Frank-Olaf Radtke: Kulturen sprechen nicht
Rezensiert von Prof. i.R. Dr. Franz Hamburger, 27.02.2012

Frank-Olaf Radtke: Kulturen sprechen nicht. Die Politik grenzüberschreitender Dialoge. Hamburger Edition (Hamburg) 2011. 130 Seiten. ISBN 978-3-86854-238-7. D: 12,00 EUR, A: 12,40 EUR, CH: 17,90 sFr.
Thema
Die Transformation europäischer Gesellschaften durch Einwanderung ruft grundsätzliche Debatten über ihr Selbstverständnis hervor. Denn die nationalstaatliche Verfasstheit dieser Gesellschaften war 200 Jahre lang mit ethnischer Schließung und Homogenisierungsdruck verbunden, dem auch schon in der Vergangenheit Einwanderungsprozesse unterworfen wurden. In diesen Debatten wird ebenso wie in anderen Regionen der Welt und bei anderen Problemlagen der „Dialog der Kulturen“ als Problemlösung propagiert.
Doch als Lösung für welches Problem? Das ist die Frage von Frank-Olaf Radtke in seinem kleinen und feinen Buch. Weil „Kulturen nicht sprechen“, muss das, was unter der Formel „Dialog der Kulturen“ gemeint ist, genauer untersucht werden. Und Radtke tut dies mit den Mitteln der Luhmannschen Systemtheorie. Dabei zeigt sich schnell, dass die Lokalisierung von Konflikten oder Differenzen in der Dimension von „Kultur“ eine Verschiebung mit verhängnisvollen Konsequenzen darstellt. Weil „Kulturen“ wie Religionen unter dem Gesichtspunkt des wechselseitigen Ausschlusses konzipiert werden, macht erst die Problemverschiebung – wie im „Dialog der Religionen“ - den Konflikt unlösbar: denn Religionen schließen sich ihrem Anspruch nach aus. Der politische Nationalismus, der sich die Doppelstaatsangehörigkeit nicht universal vorstellen kann, weil man dann keine Kriege mehr gegeneinander führen kann, kehrt in der Arena der Kultur zurück – und mit ihm der Rassismus.
Aufbau und Inhalt
In locker verbundenen acht Kapiteln behandelt Radtke die verbreiteten Formen kulturalisierender Definitionen. Mit spitzer Feder kritisiert (und karikiert gelegentlich) Radtke einleitend die smarte Programmatik des (inter-)kulturellen Dialogs. Auf globaler, kontinentaler und nationaler Ebene wimmelt es nämlich nur so von Mottojahren und Preisausschreiben, in denen diffus aber wirksam Kulturalisierung als eine Strategie im „Kampf der Kulturen“ eingesetzt wird. Schon auf den ersten Blick zeigt sich, dass eine politische Position ihre Dominanzinteressen verschleiert hinter einem feierlich vorgetragenen und moralisch aufgeladenen Menschenrechtsanspruch, der gegenüber „den anderen“ als Dialogangebot suggeriert wird.
In einem weiteren Schritt untersucht Radtke die Programmformel „Dialog“ als „Redeform“ und zeigt ihren Charakter als „Pathosformel“, die die Prozesse der Formation des Eigenen nach innen und der scheinbar unüberwindlichen Differenz nach außen verschleiert. Dies tritt auch dadurch ein, dass diejenigen, die sich als Sprecher einer Kultur gerieren, Definitionskompetenzen und damit Herrschaftswillen für sich in Anspruch nehmen.
Nach dieser Problemexposition untersucht Radtke in mehreren Schritten die Verwendung des Kulturbegriffs als Prozess der Kulturalisierung von unterschiedlichen und komplexen Problemlagen. Im Unterschied zu allen anderen sozialen Einheiten wie Organisationen, Staaten usw. können Kulturen nicht handeln, sind nicht abgrenzbar und werden nur verwendet, um den Eindruck einer handelnden Einheit zu erzeugen. Die „Kultursprecher“ können mit dem Verweis auf Kultur ihre Organisationsrolle aufwerten, die „Kulturträger“ vereinheitlichen und damit ihre Macht absichern. „Auf dem Wege der Verräumlichung und Verdinglichung von Kulturen werden territoriale, biologische und ideologische Abgrenzungen verknüpft und ontologisierend Wir-Sie-Unterscheidung[en] konstruiert, die politische und ökonomische Interessen organisieren können.“ (S.45). Zu dieser kritischen Betrachtung kommt man, wenn man mit Luhmann festhält, dass die Bezeichnung einer Praxis als „kulturell“ das Ergebnis einer (Selbst-)Beobachtung ist, die vom Standpunkt des Beobachters aus Ordnung in die Welt bringt. Aus seiner eigenen Kultur heraus, die als Vergleichsmaßstab unausgesprochen gilt, bringt der Beobachter sich selbst in einem „Wir“ unter und die anderen in einem weniger wertvollen „Sie“. „Kultur“ wird mit Religion, Sprache oder Rasse amalgamiert und im Ethnozentrismus, Eurozentrismus usw. zur Legitimation des Kolonialismus und anderer Beherrschungsformen verwendet. Gegen diese Doktrin wird der Kulturrelativismus reflektierend in Stellung gebracht. Insoweit er – gerade im Einwanderungskontext – sich dabei dem Multikulturalismus verbündet, entsteht jedoch ein neues Problem: Wenn das Individuum Anerkennung nur oder vor allem als Mitglied einer „kulturellen Gemeinschaft“ erfahren soll, kann seine Integrität und Authentizität dadurch gefährdet werden, dass die „Gemeinschaft“ undemokratische Konformität verlangt und durchsetzt.
In einem Grundlagenkapitel „Kultur als Muster der Differenzierung der Gesellschaft“ stellt Radtke dann dar, wie man Gesellschaft in systemtheoretischer Terminologie beschreiben kann als funktional differenzierte, vertikal geschichtete oder ethnisch gruppierte Gesellschaft. Der nüchterne Blick auf Gesellschaft zeigt schnell und zu Recht die Probleme, wenn „eine eigene, moderne Form der Strukturbildung im Medium Kultur“ (S.80) konzipiert wird. Allerdings zeigt dieses Kapitel auch die Probleme einer scheinbar neutralen Systemtheorie, wenn sie die kapitalistische Produktionsweise naiv als gut funktionierendes „ökonomisches System“ missversteht.
Während hier also theoretische Grundlagen entwickelt werden, stehen im folgenden Kapitel „Kultur als Instrument staatlicher Ausgrenzung“ aktuelle Texte und Vorgänge im Vordergrund, vom Nationalen Integrationsplan über die Argumentation Hartmut Essers und die „Pädagogisierung“ sozialer Probleme bis hin zum medialen Populismus in der sogenannten „Sarrazin-Debatte“. Radtkes Kritik an der „kulturellen Dramatisierung sozialer Konflikte“ versucht zunächst ohne Unterscheidung von Phänomen der „Kulturalisierung“ und des „Rassismus“ auszukommen. Er will auch die Frage der „kulturellen Stereotypisierungen“ (S. 107) zwar zu Recht als ein Problem der moralischen Abwertung von Personen und ihrer Integrität behandeln, aber zur Analyse von Rassismus kommt es nicht. Umso klarer aber ist dann seine Analyse der Prozesse, wie ein „Dialog“ – am Beispiel der Deutschen Islamkonferenz – inszeniert wird, der in einer hegemonialen Struktur durchgeführt wird. Diese Analyse ermöglicht ein Plädoyer für die „kulturelle Ausnüchterung antagonistischer Beziehungen“ und die Erarbeitung pragmatischer Kompromisse. Diese sind umso eher möglich, je deutlicher die situations- und systemspezifischen Bedingungen eines Konfliktes erkannt und Lösungen auf diese Umstände hin spezifiziert werden. Radtke verweist auf die lange Tradition pragmatischer Konfliktlösungen, bei denen durch Prozessierung der Unterscheidungen öffentlich/privat und regressiv/progressiv Konfliktlagen „zerlegt“ werden und die deshalb die Koexistenz von Differenzen, z.B. unterschiedlicher Formen der Lebensführung im privaten Raum, gerade in modernen Gesellschaften ermöglicht haben.
An dieser Stelle ist der Rezensent geneigt, auf die Differenzierung von Hannah Arendt hinzuweisen, die den öffentlich/staatlichen Bereich mit seinem Prinzip der Gleichheit unterscheidet vom gesellschaftlichen Bereich des Marktes, in dem funktionsspezifisch nach dem Prinzip der Diskriminierung entschieden wird, und dem privaten Bereich, in dem man sich nach dem Prinzip der Ausschließlichkeit zusammenfindet. Bedeutsam ist dann aber, dass diese Prinzipien in einem permanenten Spannungsverhältnis stehen, beispielsweise deshalb, weil sozial- und rechtsstaatliche Prinzipien nicht zulassen können, dass Menschen wegen ihrer Hautfarbe aus Gaststätten ferngehalten werden dürfen oder im privaten Bereich der Familie unterdrückt werden.
Wenn es aber um die grundlegenden Fragen der normativen Rahmung des Gemeinwesens (an dieser Stelle wird wie an anderen auch die systemtheoretische Terminologie überschritten) geht, dann sind Diskurse statt Dialoge notwendig, in denen der Geltungsanspruch von Ordnungsvorstellungen geprüft werden kann. Gegenüber den innerstaatlichen wie weltweiten Inszenierungen von moralisch-kulturell aufgeladenen Veranstaltungen plädiert Radtke auch hier für Entideologisierung und praktische Interessenklärung.
Diskussion
Der nüchterne Blick der konstruktivistischen Systemtheorie entfaltet bei diesen Fragen seine kritische Potenz, um kulturalisierende und moralisch aufgeladene Konfliktdefinitionen und die Einladung zum Dialog, die häufig mit versteckten Dominanzabsichten verbunden ist, zu kritisieren. Zugleich aber werden die Grenzen eines solchen Zugangs überdeutlich. Denn die Akteure, um die es geht, sind nicht „psychische Systeme“, sondern denkende Wesen mit Emotionen. Wenn Menschen sich gekränkt fühlen, dann muss das nicht immer an ihren fehlgeleiteten Gefühlen liegen, sondern kann auch mit einer ungerechten Ordnung zu tun haben. Aus der von Radtke zu Recht vertretenen Intention, soziale Konflikte nicht von solchen Gefühlen moralisch überfluten und damit unlösbar werden zu lassen, müssen sie wahrgenommen werden. Für Radtke sind „Ungerechtigkeitsempfindungen“ zwar eine potentielle Konfliktursache, aber „gesellschaftspolitisch relevant“ (S.75) werden sie erst, wenn sie eine Systemkrise hervorrufen. Das „Problem“ sind „weniger leistungsfähige Gruppen […], die von den Normalerwartungen der inkludierenden Organisationen abweichen“ (S.74ff) und deren Unzufriedenheit organisiert werden kann.
In dieser Sichtweise hat das ökonomische System seine Unschuld nie verloren: es funktioniert ja, und das ist seine einzige Legitimation. Der Kapitalismus als Produktionsweise mit seiner immanenten Akkumulierungslogik wird zu einem neutral funktionierenden System umdefiniert. Probleme entstünden nur dadurch, dass der „Wohlfahrtsstaat“ regulierend in die Folgen der Funktionsweise des ökonomischen Systems eingegriffen und „seine“ Bürger privilegiert habe. Deshalb wollen Migranten in diesen Status des privilegierten Staatsangehörigen hinein „drängen“ – die tatsächliche Zahl der Einbürgerungsanträge spricht schon immer gegen diese Vermutung.
Da Gesellschaft nicht als politisch und staatlich konstituierte Gesellschaft begriffen wird (sondern nur als funktional differenzierte, vertikal geschichtete oder ethnisch gruppierte, S.59), wird die moderne Gesellschaft als Konglomerat eigensinnig funktionierender Systeme konzipiert, die solange gut funktionieren, als man in einer hypostasierten Harmonie von „überzogenen“ Erwartungen absieht. Als „Strukturproblem“ moderner Gesellschaft wird dann „die unkoordinierte Dynamik der biologischen und der sozialen Evolution, vor dessen Lösung der Nationalstaat versagen muss“ (S.84f) diagnostiziert. Mit dieser merkwürdigen Formulierung (als ob die Menschen sich nicht systemkonform vermehren würden) werden die Widersprüche der Teilsysteme (z.B. in der Ökonomie von Warenproduktion und Aneignung, in der Politik von Rechtssicherung und Loyalitätszwang usw.) aus ihnen heraus und in ein Jenseits der Umwelt der „gut“ funktionierenden Systeme hinein definiert. Doch auch moderne kapitalistische Gesellschaften sind komplexer und widersprüchlicher in sich als dass sie in einem eindimensionalen Funktionsparadigma vollständig erklärbar sind. Dies zeigt sich nicht zuletzt an der Art und Weise, wie Radtke mit „Öffentlichkeit“ umgeht. Minderheiten bringen dort nur „regressive Positionen“ ein, müssen lediglich „Einschränkungen“ hinnehmen (S.139). Die völkisch aufgeladene politische Öffentlichkeit, die in der „Sarrazin-Diskussion“ nur ihr besonders hässliches Gesicht gezeigt hat, wird von Radtke nicht wahrgenommen. Wenn der Staat als „substantiell desinteressierter säkularer Staat“ (S.113) begriffen wird, ist Gesellschaftstheorie historisch völlig entleert.
Fazit
Doch diese kritischen Anmerkungen beziehen sich nur auf das theoretische Instrumentarium, dessen sich Frank-Olaf Radtke bedient. Das Thema des Buches ist die Kritik der Kulturalisierung von Konflikten und der Ideologisierung von inszenierten „Dialog“-angeboten, die der Beibehaltung einer (Leit-)Dominanzkultur dienen. In der Auseinandersetzung um solche Phänomene sind die Argumente Radtkes unentbehrlich.
Rezension von
Prof. i.R. Dr. Franz Hamburger
Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Institut für Sozialpädagogische Forschung Mainz e.V.
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