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Dominik Groß (Hrsg.): Who wants to live forever?

Rezensiert von Matthias Meitzler, 24.11.2011

Cover Dominik Groß (Hrsg.): Who wants to live forever? ISBN 978-3-593-39479-4

Dominik Groß (Hrsg.): Who wants to live forever? Postmoderne Formen des Weiterwirkens nach dem Tod. Campus Verlag (Frankfurt) 2011. 336 Seiten. ISBN 978-3-593-39479-4. D: 34,90 EUR, A: 35,90 EUR, CH: 47,90 sFr.
Reihe: Todesbilder - Band 5.

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Thema

Der Tod gilt als anthropologische Konstante, mit der sich Menschen aller Kulturen schon von jeher auseinander setzen mussten. Der soziale Umgang mit diesem „Feind des Lebens“ ist von einer Vielfalt historisch sowie kulturell geprägter Rituale gekennzeichnet, die einerseits den Abschied vom Toten erleichtern und diesen andererseits noch für eine gewisse Zeit „sozial präsent“ halten. Ebenso lange, wie Menschen um ihre eigene Vergänglichkeit wissen, suchen sie nach Wegen, wie diese zugunsten von Unsterblichkeit umgangen werden kann. Ein traditionelles und gleichsam prominentes Beispiel äußert sich in der Konstruktion einer hypothetischen Welt namens „Jenseits“, in der – im Gegensatz zum irdischen Dasein – ein postmortales Fortexistieren möglich sein soll. Im Zuge von medizinischen bzw. technischen Innovationen, Säkularisierungs-, Liberalisierungs-, Mobilisierungs- und Individualisierungsprozessen ist in der westlichen Gesellschaft des noch jungen 21. Jahrhundert ein massiver Einschnitt innerhalb der Bestattungs-, Trauer-, und Erinnerungskultur zu verzeichnen, welche sich zunehmend aus der Umklammerung juristischer Vorschriften und tradierten Konventionen löst und vermehrt neue Ausdrucksformen aufweist. Moderne Bestattungspraktiken (wie etwa die Beisetzung unter einem Baum im so genannten „Friedwald“), virtuelle „Onlinefriedhöfe“ oder die zunächst absonderlich anmutenden Methoden von Diamantierung, Plastination und Kryonik sind nur ein paar von vielen Beispielen. Nicht zuletzt haben sich hierdurch auch alternative Ideen des wie auch immer gearteten Weiterwirkens nach dem Tod entwickelt, mit denen sich der vorliegende Sammelband facettenreich auseinander setzt. Die genannten Entwicklungen verdeutlichen, dass das soziale Verhältnis zum Tod einem fortwährendem Wandel unterliegt und stets von neuem zu definieren ist.

Herausgeber und Herausgeberin

Dominik Groß ist Medizinhistoriker und -ethiker. Er leitet das Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der RWTH Aachen und ist zudem Sprecher des Aachener Kompetenzzentrums für Wissenschaftsgeschichte. Seine Forschungsschwerpunkte liegen bei der (früh-)neuzeitlichen Medizingeschichte, der angewandten Medizinethik und der Stigmatisierung der Medizin. Brigitte Tag ist Professorin an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Zürich. Sie forscht u. a. zu Medizinrecht und -ethik. Christoph Schweikardt arbeitet als Mediziner und ist überdies Forschungsgruppenleiter im Projekt „Tod und toter Körper“ an der RWTH Aachen.

Entstehungshintergrund

Der Band ist die fünfte Ausgabe der Reihe „Todesbilder. Studien zum gesellschaftlichen Umgang mit dem Tod“, welche im Campus-Verlag erscheint. Ausgangspunkt ist eine Tagung vom Oktober 2010 am Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der RWTH Aachen mit dem Thema „Postmoderne Formen des Weiterwirkens nach dem Tod“ (so auch der Untertitel des Bandes). Die Veranstaltung ist Bestandteil des von der „VolkswagenStiftung“ geförderten Forschungsprojektes „Tod und toter Körper: Zur Veränderung des Umgangs mit dem Tod in der gegenwärtigen Gesellschaft“.

Aufbau

Das Buch enthält insgesamt 16 Beiträge eines interdisziplinären Autorenteams. Neben Medizinern, Juristen und Historikern kommen u. a. auch Theologen, Soziologen und Philosophen zu Wort. Einer thematischen Einführung der Herausgeber folgen vier Abschnitte:

  1. Zum Umgang mit dem Tod in der Postmoderne
  2. Alternative Bestattungsformen
  3. Organtransplantation, Plastination und postmortale Auferstehungsmärkte
  4. Technikgläubigkeit und Unsterblichkeitsutopie: die Kryonik

Inhalt

Bereits im einführenden Text der Herausgeber erhält die übergeordnete Thematik des Sammelbandes – die Idee des postmortalen Weiterwirkens – eine besonders exponierte Stellung. Versöhnlich konstatieren die Angehörigen eines Verkehrsunfallopfers in einer dort abgedruckten Todesanzeige: „Sein Herz schlägt jetzt in einem anderen Menschen weiter“. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts denke sich der moderne Mensch seinen Tod und die viel zitierte „Zeit danach“ neu. Dies spiegele sich besonders in der zunehmenden Abkehr von christlichen Ritualen wider – und in der Infragestellung des Friedhofs als traditionellem Ort von Trauer und Erinnerung. Der Beitrag von Hubert Knoblauch befasst sich mit der Bedeutung der klinischen Sektion vor dem Hintergrund gesellschaftlicher bzw. medizinischer Wandlungsprozesse. Der soziale Umgang mit dem Tod wird sowohl hinsichtlich der Verdrängungs- als auch der Popularisierungsthese analysiert. Die klinische Sektion könne insofern als eine Art des postmortalen Weiterwirkens verstanden werden, als diese auf die Intention des Verstorbenen hin geschehe, wie mit dessen Körper umzugehen sei. Ein besonderer Aspekt ist die Rückläufigkeit der Sektionszahlen und die daran anknüpfende Ursachenforschung. Ina Schmied Knittel thematisiert das Phänomen der so genannten Nahtoderfahrungen. Dabei stellt sie mit der Gehirnhypothese (materialistische Positionen) und der Überlebenshypothese (eschatologische Positionen) zwei miteinander konkurrierende Ansätze gegenüber, betont jedoch gleichzeitig, dass keiner von ihnen die besagte Erscheinung generell und erschöpfend erklären kann. Im Text von Kirsten Brukamp geht es um das Weiterwirken der Toten durch ihre Repräsentation. Die Autorin verweist auf die Melange aus traditionellen und postmodernen Elementen der Erinnerung an Verstorbene. Schwerpunktmäßig beleuchtet werden die moderne Kommunikationstechnik des Internets (virtuelle Friedhöfe, soziale Netzwerke etc.) und deren Relevanz für das Weiterwirken nach dem Tod durch Erinnerung. In seiner Printmedienanalyse widmet sich Florian Asché den Phänomenen Organspende, Kryonik, Plastination und Diamantbestattung. Wie häufig werden die genannten Methoden in ausgewählten Printmedien thematisiert? Und wie prominent ist dabei das Motiv des postmortalen Weiterwirkens jeweils vertreten? Eine in den vergangenen Jahren immer häufiger durchgeführte Praxis – die Kremation – ist Hauptgegenstand des Beitrags von Kerstin Gernig. Zur Beantwortung der Frage nach den konkreten Entscheidungsgründen für die Einäscherung stützt sich die Autorin auf eine vom Bundesverband Deutscher Bestatter 2008 veröffentlichte Emnid-Umfrage. Neben abergläubischen, hygienischen oder pragmatischen Motiven scheint vor allem die Tatsache, dass sich mit der Kremierung – im Gegensatz zur Erdbestattung – mannigfaltige Bestattungsoptionen bieten, als zentrales Argument ins Feld geführt zu werden. Einen weitreichenden Überblick über die modernen Formen der Bestattungs- und Erinnerungskultur (unter der Prämisse neuer Inszenierungen und Orte von Tod, Trauer und Erinnerung) liefert Norbert Fischer. Deren besonderes Signum sei das „Auseinanderdriften von Bestattungsort einerseits und Erinnerungsort andererseits“ (125). Damit wird auf den scheinbaren Bedeutungsverlust der Friedhöfe angespielt, die inzwischen Konkurrenz von entlokalisierten Alternativen erhalten. In ähnlicher Weise befasst sich Reiner Sörries mit der Vielfalt alternativer Bestattungsformen, deren Hauptbedeutung er in „der Sicherung der postmortalen Identität des Verstorbenen“ sieht (145). Während es angesichts gesellschaftlicher Pluralisierung, gestiegener Mobilität, gebrochenen Berufsbiografien etc. immer schwieriger werde, Identität zu konstituieren, könne die gewählte Bestattungsform, welche (idealerweise) zum Verstorbenen „passt“, eine postmortale Option hierzu bieten. Dies sei beispielsweise dann der Fall, wenn die Art der Bestattung die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe ausdrückt. Auf diesem Weg könne die Gesinnung auch über den Tod hinaus weiterwirken. Den Gedanken der Gruppenzuordnung greift der daran anschließende Beitrag von Markwart Herzog unmittelbar auf, indem er sich exemplarisch mit den „transgenerationale[n] Gemeinschaften“ (164) der Fußballclubs und -fans beschäftigt. Es geht um Formen und Möglichkeiten, anhand derer Fußballfans ihre Vereinstreue über den Tod hinaus inszenieren können. Beispielhaft wird dies am Hamburger Sport Verein (HSV) sowie anhand der Fankultur in den Niederlanden und Großbritannien erörtert. Der Text von Günter Kirste über die Bedeutung der Organspende knüpft, wenn man so will, an die bereits in der Einleitung zitierte Todesanzeige an. Denn im Zentrum steht die Frage, ob nun im Fall einer Organspende tatsächlich von einem partiellen Weiterleben (in einem fremden Körper) gesprochen werden könne. Medizinisch betrachtet, falle es nicht allzu schwer dies zu bejahen – schließlich bleibe das transplantierte Organ in seiner Funktionalität ja erhalten. Jedoch dürften die Motive der Spender vielmehr von altruistischer Natur sein. Der Gedanke, der Verstorbene lebe nun in einem anderen Körper weiter, mag dabei lediglich seinen Angehörigen Trost spenden und der Sinngebung eines plötzlichen Todes dienen. Die Beiträge von Liselotte Hermes da Fonseca, Franz Josef Wetz und Rebecca Pates nehmen sich allesamt aus je unterschiedlicher Perspektive dem Phänomen „Körperwelten“ bzw. Plastination als „Form der materiellen Fortexistenz“ (13) an. Gemein ist ihnen die Frage nach dem, was Gunther von Hagens Wanderausstellung für ihre Besucher so populär macht und welche Anlässe sich hinter der Bereitschaft – oder vielmehr: dem ausdrücklichen Wunsch, seinen Körper zu spenden – verbergen. Argumente von Befürwortern wie von Kritikern der Ausstellung werden aufgeführt und einander gegenüber gestellt. Die Kryonik, ein Verfahren, bei dem der Körper eines Verstorbenen bei -196 Grad Celsius tief gefroren wird (in der Hoffnung, der Medizin gelinge es eines Tages, ihn wieder zu reanimieren), ist Gegenstand der Texte von Oliver Krüger, Klaus Sames und Jens Lohmeier & Stephanie Kaiser, die den Sammelband beschließen. Es werden u. a. die historischen Anfänge und Vorläufer der Kryonik nachgezeichnet, das konkrete Verfahren erklärt und dessen gesellschaftliche Relevanz und die massenmedial (re-)produzierte öffentliche Reputation untersucht. Darüber hinaus wird die Kryonik im Text von Lohmeier und Kaiser mit den Unsterblichkeitsutopien der sowjetischen Biokosmisten in den 1920er Jahren auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede hin verglichen.

Diskussion

Der Umgang mit Sterben, Tod und Trauer stellt in der westlichen Gegenwartsgesellschaft ein komplexes Gefüge heterogener Entwicklungsprozesse dar. Dem Sammelband gelingt es (nicht zuletzt aufgrund seines interdisziplinären Anspruchs) diese auf den ersten Blick unübersehbare „Buntheit“ zu erhellen. Auf welch differenzierte Weise die Idee eines postmortalen Weiterwirkens verstanden und analysiert werden kann, macht das Buch deutlich. Entsprechende Phänomene und Vorgänge werden nicht nur anschaulich erklärt, sondern auch hinsichtlich ihrer insbesondere gesellschaftlichen Hintergründe kontextualisiert. Durch seinen interdisziplinären Zugang spricht der Band einen breiten Leserkreis an. Indessen ist er nicht nur für Wissenschaftler geeignet, die sich auf je unterschiedlichen Wegen mit dem Lebensende beschäftigen, sondern bietet auch Laien eine spannende Lektüre. Letzteres wird vor allem mithilfe einer weitgehend verständlichen Sprache, der Visualisierung durch Fotografien und der Übertragung theoretischer Annahmen auf praktische Beispiele gewährleistet. Doch gerade angesichts der großen Bandbreite angesprochener Phänomene überrascht es ein wenig, dass ausgerechnet das Testament, wodurch bestimmte Verfügungen in Gestalt des „letzten Willens“ gerade erst nach dem Ableben des Urhebers wirksam werden, in keinem der zahlreichen Texte explizit genannt wird. Auch hätte die nicht zwingend an materielle Objekte oder Orte gebundene Erinnerung als sozusagen „klassische“ Form des Weiterwirkens nach dem Tod (im Gedächtnis der Hinterbliebenen) wesentlich stärkere Beachtung erfahren können. Stattdessen aber nehmen Aspekte wie Kryonisierung und Plastination, die angesichts der verhältnismäßig geringen Anhängerschaft, (noch?) als Randphänomene zu klassifizieren sind, erstaunlich viel Raum ein – was wiederum zu einigen Redundanzen führt, da entsprechende Verfahren stets von neuem expliziert werden. Die Tatsache, dass letztgenannte Erscheinungen jeweils zwei eigene Themenblöcke einnehmen, führt zu der Frage, ob dies gegenwärtig nicht eher einer gewissen Skurrilität und Medienwirksamkeit geschuldet ist – anstelle einer ernst zu nehmenden gesellschaftlichen Relevanz, die weitere Nachforschungen wert wäre.

Und dennoch: Das Buch zeigt, wie viel Potenzial die Thematik hergibt. Es ist vor dem Hintergrund eines besonders in den letzten Jahren zu verzeichnenden Umbruchs in der Bestattungs-, Trauer und Erinnerungskultur längst überfällig und aktuell. Dank eines starken Anstiegs jüngerer thanatologischer Forschungen befindet es sich bereits in bester Gesellschaft, weshalb einige Inhalte nicht zum ersten Mal zur Sprache kommen. Vieles von dem, was das Buch zum Thema macht, wurde zudem schon in den vier vorangegangenen Bänden der Themenreihe aufgegriffen. Es kann somit als sinnfällige und vertiefende Weiterführung verstanden und gelesen werden. Dass der Sammelband freilich nicht mehr als den Anspruch einer Momentaufnahme erheben kann, leuchtet ein. Rasante Entwicklungen und die in den nächsten Jahren absehbar zunehmende Liberalisierung neuer Bestattungsalternativen lassen bereits erahnen, dass der skizzierte Wandel auch in (naher) Zukunft zu voraussichtlich tiefgreifenden Veränderungen innerhalb der Sepulkralkultur führen wird. Weitere Forschung, die daran anknüpft und sich den künftigen Auswirkungen annimmt, ist deshalb mehr als wünschenswert.

Fazit

Ein gelungenes Buch, das sich an eine breite Leserschaft richtet und zur weiteren Beschäftigungen mit dieser spannenden Thematik anregt. Es bleibt zu hoffen, dass es sich hierbei nicht um die letzte Erscheinung der Themenreihe handelt.

Rezension von
Matthias Meitzler
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Es gibt 14 Rezensionen von Matthias Meitzler.

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Zitiervorschlag
Matthias Meitzler. Rezension vom 24.11.2011 zu: Dominik Groß (Hrsg.): Who wants to live forever? Postmoderne Formen des Weiterwirkens nach dem Tod. Campus Verlag (Frankfurt) 2011. ISBN 978-3-593-39479-4. Reihe: Todesbilder - Band 5. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/12151.php, Datum des Zugriffs 26.03.2023.


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