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Barbara Rendtorff: Bildung der Geschlechter

Rezensiert von Prof. Dr. Ursula Hochuli Freund, 06.06.2012

Cover Barbara Rendtorff: Bildung der Geschlechter ISBN 978-3-17-021137-7

Barbara Rendtorff: Bildung der Geschlechter. Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2011. 132 Seiten. ISBN 978-3-17-021137-7. 14,90 EUR.
Reihe: Praxiswissen Bildung.

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Thema

Die in den Medien seit Jahren immer wieder aufgegriffene Diskussion über die spezifischen Herausforderungen und Schwierigkeiten von Mädchen und – derzeit vor allem – von Jungen lässt auch pädagogische Fachkräfte nicht unberührt. Sie weckt den Bedarf nach differenziertem Wissen: Woher kommen die in der Schule und anderen Bildungseinrichtungen auftretenden Befunde bezüglich Geschlechterdifferenzen, welche Bedeutung haben welche Bedeutung haben sie, und wie sollen sich Professionelle dazu verhalten? Nun lassen sich Geschlechtereffekte nur in einem grösseren, historischen Zusammenhang von Geschlechtertypisierungen -rollen und von geschlechterdifferenzierenden pädagogischen Konzepte verstehen. Das vorliegende kleine Buch erörtert auf diesem Hintergrund geschlechtstypische Aspekte von Kindheit und Jugend, von Bildung und Schule.

Autorin und Entstehungshintergrund

Prof. Dr. phil. Barbara Rendtorff hat Pädagogik, Soziologie und Geschichte studiert, in Soziologie promoviert und in Erziehungswissenschaft habilitiert. Während vieler Jahre war sie Mitarbeiterin in der Frankfurter Frauenschule, einer autonomen Bildungseinrichtung für Frauen, später wirkte sie als Vertretungs- und Gastprofessorin an verschiedenen Universitäten. Seit 2008 lehrt sie als Professorin für Schulpädagogik und Geschlechterforschung an der Universität Paderborn. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Geschlechtertheorie sowie Tradierungen von Geschlechterbildern in der Schule und im Prozess des Aufwachsens. Es liegen mehrere Publikationen von ihr zum Thema vor.

Aufbau und Inhalt

Zwischen einem kurzen einführenden und einem ebenfalls knappen, zusammenfassenden Schlusskapitel werden in fünf – jeweils zwischen 17 und 27 Seiten umfassenden – Kapiteln unterschiedliche Aspekte geschlechtsspezifischer Bildungsprozesse und geschlechterdifferenzierender Pädagogik erörtert.

Die ersten beiden Kapitel befassen sich mit den historischen Aspekten geschlechtsbezogener Pädagogik. In einer einleitenden Skizze werden die historischen Grundlagen der geschlechtergetrennten Bildung dargelegt. Rendtorff zeigt die Implikationen der Bildung dualer Kategorien auf und erläutert die Begriffe Einstellung, Stereotyp und Vorurteil. In einem historischen Rückblick werden die Erklärungsmuster für Geschlechterunterschiede von Aristoteles und Möbius skizziert und die pädagogischen Konzepte von Rousseau, Campe und Pestalozzi zusammenfassend dargelegt. All diese Konzepte haben ihren Ausgangspunkt in der mit der Industrialisierung etablierten Trennung der Lebensbereiche (öffentlich – privat, Produktion – Reproduktion) und basieren auf der Annahme, dass sowohl Bildung als auch Tätigkeiten von Frauen auf den privaten Lebensbereich der Familie beschränkt bleiben sollen. Die Autorin zeichnet nach, wie die erste Frauenbewegung gegen Ende des 19. Jahrhunderts nicht nur das Wahlrecht für Frauen einforderte, sondern auch das Recht auf Bildung für Mädchen sowie das Recht auf Erwerbsarbeit für bürgerliche Frauen, letzteres insbesondere in Form des Lehrerinnenberufs. Helene Langes These von der ‚geistigen Mütterlichkeit‘ war hier die zentrale argumentative Legitimationsfigur – eine janusköpfige allerdings, da sie einerseits die Bildung von Mädchen ermöglichte und die Notwendigkeit der Tätigkeit von Frauen in öffentlichen Bildungseinrichtungen begründete, die Frauen zugleich aber in ihrer Arbeit auf den Aspekt des ‚Mütterlichen‘ festlegte. Bei ihrem historischen Rückblick interessieren die Autorin insbesondere die Auswirkungen auf das heutige Denken der Menschen über sich selbst und die Welt, und auf die Art und Weise, wie sie diese Welt organisieren. Denn die geschlechtstypischen Strukturen, die das Bildungswesen teilweise heute noch prägen, sind auf diese historischen Aspekte zurückzuführen: „die Verbindung von Frauen mit kleinen Kindern, mit den ‚weichen‘ Fächern, den musischen und den Sprachen sowie der Männer mit älteren Kindern und Jugendlichen und zu den Gebieten, die mit entscheiden, handeln, forschen, planen und verstehen verbunden sind“ (S. 34).

Im dritten Kapitel thematisiert die Autorin geschlechtstypische Aspekten in Kindheit und Jugend. Mit Hilfe der Begriffe ‚symbolisches System‘, soziale Konstruktion von Geschlecht‘ (und später auch ‚Geschlechtsidentität‘) führt sie zunächst noch einmal einen Denkrahmen ein. Sie schildert verschiedene empirisch nachgewiesene Phänomene geschlechtstypischer Auffälligkeiten im Kindes- und im Jugendalter – wie z.B. die Unterschiede nach der Pubertät in Bezug auf physische Aggression oder die Lesekompetenz – und weist anhand dieser Beispiele nach, dass ein einfacher, direkter Zusammenhang von biologischen Phänomenen und geschlechtstypischem Verhalten nicht nachgewiesen werden kann. Ihre Bilanz lautet vielmehr: „Für die Entwicklung der einzelnen Kinder und Jugendlichen und für ihre Geschlechtsidentität ist der Einfluss der Gesellschaft enorm.“ (S. 64)

Geschlechterstereotype sind auch die Grundlage für pädagogische Beziehungsmuster (Kap. 4). Die unterschiedliche Bedeutung von Frauen und Männern für Erziehung und Bildung zeichnet die Autorin wiederum mit Hilfe eines historischen Rückblicks auf unterschiedliche Erziehungskonzepte nach: dem Konzept der Mutterschule von Comenius, dem humanistische Bildungskonzept von Humboldt, der Denkfigur des sog. ‚Hausvaters‘, dem geisteswissenschaftlichen Bildungskonzept von Nohl. So arbeitet sie heraus, dass „die Verknüpfungen Mutter-Frau-Erziehung versus Vater-Mann-Bildung-Arbeit auf die Unterscheidung zwischen den Bereichen Erziehung und Bildung kondensiert und verschoben wird, wie etwa in der Vorstellung spezieller weiblich-mütterlicher Eignung“(S. 81).

In den nächsten beiden Kapiteln geht es um die Frage, wie sich die im gesellschaftlichen Kontext entstandenen Denkweisen und Strukturen auf den Bereich der Schule niederschlagen. Anhand von Beispielen wird aufgezeigt, dass schulische Leistungen das Ergebnis eines komplexen Zusammenspiels unterschiedlicher Faktoren sind. Um die Bildungsgewinne der Mädchen in den letzten Jahren angemessen zu verstehen, muss die Bezugnahme auf die Kategorie Geschlecht ergänzt werden um diejenige auf Schicht: Denn diese Bildungsgewinne sind ausschliesslich auf Leistungen von Mädchen zurückzuführen, die zur bildungsambitionierten Mittel- und Oberschicht gehören, und die Bildungsnachteile von Jungen sind zurückzuführen auf Leistungen von Jungen aus bildungsfernen Schichten. So warnt die Autorin vor einer eindimensionalen, verkürzenden Interpretation empirischer Studien. Des Weiteren geht sie auf geschlechtsbezogene stereotype Erwartungen von Lehrkräften ein, auf Geschlechterunterschiede bei der Fächerwahl in der Oberstufe und bei der Berufs- und Studienwahl. Schliesslich werden – wiederum in einer historischen Perspektive – die verschiedenen Phasen der Koedukationsdebatte und ihre Argumentationsfiguren nachgezeichnet. Im Schlusskapitel findet sich eine Zusammenfassung der aktuellen Debatte zum Umgang der Schule mit der Geschlechterfrage, und es werden allgemeine Folgerungen für die pädagogische Praxis abgeleitet.

Diskussion

Der Titel ‚Bildung der Geschlechter‘ lasse sich auf zweierlei Weise lesen, hält die Autorin eingangs fest (vgl. S. 7): Er könne sich auf Bildungsprozesse von Kindern und Jugendlichen in schulischen oder ausserschulischen Kontexten beziehen, er könne aber auch den Prozess meinen, wie Geschlechter sich herausbilden, wie sie hervorgebracht werden (vgl. S. 7). Die Autorin benutzt und beleuchtet im vorliegenden Buch immer wieder beide Zugänge. Allerdings liegt der Fokus trotz der eingangs breiten Begriffsbestimmung ganz eindeutig bei Bildung im Kontext der Schule; ausserschulische Bildungsprozesse werden höchstens gestreift.

Bevor Barbara Rendtorff ihren historischen Rückblick auf pädagogische Erklärungsansätze beginnt, finden sich grundsätzliche Ausführungen zu den Implikationen der dualen Kategorienbildung ‚Mann – Frau‘: Diese Unterscheidung widerspiegle keineswegs eine ‚natürliche‘ Ordnung, sondern sei vielmehr eine menschliche Konstruktionsleistung, die dazu diene Ordnung zu stiften und Unsicherheit zu reduzieren. Die entsprechenden Denkgewohnheiten färbten die menschliche Wahrnehmung ein, Unterschiede würden betont und ‚vereindeutigend‘ als Gegensätze interpretiert (vgl. S. 22). Ebenso folgenreich sei die Neigung zur Hierarchiebildung, indem das ‚Andere‘ als das weniger wertvolle deklariert wird. – Diese grundsätzlichen Ausführungen zu menschlichen Denkmustern, die sich ab und an auch in späteren Kapiteln finden, sind differenziert, gut nachvollziehbar und spannend zu lesen (einzig die Systematik diesbezüglich lässt einige Fragen offen).

Die Autorin fragt in ihrem Buch danach, wie das heutige Bildungssystem in Bezug auf Geschlecht organisiert ist, welche Bedeutung die Geschlechtszugehörigkeit hat – einerseits diejenige der Kinder, die sich in Bildungsprozessen befinden, andererseits diejenige der Professionellen, die sie dabei unterstützen. Ausgehend von der Grundüberzeugung, dass sich solche Fragen nur mit einer historischen Perspektive angemessen beantworten lassen, nutzt sie bei fast jedem Thema auch einen historischen Zugang. Das ist oft spannend, vermittelt Rendtorff doch durch die zusammenfassende Darstellung ausgewählter pädagogischer Konzepte, politischer Entwicklungen und Diskussionsstränge einen guten Einblick in Argumentationsfiguren, die oft auch heute noch zumindest mittelbar wirksam sind. Zuweilen hat das das ständige Hin und Her zwischen Gegenwart und Vergangenheit auch etwas Ermüdendes (wobei dies auch dem nicht immer ganz klaren Aufbau sowie den nur teilweise aussagekräftigen Kapiteltiteln geschuldet sein mag).

Die zweite Grundüberzeugung und zugleich zentrale Aussage bezieht sich auf die Interpretation von Geschlechtereffekten. Geschlechtsspezifische Auffälligkeiten, beispielsweise in Bezug auf schulische Leistungen und Leistungsprofile, können zwar empirisch nachgewiesen werden, sind hinsichtlich Interpretation jedoch anspruchsvoll und können durch eindimensionale, einzig auf ‚Geschlecht‘ bezogene Erklärungen nicht hinreichend verstanden werden. Rendtorff weist überzeugend nach, dass das komplexe Wechselspiel unterschiedlicher Einflüsse die Bezugnahme auf mehrere Kategorien erfordert. Das liest sich wie eine Illustrationen des aktuellen Intersektionalität-Konzepts, gemäss dem Ungleichheit und Benachteiligung nur mit Hilfe einer Kategorien-Trias erfasst werden kann – auch wenn der Begriff erstaunlicherweise nie erwähnt wird.

Der Text ist gut verständlich geschrieben. Etwas gewöhnungsbedürftig ist der Stil, der stellenweise den Duktus gesprochener Sprache trägt. Eine redaktionelle Bearbeitung der offensichtlich als Vorlesungen entstandenen Texte hätte dem Buch gut getan.

Abschliessend finden sich glücklicherweise keine Handlungsanweisungen für den Umgang mit der Geschlechterthematik in der Schule, sondern vielmehr ein Sammlung von Fragen, die sich Lehrkräfte stellen müssen. Denn Antworten sind – auf der Basis einer eigenen Auseinandersetzung mit der Thematik – immer wieder situationsspezifisch neu zu entwickeln und in pädagogisches Handeln umzusetzen. Und die Auswirkungen des eigenen Handelns sind kritisch zu reflektieren: Auch, aber nicht ausschliesslich, im Hinblick auf die Auswirkungen auf Mädchen und Jungen (bzw. viele oder manche unter ihnen).

Fazit

Das kleine Buch von Barbara Rendtorff bietet eine fundierte, differenzierte Auseinandersetzung mit dem Thema Bildung der Geschlechter aus unterschiedlichen Perspektiven. Wer sich für Hintergrund und Entwicklung des heutigen Bildungssystems in seinen Strukturen hinsichtlich Geschlecht interessiert, wird Freude haben an der an zusammenfassenden Darstellung früherer pädagogischer Konzepte und historischer Entwicklungen, wird interessante Zusammenhänge entdecken und neue, differenzierte Erklärungen finden zu Befunden von Geschlechtereffekten in der heutigen Schule.

Das Buch ist geeignet für Studierenden der Schulpädagogik sowie Lehrkräfte, die an einer historischen wie theoretischen Auseinandersetzung mit Geschlechteraspekten von Bildung interessiert sind.

Rezension von
Prof. Dr. Ursula Hochuli Freund
Dozentin an der Hochschule für Soziale Arbeit (Institut für Professionsforschung und kooperative Wissensbildung) der Fachhochschule Nordwestschweiz. Arbeitsschwerpunkte: Professionelles Handeln in der Sozialen Arbeit, Soziale Diagnostik, Geschlechtersozialisation
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Es gibt 4 Rezensionen von Ursula Hochuli Freund.

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ISSN 2190-9245