehrkräften als auch von Schülerinnen und Schülern als weniger wirksam beurteilt. Die Rekonstruktion sogenannter Spread-Effekte auf die Umwelt als Verstärker von Erfolgen und Misserfolgen und die Herausarbeitung von Wirkungschronologien, Elemente wirkungsvoller Praxis in zeitlichen Bezügen, werden im weiteren Verlauf der Analyse behandelt. Bemerkenswert ist hier der Hinweis auf eine wirkungschronologische Qualitätsentwicklung, in der sowohl Wirkungsvoraussetzungen als auch Praxiselemente skizziert werden, durch die Qualität für die einzelnen Wirkungsvoraussetzungen erzeugt wird.
Maßstäbe zur Bewertung von Praxis zu generieren, ist der thematische Schwerpunkt des sechsten Kapitels. Baier und Heeg erläutern verschiedene Benchmarks und setzen sich mit ihnen hinsichtlich ihrer Verwendung und Konsequenzen für Evaluationen auseinander. Sie diskutieren die Relevanz konzeptioneller Ziele, Erwartungen von Beteiligten an die Schulsozialarbeit, Kriterien von Professionalität und Sachlichkeit, intendierte Wirkungen und Effekte, Richtwerte wie Personalschlüssel und Fallzahlen, komparative Praxisanalysen, spezifische Bedarfe und Kriterien der Qualitätsentwicklung. Diese Ergebnisse werden im letzten Kapitel hinsichtlich ihrer Bedeutung für Evaluationsdesigns noch einmal abschließend thematisiert und vor allem der Benchmark der Fachlichkeit bzw. Professionalität als Maßstab zur Beurteilung von Schulsozialarbeit herausgestellt. Mit Hinweisen auf die Einbeziehung der schulischen Voraussetzungen für das Gelingen der Schulsozialarbeit und der Art und Weise der Darstellung der Evolutionsergebnisse endet die Monografie.
Diskussion und Fazit
Die Publikation von Baier und Heeg ist in mehrfacher Hinsicht gewinnbringend. Sie geht auf Fragestellungen der Evaluation der Praxis von Schulsozialarbeit respektive Sozialer Arbeit ein und enthält darüber hinaus viele Anregungen für eine Agogik der Sozialen Arbeit im Kontext Schule. So wird etwa im Kapitel zur Phänomenologie der Schulsozialarbeit eine gelungene Verbindung zwischen sozialwissenschaftlichem Erklärungs- und Beschreibungswissen über soziale Strukturen und Prozesse und beruflichem Handlungsfeld hergestellt. Dies befördert den Theorie-Praxistransfer. Ein weiteres Beispiel hierzu ist die Bearbeitung des Themenfeldes einer wirkungsorientierten Sozialen Arbeit, weil etwa die Herausarbeitung einer wirkungschronologischen Qualitätsentwicklung als eine handlungsstrategische Anregung für Berufspraktiker/-innen begriffen werden kann. Da in der im Umfang beschränkten Publikation eine ganze Reihe von Themen bearbeitet werden und das Erkenntnisinteresse entsprechend differenziert angelegt ist, wäre an vielen Punkten eine weiterführende, vielleicht auch arbeitsfeldübergreifende Theoriebildung denkbar und vermutlich auch nötig. Kurzum: ein, wenn auch im Rahmen der Veröffentlichung an manchen Stellen nur kursorisch entfalteter, nichtsdestotrotz erfrischender praxeologischer und wissenschaftlich-methodologischer Beitrag, der nicht nur für die deutschsprachige Schweiz von Interesse sein muss.
Rezension von
Prof. Dr. Hermann Sollfrank
Professor für Pädagogik und Sozialpädagogik an der Katholischen Stiftungsfachhochschule München, Fachbereich Soziale Arbeit München
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Es gibt 5 Rezensionen von Hermann Sollfrank.
Zitiervorschlag
Hermann Sollfrank. Rezension vom 08.03.2012 zu:
Florian Baier, Rahel Heeg: Praxis und Evaluation von Schulsozialarbeit. Sekundäranalysen von Forschungsdaten aus der Schweiz. VS Verlag für Sozialwissenschaften
(Wiesbaden) 2011.
ISBN 978-3-531-17323-8.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/12121.php, Datum des Zugriffs 04.12.2024.
Urheberrecht
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