Carl Peter Kleidat: Bedingungen der Akzeptanz von Reform
Rezensiert von Dr. Armin König, 06.12.2011
Carl Peter Kleidat: Bedingungen der Akzeptanz von Reform. VS Verlag für Sozialwissenschaften (Wiesbaden) 2011. 382 Seiten. ISBN 978-3-531-18072-4. 49,95 EUR.
Thema und Hintergrund
Jede Zeit hat ihre Reformen, ob im Bildungsbereich, in der Verwaltung, in der Politik oder in der Wirtschaft. Das gilt nicht nur national, sondern auch international. „Reformen sind allgegenwärtig“, schreibt Carl Peter Kleidat in seiner Einführung (17), um gleichzeitig deren Sinnhaftigkeit in Zweifel zu ziehen, da nicht das Gelingen, sondern „das Scheitern von Reformen als der Normalfall betrachtet werden“ (17) könne. Und damit beginnt das Dilemma: „Reformen verfehlen zumeist ihre ehrgeizigen Ziele und bleiben in diesem Sinne erfolglos. Da aber ständig neue Reformen initiiert werden, kann man davon sprechen, dass Reformen als ein Schema für geplante Veränderungen überaus erfolgreich sind.“ (17) Hier beginnt das Erkenntnis-Interesse des Soziologen: Wie passt es zusammen, dass Reformen trotz ihrer faktischen Erfolglosigkeit zum internationalen Erfolgsschema geworden sind und unter welchen Bedingungen wird dieses Schema in Institutionen akzeptiert. Wären Reform nur „Blendwerk“ (352) und Fassade, um andere zu beeindrucken, dann wären sie überflüssig. Wenn sie aber zu dazu führen, dass Organisationen und Institutionen „zu einem besseren Verständnis des eigenen Systems gelangen könnten“ (355), dann gibt es durchaus Hoffnung, dass Reformen auch sinnvoll sein könnten, um aufzuklären und Veränderungen einzuleiten. Der Autor untersucht unter besonderer Bezugnahme auf die Reformforschung Nils Brunssons das Phänomen, dass „Organisationen ihre wiederkehrenden Reformen als einen Kreislauf aus Forderungen, Hoffnungen und Enttäuschungen“ (18) durchleben und dabei das Verfehlen ursprünglicher Ziele immer wieder vergessen oder verdrängen. Basis der theoretischen Betrachtungen ist einerseits die soziologische Systemtheorie der Bielefelder Schule nach Luhmann, andererseits der Neo-Institutionalismus. Daran schließt sich eine Fallstudie aus dem Bereich der öffentlichen Verwaltung zum Neuen Kommunalen Finanzmanagement (NKF) und zur Einführung der so genannten Doppik an.
Autor
Carl Peter Kleidat ist Soziologe und wurde an der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld promoviert. Seine Forschungsinteressen gelten der Organisationsforschung, der Soziologie der öffentlichen Verwaltung sowie Governance-, Planungs- und Entscheidungstheorien.
Entstehungshintergrund
Bei der Studie handelt es sich um eine geringfügig überarbeitete Version der Dissertation von Carl Peter Kleidat, die im November 2010 von der Fakultät für Soziologie de Universität Bielefeld angenommen wurde (Gutachter: Veronika Tacke, Klaus Dammann).
Aufbau und Inhalt
Nach der Einführung ins Thema gibt Kleidat einen Überblick über den soziologischen Forschungsstand zu den Schlüsselthemen der Studie, nämlich zu Reform und Akzeptanz. Außerdem erläutert er an Hand des Neo-Institutionalismus mögliche Unterscheidungen zur Beobachtung von Reformen (Talk, Decision, Action) sowie Grundlagen des Organisationswandels, die für sich betrachtet schon lesenswert sind. Ein Schwerpunkt ist dabei Luhmanns Evolution sozialer Systeme. „Und Evolution bedeutet Unplanbarkeit der Strukturänderung, fehlende Koordination und ‚zufälliges Ineinandergreifen der Mechanismen Variation, Selektion und Restabilisierung“. (77) Schon in diesem theoretischen 2. Kapitel ist die kritische Grundhaltung gegenüber Reformen erkennbar. Außerdem werden Reformziele, „Reformbetroffene als organisationsinternes Publikum“ (110ff.), Reformrisiken, „Akzeptanz als Konsens, Verständigung und Zustimmungsunterstellung“ (127ff.), die „Steigerung der Akzeptanzwahrscheinlichkeit durch Erfolgsmedien“ (137) sowie Besonderheiten des Akzeptierens in Organisationen dargestellt. Es geht kursorisch und theoretisch um Motivationsmittel wie Geld und Boni, um Umwelterwartungen, um Werte und Sinnfragen, um Emotionen und Ästhetik, um Kultur und Sozialverhalten sowie um Macht. Im dritten Kapitel steht „das Verstehen der positiven organisationale[n] Sicht von Reform“ (172) im Mittelpunkt. Der Autor problematisiert die „Wahrscheinlichkeit von Reformakzeptanz“ (172) und formuliert Hypothesen zu den „Bedingungen der Möglichkeit von Reformakzeptanz“ (172). Das Erkenntnisinteresse dreht sich um die Einschränkung von Reformpaketen auf „Machbares“ (185), die Fähigkeit von Organisationen, Misserfolge zur vergessen, um Heucheleien „und wie sich Organisationen bei Reform selbst beschwindeln können“ (196) sowie um den Einsatz der bereits genannten Erfolgsmedien. Im Mittelpunkt des ambitionierten vierten Kapitels stehen erkenntnistheoretische Bemerkungen zum wissenschaftlichen Beobachten und zur Systemtheorie. Umfangreich untersucht Kleidat seine theoretischen Betrachtungen im fünften Kapitel in einer Fallstudie in der Stadt X, die das neue Kommunale Finanzmanagement (NKF) eingeführt hat. Er differenziert zwischen Reform und Reformdiskurs und beschreibt Fallzugang und Datenerhebung an Hand von Interviews und teilnehmender Beobachtung. Die wichtigsten Ergebnisse werden in fünf Unterabschnitten beschrieben: von „ultra posse nemo obligatur“ (niemand kann zu etwas verpflichtet werden, was praktisch unmöglich ist) über „aufgehübschte“ (298) Reformmemoiren dank eines selektiven Organisationsgedächtnisses, „organisierte Heuchelei“ (315), die von Reformeifer verdeckt wird, bis hin zum „Erfolgsmedium“ Macht – wobei sich alle Reformbeteiligten als Reformopfer betrachten konnten, da die Einführung des NKF von der übergeordneten Macht der Landesregierung NRW angeordnet wurde. Bleibt noch die Fremd- und Selbstbeobachtung. Sie habe nicht zur Akzeptanz beigetragen, stellt die Studie fest, weil jeder sich selbst der Nächste sei und auf eigene Individualität setze.
Im Kern bedeutet dies, dass Reformen dann akzeptiert werden, wenn sich die Machtpromotoren auf das Machbare konzentrieren, wenn Misserfolge aus der Vergangenheit ausgeblendet werden und wenn im Rahmen von „Reformpaketen“ unterschieden wird zwischen den allgemeinen, langfristigen Zielen der Reform und den konkreten Reformdiskursen und -umsetzungen. „Die Akzeptanz eines Reformpakets impliziert also nicht eine dauerhafte Akzeptanz aller Reformrespezifikationen“ (345). Verwaltungen und Organisationen, die darauf spezialisiert sind, „Reformaction“ (347) zu produzieren, indem sie kleine Ziele in kleinen Einheiten umsetzen, können intern Akzeptanz gewinnen, indem sie filtern und aussieben: „Nur die Vorschlägen eines Reformpakets, die kausal überzeugen, werden zweckrational weiter bearbeitet.“ (347) Ansonsten schalte die Organisation auf Skepsis um. „So kommt es in der Evolution des Reformierens zu einem Zurechtstutzen des Reformpakets nach dem Kriterium zweckrationaler Tauglichkeit“. (347) Mag das Paket am Ende auch deformiert sein – man kann damit zweckrational umgehen. „Talk, Decision und Action“ (349) fallen am Ende auseinander. Bleibt die Frage, ob „Reform als Blendwerk“ (352) dient oder ob es auch hilft, verborgene „Organisationsträume sichtbar werden zu lassen“ (352) und damit zur „Visibilisierung“ (352) beizutragen. Damit würden dann aufklärerische Absichten verfolgt. Das muss in jeder Organisation selbst entschieden werden – und das geschieht auch.
Diskussion und Fazit
Das Fazit Kleidats fällt recht eindeutig aus: „Gerade das Reformversagen im instrumentell-rationalen Sinne und die Evaluierung der Kosten und Schäden einer Reform könnten Organisationen irgendwann dazu animieren, verstärkt bescheidenere Formen der Veränderungsplanung zu wählen und nach theoretischen Angeboten Ausschau zu halten, die einen künftigen Verzicht auf Reform wissenschaftlich stützen können.“ (355) Das ist mutig – und möglicherweise illusorisch. Aber vernünftig wäre es. Kosten würden dabei jede Menge gespart, zumal moderne Organisationen im Sinne der Systemtheorie erstens nichttrivial und sehr komplex und zweitens dynamisch sind – also mit jeder neuen Entscheidung in Veränderung begriffen. Verzicht wäre möglich. Angesichts der Heilsversprechen und der mittlerweile auch wirtschaftlichen Macht von Reformen und Reformpromotoren bleibt aber wohl eher die alternative Light-Variante: Reformen wird es auch weiterhin geben, möglicherweise mit Ewigkeitsperspektive, doch „warum resignieren“ (354), fragt Kleidat. Es gibt ja noch eine sehr elegante Variante der Akzeptanz dieser Sisyphus-Arbeit: „Organisationen können Reformen deshalb akzeptieren, weil sie nicht sich selbst, sondern ihre Reformen reformieren.“ (355) Dann gilt auch Albert Camus‘ Hypothese vom „Mythos des Sisyphos: „Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.“ (2004: 159f.) In diesem Sinne dürften akzeptierte Reformer glückliche Menschen sein.
Rezension von
Dr. Armin König
Bürgermeister der Gemeinde Illingen, Verwaltungswissenschaftler. Dozent an der Fachhochschule für Verwaltung des Saarlandes (FHSV).
Es gibt 24 Rezensionen von Armin König.
Zitiervorschlag
Armin König. Rezension vom 06.12.2011 zu:
Carl Peter Kleidat: Bedingungen der Akzeptanz von Reform. VS Verlag für Sozialwissenschaften
(Wiesbaden) 2011.
ISBN 978-3-531-18072-4.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/12168.php, Datum des Zugriffs 13.09.2024.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.