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Hubert Rottleuthner, Matthias Mahlmann: Diskriminierung in Deutschland

Rezensiert von Prof. Dr. Claus Melter, 18.01.2013

Cover Hubert  Rottleuthner, Matthias Mahlmann: Diskriminierung in Deutschland ISBN 978-3-8329-5578-6

Hubert Rottleuthner, Matthias Mahlmann: Diskriminierung in Deutschland. Vermutungen und Fakten. Nomos Verlagsgesellschaft (Baden-Baden) 2011. 474 Seiten. ISBN 978-3-8329-5578-6. 98,00 EUR. CH: 174,00 sFr.
Reihe: Recht und Gesellschaft - Band 3.

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Thema

In diesem umfangreichen Werk werden sowohl europäische und in Deutschland erstellte Studien zu Diskriminierung in Bezug auf Alter, ethnische Herkunft/zugeschriebene „Rasse“, Religion/Weltanschauung sowie sexuelle Identität als auch umfangreiche eigene Studien zu unterschiedlichen Feldern und den genannten Diskriminierungsaspekten detailliert dargestellt und analysiert. Es handelt sich damit um eine weitreichende Bestandsaufnahme der Forschungen und Berichte zu Diskriminierung in Deutschland in Bezug auf die genannten diskriminierten bzw. benachteiligten Gruppen. Die Studie wurde im Rahmen des Progress Programms der Europäischen Union erstellt und vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugendlichen sowie der Freien Universität Berlin kofinanziert und von einem Forscher_innensystem unter Leitung der Autoren durchgeführt. Die Themen Diskriminierung im Kontext von Geschlechter-, Einkommens- und Staatsbürgerschaftsverhältnissen wurden nur indirekt oder in Bezug auf intersektionale Diskriminierung oder Mehrfachdiskriminierung einbezogen.

Autoren

Em. Prof. Dr. Hubert Rottleuthner leitete zum Zeitpunkt der Studie an der Freien Universität Berlin das Institut für Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung. Prof. Matthias Mahlmann ist am Rechtswissenschaftlichen Institut der Universität Zürich tätig und hat den Lehrstuhl für Rechtstheorie, Rechtssoziologie und Internationales Öffentliches Recht inne.

Zentrale Fragestellung

Die Zentrale Fragestellung ist, welche empirischen Befunde aus der Analyse von Gerichtsprozessen, Betroffenenberichten, Studien zu Diskriminierung, Berichten von Antidiskriminierungsstellen, Aussagen von mit dem Allgemeinen Gleichbehandlungsprozess (AGG) befassten Rechtsanwält_innen sowie aus offiziellen Berichten zu Diskriminierung und sozialer Ungleichheit, zivilgesellschaftlichen Schattenberichten und Medienberichten gewonnen werden können und wie diese Resultate zusammen mit den Ergebnissen der eigenen Studien ein umfassendes, auf wissenschaftlichen Ergebnissen und Analysen beruhendes Bild zu Fragen von Diskriminierung in Bezug auf Alter, ethnische Herkunft/zugeschriebene „Rasse“, Religion/Weltanschauung sowie sexuelle Identität ergeben und wie dies gedeutet werden kann.

Aufbau und Inhalt

Nach einleitenden theoretischen Vorbemerkungen zu Ungleichheit und Diskriminierung sowie der Rekonstruktion der „Realität“ von Diskriminierung (S. 19-38) wird im ersten Kapitel der Stand der Forschungen zu Diskriminierung in Deutschland anhand vielfältiger Studien dargestellt. Nachdem Häufigkeiten der Diskriminierung in Bezug auf Alter, ethnische Herkunft/zugeschriebene „Rasse“, Religion/Weltanschauung sowie sexuelle Identität sowie übergreifende Diskriminierungsaspekte ausführlich präsentiert werden, sortieren die Autoren den aktuellen Forschungsstand (S. 39-162) zu den genannten Diskriminierungsaspekten jeweils für die Bereiche:

  1. Beschäftigung und Beruf
    1. Zugang zu Erwerbstätigkeiten und beruflicher Aufstieg

    2. Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen

    3. d. Mitwirkung in Arbeitnehmer_innen- und Arbeitgeber_innen-Vereinigungen

  2. Sozialschutz einschließlich soziale Sicherheit
  3. Soziale Vergünstigungen
  4. Bildung
  5. Zugang zu und Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen
  6. Weitere Lebensbereiche (wie Sport, Öffentlicher Raum, Politischer Raum, Sozialer Nahbereich (vgl. S. 64 f.)

Im dritten Kapitel werden methodische Fragen der eigenen Untersuchungen dargelegt. Das Untersuchungsdesign umfasst sowohl eine

  • a) Online-Umfrage, an der 925 Personen teilgenommen haben (vgl. S. 167),
  • b) eine umfangreiche Medienanalyse zu Berichten über Diskriminierung in den Jahren 2009 und 2010 (S. 184-280)
  • c) die Befragung von nicht-staatlichen Antidiskriminierungsbüros sowie einzelner Verbände (vgl. S. 230 – 317)
  • d) die Befragung von staatlichen Stellen und Vertreter_innen politischer Parteien (S: 318-328)
  • e) Die Befragung von einschlägig mit dem AGG befassten Anwält_innen (vgl. S. 318-380
  • f) Gerichtsanalysen (vgl. S. 381-417).

Im Anhang werden die Erhebungsinstrumente dargestellt, wird die Literatur aufgelistet (vgl. S. 418 – 445) sowie eine Zusammenfassung (vgl. S. 446-471) erstellt. Abgerundet wird das umfangreiche Werk durch ein Stichwortverzeichnis (vgl. S. 472-474).

Zentrale Ergebnisse

Die komplexen und detaillierten Ergebnisse der vielen umfangreichen Studien angemessen darzustellen, ist im Rahmen einer Rezension nicht möglich. Einige ausgewählte Aspekte seien trotzdem skizziert. „Die Studie versteht – in Anlehnung an internationales rechtliches und theoretisches Standardverständnis – Diskriminierung „als ungerechtfertigte, benachteiligende Ungleichbehandlung.“ (S. 447). Diskriminierungsforschung steht grundsätzlich vor dem methodischen Problem, dass sie sich entweder häufig vor allem auf subjektive Darstellungen bezieht, die zum einen möglichst differenziert sein sollten und zum anderen durch Aussagen Dritter oder andere Beweismittel bestätigt werden können. Oder Diskriminierungen werden anhand von Anzeigen bei der Polizei und Gerichtsprozessen und -urteilen dargestellt. Hierbei wird gerichtlichen Instanzen zugeschrieben, über diskriminierende Sachverhalte autoritativ zu entscheiden. Weitere Nachweisverfahren sind umfangreiche Testingverfahren oder Bezugnahmen auf statistische Daten, die Aspekte sozialer Ungleichheit und von Ressourcenverteilungsfragen behandeln. Alle Studien und angewandten Verfahren, die nur für sich begrenzte intersubjektive Überprüfbarkeit beinhalten können, liefern, wie die Autoren schreiben, Puzzleteile eines Bildes, welches entgegen eigener Hoffnungen empirisch noch unvollständig ist (vgl. S. 446).

Einige ausgewählte Ergebnisse sind:

  • „Das Thema Diskriminierung und Gleichbehandlung erweckt nur geringe Aufmerksamkeit in der Bevölkerung. Mit dem Thema Benachteiligung und Diskriminierung werden eher Fragen des Sozialstaates und der sozialen Gerechtigkeit, der materiellen Benachteiligung, der Situation sozial oder wirtschaftlich benachteiligter Gruppen und deren mangelnder Besserstellung verknüpft.“ (S. 450)
  • „Nach Inkrafttreten des AGG verstießen noch 1 – 5% der Stellenanzeigen in ausgewählten Tageszeitungen gegen das Gebot der diskriminierungsfreien Ausschreibung.“ (S. 452). Es gab kein nennenswertes AGG-Hopping, also das unzulässige Anstreben von Gerichtsverfahren nach dem AGG. (vgl. ebd.)
  • „Personen türkischer Herkunft berichten erheblich häufiger über erfahrene Diskriminierung als Personen aus anderen Herkunftsländern.“ (ebd.)
  • „38 % der ALG II-Bezieher_innen haben einen Migrationshintergrund.“ (S. 453)
  • „Die Erwerbstätigenquote von Menschen mit Behinderung ist erheblich niedriger als bei Menschen ohne Behinderung.“ (vgl. ebd.)
  • Über Diskriminierungen am Arbeitsplatz liegen Fallberichte im Kontext rassistischer Diskriminierung sowie der Diskriminierung gegen Schwule und Lesben vor (vgl. ebd.)
  • Strukturelle Diskriminierung ist in Bezug auf zugeschriebene Behinderung und ethnische Herkunft festzustellen. „Strukturelle Diskriminierungen sind das Produkt von Handlungsvollzügen einer Vielzahl von Menschen, Normen und Institutionen, die einzeln oder in ihrem Zusammenwirken zur ungerechtfertigten Ungleichbehandlung von Menschen führen.“ (S. 24)
  • „Die Armutsrisikoquote ist in der Bevölkerung mit Migrationshintergrund mehr als doppelt so hoch wie bei Personen ohne Migrationshintergrund.“ (vgl. 453)

Entgegen der üblichen Täter_innen-orientierten Praxis im Bereich der Kriminologie gibt es nach Kenntnis der Autoren keine (Anti-)Diskriminierungsstudien, die Personen fragen, ob sie andere Personen diskriminiert haben (vgl. S. 36). Dies ist in Anbetracht der vielfältigen Einstellungsforschungen z.B. im Kontext gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit mehr als veränderungswürdig.

Diskussion

Es handelt sich um ein sehr akribisch recherchiertes und fachlich hochwertiges Werk, das den Forschungsstand aus anderen Studien sowie eigene umfangreiche und methodisch sinnvoll arrangierte Studien multiperspektivisch darstellt. In der Herangehensweise ist es ein vor allem rechtlich und rechtssoziologisch argumentierendes Buch, welches stets die sachliche Ebene beibehält. Allerdings wäre eine allgemeine soziologische Einschätzung nicht nur über das Vorhandensein von Diskriminierung wünschenswert gewesen, sondern auch eine ausführlichere Thematisierung der Theorien sowohl der Ursachen für Diskriminierung und soziale Ungleichheit als auch deren Verhältnis zueinander, eine Diskussion der Themen Intersektionalität und Interdependenz von Diskriminierungs- und Ungleichheitsverhältnissen und Praxen. Zudem wäre neben der Darstellung des Verhältnisses von struktureller und institutioneller zu interaktiver sowie diskursiver Diskriminierung eine weitergehende politische Einordnung sinnvoll gewesen, auch hinsichtlich der Frage von Antidiskriminierungsstrategien und Sozialer Gerechtigkeit. Von der Schreibweise erscheint es angemessen, den Begriff der „Rasse“, der ja wissenschaftlich widerlegt ist und auf problematische Weise Eingang in Gesetze gefunden hat, zumindest durchgängig in Anführungsstriche zu setzen oder besser noch durch den Begriff der „rassistischen Benachteiligung oder Bevorzugung“, wie es das Deutsche Institut für Menschenrechte empfohlen hat (vgl. S. 20), zu ersetzen.

Fazit

Es handelt sich um ein aktuelles Standardwerk zum Forschungsstand von Diskriminierungen in Bezug auf Alter, ethnische Herkunft/zugeschriebene „Rasse“, Religion/Weltanschauung sowie sexuelle Identität und die Schwierigkeiten, Diskriminierung in diesen Bereichen vor Gericht zu bringen. Die Themen Einkommens-, Geschlechterverhältnisse und Diskriminierung im Kontext von Staatsbürger_innenschaft/Nationalstaat (unterschiedliche Aufenthaltsstatus, Europäisches Fürsorgeabkommen, Asyl) wurden gemäß des Forschungsauftrages der EU nicht thematisiert und sollten in zukünftigen Studien gemeinsam mit den behandelten Themen analysiert bzw. sollte der Forschungsstand aus diesen Bereichen ausführlich dargestellt und in intersektionaler Weise analysiert werden.

Durch die sorgfältige Darstellung und die umfangreichen Studien, Hinweise und Materialien handelt es sich um ein wichtiges und sehr gelungenes Buch für Personen, die mit den Themen Diskriminierung/Antidiskriminierung in Beratungskontexten, juristisch oder wissenschaftlich (auch im Studium der Rechts-, Sozial- und Erziehungswissenschaften) befasst sind.

Rezension von
Prof. Dr. Claus Melter
Hochschule Bielefeld, Arbeitsschwerpunkte diskriminierungs- und rassismuskritische Soziale Arbeit in der Migrationsgesellschaft, Krankenmorde in Bethel im Nationalsozialismus, Koloniale Völkermorde in Tanzania und Namibia.
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Es gibt 17 Rezensionen von Claus Melter.

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Zitiervorschlag
Claus Melter. Rezension vom 18.01.2013 zu: Hubert Rottleuthner, Matthias Mahlmann: Diskriminierung in Deutschland. Vermutungen und Fakten. Nomos Verlagsgesellschaft (Baden-Baden) 2011. ISBN 978-3-8329-5578-6. Reihe: Recht und Gesellschaft - Band 3. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/12161.php, Datum des Zugriffs 12.09.2024.


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