Kay Biesel: Wenn Jugendämter scheitern
Rezensiert von Doris Scherer-Ohnemüller, 01.02.2012

Kay Biesel: Wenn Jugendämter scheitern. Zum Umgang mit Fehlern im Kinderschutz.
transcript
(Bielefeld) 2011.
333 Seiten.
ISBN 978-3-8376-1892-1.
32,80 EUR.
CH: 44,90 sFr.
Reihe: Gesellschaft der Unterschiede - Band 4.
Thema
Die für den Kinderschutz zuständigen Jugendämter und ihre Allgemeinen Sozialen Dienste (ASD) stehen mit dem Vorwurf immer häufiger Fehlentscheidungen zu treffen im Fokus öffentlicher, politischer und professioneller Kritik. Genau hier setzt die Feldstudie von Kay Biesel an. Im Mittelpunkt seiner Forschung steht die Fragestellung: Wird die Kinder- und Jugendhilfe in Anbetracht knapper Ressourcen und einer Zunahme von komplizierten und chronifizierten Problemlagen ihrer Klienten in einer Sicherheitssackgasse eines präventiven Risikomanagement landen? Wird nur noch einseitig auf Gefahrenabwehrkonzepte im Kinderschutz gesetzt? Welche Chancen haben z.B. Qualitätsentwicklung und Qualitätssicherung und die Etablierung und Förderung eines lernorientierten und reflexiv-kommunikativen Umgang mit Fehlern? Hat der achtsame, zuverlässige und offene Umgang mit Fehlern, die im Kinderschutz nicht zu vermeiden sind, eine Chance?
Kay Biesel ist einer der ersten, der sich in Deutschland der empirischen Erforschung der Fehlerproblematik in sozialen Organisationen zuwendet.
Entstehungshintergrund
Kay Biesel hat an der Freien Universität Berlin im Fach Soziologie promoviert. Seine Forschungsschwerpunkte sind Risiko- Qualitäts- und Fehlermanagement in Kinderschutzorganisationen, reflexive Methoden des Fallverstehens und der Fallberatung sowie Methoden Qualitativer Sozialforschung. Die vorliegende Arbeit wurde 2010 als Dissertation unter dem Titel „Soziale Organisationen und ihre Fehler. Diskurse, Konzepte, Forschung“, am Fachbereich Politik- und Sozialwissenschaften der Freien Universität Berlin, eingereicht.
Aufbau und Inhalt
Im ersten Teil wird die in der Kinder- und Jugendhilfe und im fallbezogenen Kinderschutz immer relevanter werdenden und dem Sicherheitsprimat unterliegenden öffentlichen „Fehlerdiskussionen“ in drei Schritten untersucht:
- Konflikte und Krisen
- Ungewissheit und Sicherheit
- Widersprüche
In der darauf folgenden Erörterung von „Fehlerkonzepten“ wird dargestellt, wie und mit welchen Ansätzen im Sozialen Arbeitsfeld, in den Jugendämtern und Allgemeinen Sozialen Diensten immer wieder versucht wird, Fehler des professionellen Handels zu vermeiden. Dazu wird eine sehr interessante Vergleichsebene, die der technischen Hochrisikobereiche wie der Atomindustrie hinzugezogen und gefragt, wie sich solche Ansätze unter welchen Umständen für die humane Hilfepraxis der Jugendämter nutzbar gemacht werden können. Die Erörterung wird ausgeführt zu den Themen:
- Die Sicherheit menschlicher Fehler
- Die Unvermeidlichkeit professioneller Fehler
- Das ungelöste Fehlerumgangsdilemma
Im Weiteren wird die Notwendigkeit einer reflexiv-kommunikativen Organisationskultur beschrieben und im Anschluss daran wird verdeutlicht, warum Organisationen immer wieder ihren eigenen Fehlern ausgesetzt sind. Hierzu zählen unter anderen folgende Theoriestränge:
- Soziale Organisationen als kommunikative Systeme
- Soziale Organisationen als kulturelle Interessen- Macht- und Statusfelder
- Soziale Organisationen als Lern- und Entwicklungsgemeinschaften
Im zweiten Teil der Studie wird ein der Qualitätsentwicklung und Qualitätssicherung dienendes qualitatives Evaluations- und Fehlerforschungsprojekt aus methodischer Sicht dargestellt. Dieses Projekt wurde mit zwei Jugendämtern durchgeführt.
Die gewonnenen Ergebnisse zeigen auf, wie schwierig ein fairer und offener Umgang sowohl mit professionellen als auch mit organisationalen Fehlern ist. Die Studie zeigt jedoch auch, dass die Jugendämter und ihre Allgemeinen Sozialen Dienste zukünftig nicht an der Qualitätsentwicklung und -sicherung vorbei kommen. Sie werden ihre Kinderschutz-, Qualitäts-, Risiko- und Fehlerstandards und Fehlerkriterien gemeinsam entwickeln und mit ihren Kooperationspartnern einhalten müssen.
Zum Abschluss werden fünf Anforderungen zu Qualitätsstandards für ein Risiko- und Fehlermanagement als Orientierungsrahmen aufgezeigt:
- Bürokratismus überwindende Achtsamkeit
- Fach- und organisationsübergreifendes konzeptionelle Denken und Handeln
- Professionelles Middle-up-down-Management
- Teaminterne und teamexterne Fehleroffenheit
- Demokratische und bürgernahe Orte der Partizipation und gegenseitiger Anerkennung
Verbunden mit dem Hinweis darauf, dass ein Risiko- und Fehlermanagement in sozialen Organisationen nicht durch seine bloße Setzung seine Wirkung zeigt. Vielmehr erfordert es eine dauerhafte, von der oberen und mittleren Führungs- und Leitungsebene glaubwürdige, konsequente und deutliche praktizierte Kommunikation, in Anerkennung und Wertschätzung im Umgang mit Fehlern der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen.
Hilfreiche Abbildungen und Tabellen findet man im Text und im Anhang ein umfangreiches Literaturverzeichnis.
Fazit
Dieses Buch ist eine wichtige und sehr hilfreiche Grundlage für alle Professionellen, Leitungs- und Führungskräfte in der Sozialen Arbeit, vor allem aber im Tätigkeitsbereich der Jugendämter und der Allgemeinen Sozialen Dienste. Es eröffnet die Möglichkeit, sich dem Phänomen „Fehlverhalten“, mit seinen personalen und organisationalen Bedingungen in einer konstruktiven Ausrichtung zu nähern, sich mit ihm auseinander zu setzten und eine offenes Fehlermanagement zu entwickeln. Unterstützend ist hier der praktische Bezug durch die Darstellung des Evaluations- und Fehlerforschungsprojektes, das mit zwei Jugendämtern, und dort gemeinsam mit den Fachkräften und Klienten, durchgeführt wurde.
Das Buch motiviert, sich aufzumachen, die eigene Organisation, das eigene Jugendamt, den eigenen ASD hin zu einer Lern- und Entwicklungsgemeinschaft zu führen.
Rezension von
Doris Scherer-Ohnemüller
LVR-Landesjugendamt Rheinland, Köln
Es gibt 2 Rezensionen von Doris Scherer-Ohnemüller.